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Zeitbrücke: Geschichten zwischen Damals und Heute
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Zeitbrücke: Geschichten zwischen Damals und Heute
eBook244 Seiten2 Stunden

Zeitbrücke: Geschichten zwischen Damals und Heute

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Über dieses E-Book

Eine kleine niedergeschriebene Zeitkapsel voller Reichtum an Weisheit und Wissen.

Dieses Buch führt uns über die Zeitbrücke zur Spurensuche an Orte aus der Kindheit des Autors bis zur Jetztzeit, festgehalten in wunderbaren Erzählungen, Geschichten und Geschichtchen, unter anderem von

* einem Heiden, der am Kreuz verbrannt wird,
* einem Bahnhof und Pustekuchen, dem Vorsteher,
* einem Familientreffen am Jenseitslagerfeuer
* einer Geisterorgel, die eine Bachfuge spielt,
* einem Badewannenmörder, der freigesprochen wird,
* einem Totenhemd, das kratzt,
* einem Dichter, den niemand kennt,
* einem Liebespaar, das am »Standesunterschied« scheitert,
* einer Ménage-à-trois, bestehend aus Adonis, Aphrodite und Persephone,
* Ruth - einem Mehrfachbild über Opfer und Täter in der Nazizeit,
* Maria, wie sie ihren Kopf verlor,
* einem Deutschen und wie es ihm erging, als er in Paris ein Franzose sein wollte,
* einer Fischjagd,
* Männern in Zwangsjacken,
* einem Tortenparadies,
* einer bemehlten Großmutter,
* Claire, die Sommersprossen, rote Haare und einen göttlichen Busen hatte.
SpracheDeutsch
HerausgeberBoD - Books on Demand
Erscheinungsdatum9. Apr. 2024
ISBN9783759745064
Zeitbrücke: Geschichten zwischen Damals und Heute
Autor

Hans Blazejewski

Ich in Stichworten Jahrgang 1940, geboren in Tilsit, Nord­Ostpreußen in der Nähe der litauischen Grenze. Flucht 1944-45 mit Großeltern, deren Wurzeln sowohl im Ermland als auch in Königsberg und im Insterburgischen zu finden sind. Ausgespuckt in Westfalen. Schlüsselkind, Einweisung in ein Kinderheim 1951-1956, die Zeit, die die besten Jahre meiner Kindheit unter anderen Umständen hätten werden können. Verschiedene Berufe: Kaufmann, Maurer, Beamter, Blumenverkäufer, Architekturstudium, Reisender, Handelsvertreter, Museumsrestaurator, in Frankreich gelebt und gearbeitet als "Spinner und Färber", Verleger, Rentner

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    Buchvorschau

    Zeitbrücke - Hans Blazejewski

    Es gibt eine Brücke, nennen wir sie Zeitbrücke. Sie ist nicht real. Man kann sie nicht anfassen, fotografieren oder betreten. Aber im Gedächtnis existiert sie als Erinnerung des einst Gesehenen oder Erlebten. Eine imaginäre Brücke, die das Jetzt, das Heute mit der Vergangenheit, dem Damals verbindet. Eine Zeitbrücke eben.

    Man kann nicht hinüber auf die andere Seite gehen. Man kann sie allenfalls ein Stück weit betreten und rufen und träumen.

    Die stummen Antworten kommen aus dem Unterbewusstsein. Dies ganze Rückwärtsgewandte ist ein Vorgang, der schmerzhaft für die Seele sein kann, denn man wird gewahr, dass man nicht mehr dazugehört oder vielleicht niemals dazugehört hat. Es wird einem bewusst, was nicht mehr ist oder hätte wachsen können, wenn …

    Beschreiten Sie meine Zeitbrücke, meine Traumwelt. Ich wünsche Ihnen eine schöne Lesezeit.

