Relative Risiken, absolute Verwirrung: Warum das Mammographie-Screening nicht hält, was es verspricht
Die „Unstatistik des Monats" Juli ist die systematische Fehlinformation zum Mammographie-Screening. Ein prominentes Beispiel zeigt, wie vermeintliche Erfolge überzeichnet und potenzielle Schäden verschwiegen werden – zum Nachteil informierter Patientenentscheidungen.
Von der ARD bis zur BILD-Zeitung berichteten deutsche Medien über eine neue Studie der Universität Münster zur Wirksamkeit des Mammographie-Screenings. Die Pressemeldungen der Universität, des Bundesamts für Strahlenschutz und des Bundesministeriums für Gesundheit feiern eine beeindruckende Zahl: „Unter den Frauen, die an dem Screening teilnahmen, gingen die Brustkrebs-Todesfälle demnach zwischen 20 und 30 Prozent zurück.“ Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung – ein Träger des Screening-Programms – verkündet unter dem Titel „Mammographie-Screening rettet Leben“ dieselbe Zahl. Und BILD glaubt: „Seit 20 Jahren rettet das Mammografie-Screening in Deutschland nachweislich Leben.“
Was die wissenschaftlichen Daten wirklich zeigen
Die Realität sieht anders aus: Seit Einführung des Mammographie-Screenings sind Frauen über Nutzen und Schaden systematisch in die Irre geführt worden – denn nicht zuletzt ist es eine milliardenschwere Einnahmequelle für Radiologen, Kliniken und Gerätehersteller. Die 20 bis 30 Prozent sind das jüngste Beispiel. Bevor wir die Entstehung dieser Zahlen einordnen: Was sagen die besten wissenschaftlichen Studien – insbesondere die acht existierenden randomisierten kontrollierten Studien mit insgesamt rund 500.000 Frauen?
Fazit: Mammographie-Screening rettet kein Leben.
Unser früherer Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach – der das Screening-Programm gemeinsam mit der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt eingeführt hatte – äußerte sich inzwischen kritisch. Gegenüber dem SPIEGEL erklärte Lauterbach: „Alle neuen Erkenntnisse sprechen in der Tendenz eher gegen das Screening.“ Es sei an der Zeit, den Brustkrebscheck neu zu bewerten. Weitere Politiker sollten diesem Schritt folgen und eingestehen, dass die Einführung ein Fehler war. Die Schweiz hat ihren Kurs bereits korrigiert. Aktuell wenden die gesetzlichen Krankenkassen jährlich etwa eine Milliarde Euro für das Programm auf. Dabei könnten sie die Mittel effektiver dort einsetzen, wo tatsächlich Leben gerettet werden.
Diese beiden entscheidenden Informationen – dass es keinen Nachweis gibt, dass Screening die Lebenserwartung verlängert oder auch die Wahrscheinlichkeit senkt, an Krebs zu sterben – werden Frauen in Deutschland so gut wie nie mitgeteilt. Auch die Medienberichte zur aktuellen Münsteraner Studie klärten darüber nicht auf.
Der Trick mit den relativen Risiken
Wie kommt man nun zu der vermeintlich spektakulären Reduktion der Brustkrebssterblichkeit in Höhe von 20 bis 30 Prozent? Diese Zahl ist keineswegs neu. Bereits bei der Einführung des Mammographie-Screenings wurde von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt mit dieser Zahl geworben.
Der statistische Trick ist ebenfalls nicht neu: Man berichtet nur die Reduktion der Brustkrebssterblichkeit. Unterschlagen wird, dass sich die Sterblichkeit von 5 auf 4 in je 1.000 Frauen reduziert, also um 1 in 1.000, oder um 0,1 Prozentpunkte (siehe Punkt 3). Stattdessen präsentiert man diesen Effekt als relative Reduktion von 20 Prozent (von 5 auf 4), oft aufgerundet auf 30 Prozent. Diese Darstellungsweise überhöht den winzigen Effekt dramatisch.
Die kommunizierten „20 bis 30 Prozent“ in den Pressemeldungen der Universität Münster, des Bundesamts für Strahlenschutz und des Bundesministeriums für Gesundheit sind damit nicht nur irreführend, sondern stellen einen klaren Verstoß gegen die seit langem etablierten Standards der evidenzbasierten Gesundheitskommunikation dar, die von vielen anderen Akteuren im Gesundheitssystem und kritischen Journalistinnen und Journalisten regulär eingehalten werden.
Ehrliche Information
Die Deutsche Krebshilfe warb in ihren ersten Broschüren mit der relativen Risikoreduktion in Höhe von 20 bis 30 Prozent. Unstatistik-Autor Gerd Gigerenzer arbeitete um 2010 mit der Krebshilfe zusammen: Gemeinsam wurden die relativen Risiken – ebenso wie die irreführenden Fünf-Jahres-Überlebensraten – aus dem Blauen Ratgeber Brustkrebs gestrichen und durch verständliche absolute Zahlen ersetzt. Heute finden sich in den Broschüren tatsächlich keine relativen Risiken mehr, und auch über Nachteile wird informiert.
Doch selbst die besten Informationsmaterialien überzeichnen den Nutzen des Screenings weiterhin, wie etwa die aktuelle Broschüre des Gemeinsamen Bundesausschusses zeigt, die bundesweit an Frauen verschickt wird. Dort steht nicht, dass das Screening das Leben nicht verlängert, und auch nicht, dass 1 von 1.000 Frauen weniger an Brustkrebs stirbt. Stattdessen heißt es: „3 bis 8 von je 1.000“. Wie kommt das zustande? Man rechnete anscheinend den Effekt, der für einen Zeitraum von etwa elf Jahren nachgewiesen ist, linear auf 25 Jahre hoch – ohne ausreichende wissenschaftliche Grundlage. Die einzige Studie, die den Effekt über 25 Jahre verfolgte (mit 100.000 Frauen), fand dagegen keinerlei Rückgang der Brustkrebssterblichkeit durch Screening-Programme.
Informierte Entscheidung braucht vollständige Information
Tagesschau online betont, „jede Frau kann für sich selbst entscheiden“. Doch wie soll eine Entscheidung möglich sein, wenn Ergebnisse unvollständig und verzerrt dargestellt werden?
Frauen und Frauenorganisationen sollten hier einschreiten. Leitmedien wie die ARD und Institutionen wie das Gesundheitsministerium müssen sich endlich klar auf die Seite der Wissenschaft stellen – und dafür sorgen, dass Frauen wirklich informiert entscheiden können.