    Inhalt

    Spurensuche

    In der Nacht der Steinkauz rief

    Der Bahnhof

    Dörfliche Idylle

    Eine ermländische Hochzeit

    Nötigung während einer Begebenheit

    Herkus Monte

    In Bartelsdorf ist Holzauktion

    Der Badewannenmörder

    Geisterorgel

    Bäumchen wechsel dich

    Ruth

    Standesunterschiede

    Das Totenhemd

    Eingemauert

    Der Manndichter

    Adonis

    Claire

    Immer das Gleiche

    Alte Männer. Hommage an Jaques Brel

    Lebensfalten

    San Mateng

    Männerskat

    Die Wahrheit

    Diese Maria

    Zwangsjacken

    Krankenhausbericht

    Maria ohne Kopf

    Maria aus Neu Mertinsdorf

    Fischjagd

    Wahre (Kurz)Geschichten

    – Schnellimbiss, griechisch –

    – Vor einem Ärztehaus –

    – Bäckerei in L. –

    – Fußgängerzone –

    – Restaurant am Bodensee –

    – Geräusche in einem Café –

    – Bruchstücke –

    – Bemehlte Großmutter –

    Abschiebung

    Tortenparadies

    Brieffragment

    Engelchen und Teufelchen

    Mein liebes Entlein

    Meine Frau sagt

    Freund Hein

    Ohne Abschied. Hommage an Wolfgang Borchert

    Glossar

    Ich in Stichworten

    Veröffentlichtes

    Spurensuche

    Abfahrt 2. August 2002 – 02.00 Uhr

    Später tanken auf der anderen Seite. Werde auf Polnisch angesprochen – natürlich, hier wird ja nun seit sechzig Jahren so geredet. Ich sage nichts, denn ich kann diese Sprache nicht, denke, so kann ich nichts verkehrt machen. Bin ich jetzt ein arroganter Deutscher? Gar mit dem Geruch eines Herrenmenschen? Zwischen Frankfurt und Posen viel Landschaft mit vielen unbewirtschafteten Feldern. Wenn man bedenkt, dass ich mich jetzt in einer Region befinde, die ganz früher ein Teil der Kornkammer des Deutschen Reiches war …

    Der Verkehr nimmt zu. Baustellen und ihre Schilder zeugen davon, dass der sogenannte Fortschritt – auch aus EU-Mitteln finanziert – nicht mehr aufzuhalten ist. Hier wird gefahren, dass es nur so kracht – beinahe jedenfalls. Geschwindigkeitsbegrenzungen, Überholverbote, sogar im Baustellenbereich nur was für die Schwachen. Jeder Lenker ein potenzieller Henker. Mehr als 500 km fahre ich nun schon. Wo sind sie alle geblieben, die hier einst gewohnt haben und nach dem Tausendjährigen ungeschützt der Rache der Sieger zum Opfer fielen? Millionen auf dem Papier ist etwas anderes als durch diese einst deutschen Gebiete zu fahren mit einem riesigen Fragezeichen im Kopf. Flucht, Vertreibung und all das, was auf Millionen Seiten darüber zu Papier gebracht worden ist, erfährt jetzt eine reale Intensität, die ich kaum zu ertragen im Stande bin. Viel später dann:

    Diese Stille!

    Wenn ich denn wiedergeboren werde, so möchte ich gern rückwärts in eine Zeit hineinspringen, in der es weder Eisenbahn, Motor und all den Lärm der sogenannten Zivilisation gibt. Hier erhalte ich eine Ahnung, wie es sein würde. Keine Geräusche – nur der Wind. Sogar meine Fußtritte auf dem Sandweg würde ich gern vermeiden wollen. Sie sind so laut. Ja, schweben …

    Höre ich einen Kranich oder einen Schreiadler? Was weiß ich Stadtgewächs schon von den Stimmen der Natur! Der Angler mit seinem Ruderboot auf dem See. Hineinkomponiert, als stamme er aus einem Wachsfigurenkabinett. Das Wasser glattgebügelt, makellos, faltenfrei. Ist er real? Hat er Spinngewebe vor den Augen?

    Diese Straßen!

    Straßen, die Wirtschaftsströme vereinen und teilen. Asphalthöllen. Ausgefahrene Spuren, so tief, dass unsere bundesrepublikanischen Gockel mit ihren tiefer gelegten PS-Gurken aufsitzen würden. Ich liebe sie. Ich meine diese kleinen abseits führenden, kopfsteingepflasterten Wege. Oft noch zweigeteilt: Der Sommerweg, bestehend aus Lehm und Sand. Er schonte im Sommer sowohl die Hufe der Zugtiere als auch die auf hölzernen Achsen laufenden Holzräder der damaligen Fuhrwerke. Später dann, als alles »besser« wurde, gab es auch eisenbereifte Räder, die, komfortabel, auf metallenen Achsen liefen. Dann der Winterweg, dessen Steine verhinderten, dass die Räder nebenan in den aufgeweichten Boden versacken. Heute museal, schief und krumm, voller Eindrücke, die Autos nicht mögen. Wer immer sich die Hölle auf Rädern bereiten will, bitte sehr: Gas geben und möglichst sportlich drüber weg. Aber gefüllte Eierpaletten sollten besser auf anderen Wegen transportiert werden.

    Straßen, die so viel gesehen, gehört und im wahrsten Sinne des Wortes erfahren haben. Wenn sie denn reden könnten, was würden sie uns erzählen? Vielleicht von den Chausseewärtern, die ihre Abschnitte auf und ab gingen, hier einen Stein befestigten, dort trockene Äste der Schatten spendenden Alleebäume entfernten und nebenbei Pferdeäpfel sammelten, um mit diesen die Ernteerträge ihrer Gärten zu steigern. Vielleicht von den Jungen beiderlei Geschlechts, die sich entgegenliefen, in die Arme fielen und eng umschlungen an einen Baum gelehnt die Welt vergaßen. Vielleicht von fröhlichen Menschen auf Hochzeitswagen oder von Begräbniszügen, schwarze Pferde vorn, hinter dem Wagen das halbe oder gar das ganze Dorf. »Wir waren mit jedem um fünf Ecken herum verwandt«, sagt mir eine der letzten ehemaligen reichsdeutschen Frauen in »meinem Dorf«. Und: »Alle Kinder sagten zu den Erwachsenen Onkel oder Tante.«

    Was fegte nicht alles über dieses Land. Ordensritter, Tataren, Napoleon und seine Armee, Polenkönige, Kurfürsten, Preußenkönige, Kosaken, Mongolen, Russen. Sieger und Besiegte, Getriebene und Vertriebene, Gejagte und Verjagte. Getreten von unzähligen Füßen, die, barfuß, in Lumpen gehüllt, Klotzkorken tragend, gestiefelt und gespornt, geschlurft, im Marschtritt vorwärts, bald darauf in Eilmärschen rückwärts, ihre Abdrücke hinterließen. Wie viel Leid und Grausamkeit, Flucht, Tod, Vertreibung, Tränen, Hoffnungslosigkeit sie mit ansehen mussten. Wie viele Schicksale sich an ihren Rändern vollendeten, wie viele Leiber – erst noch warm und binnen kurzem kalt – erstarrt in ihren Gräben namenlos zurückblieben. Gleichgültig in welche Himmelsrichtung ich mich bewege, immer kommen mir vollbepackte Flüchtlingswagen von Pferden gezogen und unzählige Menschen jedweden Alters zu Fuß, die Köpfe tief gesenkt, entgegen. Und wenn einer den Kopf hebt, so sehe ich in unendlich traurige Gesichter. Alles vollzieht sich lautlos vor meinem geistigen Auge. Immer nur entgegen, niemals ich mittendrin oder hintendran.

    Ein ähnliches Erlebnis vor Jahren in Schweden an der Ostseeküste. Die unzählbaren, ertrunkenen Flüchtlinge. Es war, als riefen sie und streckten mir ihre um Hilfe flehenden Arme entgegen.

    Diese Straßen!

    Straßen, über die der Himmel so verschwenderisches Blau ergießt. Ein Himmel, so weit und so blau, betupft mit watteweißen Wolken. Beides in einer Klarheit, als habe der Schöpfer persönlich das Firmament geputzt und gewienert. Man kann schon verstehen, warum Kopernikus von hier aus die Welt verändern konnte, indem er dem Weltbild des Ptolemäus, das mehr als 1300 Jahre die Erde als den Mittelpunkt ansah, um die sich alles drehte, seine Auffassung entgegenhielt. Auf diesen Straßen langsame ich keinem Ziel entgegen. Hier gehe ich länger und weiter in und durch die Landschaft, als es meine Absicht war. Ich bin neugierig auf das, was hinter der vor mir liegenden Kuppe zu sehen ist.

    Und was sehe ich? Rote Ziegeldächer, holzbeplankte Scheunen, weiß verputzte oder ziegelrot gemauerte Ställe und Wohnhäuser, hineingekuschelt zwischen Endmoränen, halb verborgen hinter Bäumen und Sträuchern. Dreiseithöfe auf sanften Hügeln, Leuchttürmen gleich. Heimwegweiser für Mensch und Vieh. Blau blinkende Seen, die man hier – in anderen Dimensionen denkend – Teiche nennt, plieren mir zu.

    Diese Häuser!

    Solche Anblicke werden mir wohl immer fremd bleiben. Zitzeritsch-grüne Hausfassaden, rosa, blaue oder grünleuchtende Dachpfannen auf gaubenüberladenen Dächern. Erkerchen hier, Türmchen da. Dazu Säulen an oder neben den Haustüren, alles umschlossen von überdimensionierten Protzeinfriedungen. Laute und bunte Fremdkörper, die sich nicht der Landschaft einfügen, sondern Beulen gleichen, zwar harmlos, aber in den Augen schmerzen.

    Mir wird klar, dass diesem Zeitgeist nicht mehr Einhalt geboten werden kann. Die ermländisch-masurische Landschaft wird sich so nachhaltig verändern, dass man sich bald im Land seiner Väter und Mütter nicht mehr zurechtfinden wird. Und dies alles begleitet von stark wachsendem Straßenverkehr, dem die jetzigen Straßen und Alleen nicht mehr gewachsen sind. Die Folge wird sein: bessere und größere Straßen und Autobahnen und natürlich ohne Alleebäume. Wir kennen das alles aus unserem unmittelbaren heimischen Umfeld.

    Diese Störche!

    Störche. Dreißig, vierzig, fünfzig Jungstörche auf einem frisch gepflügten Acker. Kaum ein Hof ohne Storchennest. Das Geklapper der Altstörche, mein morgendlicher Wecker. Des Abends, wenn sie heimkehren, sich klappernd begrüßen, wohl auch Zärtlichkeiten austauschen, klingt mir dies wie ein Gebet aus fernen Kindertagen. Was schert den Storch die politische Lage! Dem ist es egal, unter welchem Regime er seine Frösche fängt. Storch müsste man sein, dann wüsste man nichts von Begriffen wie Nation, Grenzen und all dem Schnickschnack, den sich die Herrschenden ausdachten, um ihre Macht zu bewahren. Ein bisschen mehr »hier bin ich Storch, hier darf ich sein« würde auch uns menschlicher machen.

    Diese Hunde!

    Tags gesellige Spielgefährten, Begleiter und Hüter der Kinder, Wächter und Aufpasser auf den einsam gelegenen Gehöften. Keine Chance für finstere Gesellen. Auch der Fuchs muss aufpassen. Und wenn nichts zu verbellen ist, dann unterhält man sich in der Nacht von Hof zu Hof. Das muss man gehört haben, denn beschreiben lässt sich diese Wirklichkeit nicht. Wir können nur staunend lauschen und registrieren, dass auch diese Wesen miteinander kommunizieren. Ob sie sich kennen, »unser« Hofhund und die, die im weiten Rund Laut geben? Was werden sie sich zu erzählen haben? Ob unserer davon berichtet, dass heute Morgen zwei Ziegen eingegangen sind? Zu viel Kohl und aus. Oder davon, dass er den frechen Fuchs fast am Zagel hatte?

    Dieser Wind!

    Ein freier und ungebundener Geselle, der weht, wie er will und wann er will. Er schiebt die Wolken so schnell, dass sie fast atemlos werden. Er peitscht den Regen waagrecht durch das Land, schüttelt und rüttelt Baum und Strauch, greift zuweilen den Mädchen frech unter die Röcke, dass sie im Gesicht ganz rot und vor Aufregung recht dammlich werden. Zu anderen Zeiten gleitet er sanft streichelnd und liebkosend über saftige Wiesen, goldgelbe Felder und blauende Seenlandschaften. Den Menschen zaubert er lachende Gesichter und freut sich mit ihnen, wenn an lauen Sommerabenden sich die Herzen öffnen und zueinander finden wollen. Es ist, als würde er sich seiner Geliebten offenbaren. Er verwandelt ährenschwere Kornfelder in sanft wogende Meere, trägt Greifvögel darüber hoch hinaus, dass mir vom Zuschauen bald schwindlig wird. Ostpreußischer Sommer – hautnah.

    Dieser Regen!

    Er trommelt seit Tagen gegen die Scheiben, ergießt sich in Sturzbächen von den Sandwegen zu den Asphaltstraßen und hinterlässt dort Sandlandschaften, die unter anderen Umständen bestimmt schön anzusehen sind. Trommelt gegen Urlaubernerven, lässt Zeltbewohner von trockenen Schuhen und warmen Stuben träumen. Selbst die Störche scheinen missmutig zu sein.

    Meine Strichliste sagt mir, dass auf der Karte »Südöstliches Ostpreußen« neunundachtzig Soldatenfriedhöfe eingezeichnet sind. Wahrscheinlich habe ich einige übersehen. Neunundachtzig sogenannte Heldenfriedhöfe, auf denen die liegen, denen angeblich der Dank des Vaterlandes gewiss ist. »Ich hatt’ einen Kameraden«, fällt mir ein. Ist es der Regen, oder warum habe ich jetzt so nahe am Wasser gebaut?

    Dieser Schmerz!

    Wer bin ich? Ich, ein gefühlter Ostpreuße, bin fremd in diesem Land, obwohl es die gleiche Natur ist, in der auch ich mich einst in Kleinkinderjahren geborgen fühlte. Die gleiche Natur, in der auch meine Ahnen sich bewegt haben. Aufgebrochen, meine Wurzeln zu suchen, ahne ich, dass ich vielleicht solche finden kann, aber was mach ich damit, habe ich doch längst – weil nicht geerdet – Luftwurzeln gebildet, die mich kaum an einem Ort halten. Zu spät die Suche. Die, die Zeugnis hätten ablegen können, haben längst ihr Erdenleben beendet. Die Friedhöfe bewahren ihr Wissen um die letzten Ruhestätten meiner Ahnen. Die Kirchenbücher verschweigen, zu welcher gleichnamigen Linie ich gehöre. Wozu auch Klarheit? Die Traditionen und Überlieferungen sind tot. Allenfalls historisch in vergilbten Akten und Folianten fristen sie ein statistisches Dasein. Was brächte es mir zu wissen, dass einer meiner Ahnen, z. B. Bogislav der Breitschultrige, 1693 seine chałupka verlassen hat und seitdem als verschollen gilt? Mehr bin ich daran interessiert, über das Leben und seine Umstände von den letzten Zeit- und Augenzeugen zu erfahren. Den ostpreußischen Singsang, der sich in Resten bei den Alten noch erhalten hat, zu hören, ist mir mehr Freude als eine tote Wurzel auszugraben. Und wenn es dann noch zum immer üppigen Abendbrot (ich habe Halbpension gebucht) Keilchen, Flinsen oder Beetenbartsch gibt, dann fühl ich mich so richtig rund.

    Diese Menschen!

    Deutsche Polen, polnische Deutsche, ermländische Polen, ermländische Deutsche und, nicht zu vergessen, die Masuren. Alle haben ihre Stempel, sind etikettiert oder in geistige Schubladen eingeordnet. Die Deutschen sagen: Ein Pole in Deutschland klaut oder er arbeitet schwarz. Oder: Die Deutschen können ruhig nach Polen fliegen, ihre Autos sind schon da. Oder: Polnische Wirtschaft. Deutsche Polen wiederum behaupten, dass die Polen von oben nach unten bauen. Meint: Sie nehmen Gebäude auseinander, wenn diese verlassen oder vorübergehend leer stehen – vornehmlich solche der ehemaligen Reichsdeutschen. Was Polen über Deutsche sagen, ist mir nicht zu Ohren gekommen. Vielleicht ist ihnen solch Kästchendenken fremd oder sie sind einfach nur zu höflich, um mir Derartiges zu übersetzen. Natürlich gibt es auch diese, wie z.B. den Tankwart, der auf meine deutsch gestellte Frage, ob ich mit einer Kreditkarte bezahlen könne, auf Polnisch antwortete und sich wortlos umdrehte.

    Anruf bei Irmgard: »Wollen wir nicht mal Agnes im Altersheim in Jonkendorf besuchen?« »Ja! Wann?« Ich sage, dass ich in dreißig Minuten bei ihr sein kann. »Ja gut!« Und dann sind wir zusammen hingefahren. Unglaublich. Sogar bei meiner Tochter muss ich mich wenigstens vier Wochen vorher anmelden, möchte ich ihr Auge in Auge begegnen. Hier scheint jeder Zeit zu haben für

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