Vorleser Interpretation
Vorleser Interpretation
Die Erstveröffentlichung von Bernhard Schlinks Romans Der Vorleser (1995) war ursprünglich in den
USA geplant. Dazu kam es nicht, aber 1999, vier Jahre nach seinem Erscheinen, eroberte die
Übersetzung als erstes deutsches Buch die amerikanischen Bestsellerlisten.
Gründe:
- durch die gewachsene zeitliche Distanz zu den Geschehnissen ändert sich auch der Umgang damit.
Auch in der Literatur ist erkennbar, dass sich diese Generation der „Nachgeborenen“ in einer anderen
Weise als bisher dem Stoff nähert. Es sind nicht mehr der Massenmord und die Geschehnisse des
Zweiten Weltkrieges selbst, um die es unmittelbar geht, vielmehr wird
die Verarbeitung dieser Geschehnisse von Seiten der Täter und Opferkinder bzw. der Enkel
beschrieben.
Schon drei Generationen haben mit der Schuld des Dritten Reiches und des Holocaust umgehen
müssen. Alle drei Generationen tauchen in seinem Roman auf:
Vertreter der zweiten Generation (Kinder, haben Holocaust selbst nicht erlebt):
Vertreter der dritten Generation (Enkel, kennen Holocaust nur aus Filmen, Dokumentationen,
Berichten):
Leser des Romans, Bewohner des neuen, erst in den siebziger oder achtziger Jahren gebauten Hauses
in der Bahnhofstraße,
Literatur muss Schlinks Meinung zufolge den individuellen Zugang zu den Geschehnissen immer
wieder neu herstellen und dabei zugleich universeller sein.
Bernhard Schlink ist hauptberuflich Jurist. Diese Tatsache schlägt sich in verschiedener Hinsicht in
seinen Texten nieder. Zum einen ist nicht zu übersehen, dass viele seiner Protagonisten Juristen sind
oder im juristischen Milieu zu tun haben. Weiterhin wird inhaltlich – so auch in Der Vorleser – das
Prinzip von Schuld und Sühne verfolgt. Verfehlungen und Gerichtsurteile, juristische Denkweise ist
allenthalben unübersehbar und wird von Lesern und Rezensenten ausdrücklich aufgenommen1 . In
der Laudatio auf B. Schlink heißt es zu seinem Roman Der Vorleser:
„Das Buch erzählt von der Hilflosigkeit juristischer Formeln auf die größte Katastrophe unserer Zeit.“
Zum anderen wirkt sich die juristische Praxis auf Schlinks Erzählweise aus. „Ich schreibe auch als Jurist
gern und versuche auch als Jurist, klar und schön zu schreiben. Beides ergänzt sich auch sonst“,
erläutert Schlink in einem Interview mit Tilman Krause (Die Welt v. 14. 10. 1999) seine Konzeption
und den Bezug zwischen dem Juristen und dem Schriftsteller Bernhard Schlink. Die Sprache des
Romans ist gekennzeichnet durch ihre Klarheit und Knappheit. Die Wortwahl ist jeweils Alter und
Bildungsstand des Protagonisten angepasst und lädt zur Identifikation ein. Was bei der Klarheit und
Schnörkellosigkeit der Erzählweise Schlinks gelegentlich als ‚trockene Beschreibung’ beanstandet
wird, entpuppt sich nach Meinung von vielen Kritikern aber bei näherer Betrachtung als verdeckter
Vorzug. „Er erzeugt mit diesen Mitteln den Eindruck von Authentizität und damit ein überraschendes
Ergebnis. Die meisten Leser des Vorlesers wollten schwören, dass es sich dabei um eine ‚wahre
Geschichte’ handele. ... Authentisch wirken Geschichten meist dann, wenn sie ohne die ausgestellte
Kunstfertigkeit daherkommen.“
Dennoch finden sich Passagen von großer emotionaler Wirkung (z. B. S. 117 f.; 127 ff.) oder sehr
poetisch ausgefeilte Textteile, z. B. die Beschreibung der Fieberfantasien des Jugendlichen (S. 19 f.).
Der Roman ist in drei Teile unterteilt, die jeweils einem besonderen Lebensabschnitt Michaels
entsprechen. Jeder Teil ist schon durch den Neuanfang der Numerierung der Kapitel als eigenständig
und abgeschlossen gekennzeichnet (Teil I: Kapitel 1–17, Teil II: Kapitel 1–17, Teil II: Kapitel 1–12). Im
Wesentlichen folgt das Erzählen der Chronologie der Ereignisse, ist aber im Rückblick erzählt und
enthält immer wieder Vorausdeutungen (z. B. S. 68), Einschübe, Unterbrechungen (vgl. auch S. 134 f.,
S. 124, S. 84 u. a.). Die einzelnen Kapitel sind kurz und in sich abgeschlossen, selbst wenn der
Chronologie der Ereignisse folgend weitererzählt wird.Nahezu alle Kapitel fangen mit einem sehr
kurzen Satz an (Ausnahme z. B. I, 12. Kap. oder II, 7. Kap.). Die drei Teile werden einerseits durch ein
überleitendes erstes Kapitel, andererseits durch Rückblicke und Vorausdeutungen sowie durch das
Leitmotivgeflecht miteinander verknüpft.
Leitmotive:
1. Die Odyssee von Homer spielt eine besondere Rolle. Der Text „erweist sich als Michaels
Lieblingstext; das Epos einer Heimkehr liegt, wie sich am Ende zeigt, dem Vorleser als
versteckter Chorgesang zu Grunde“. Hier drückt sich Michaels Sehnsucht nach einem
Zuhause, nach der Möglichkeit eines Endes von Irrfahrten und Abwegen aus.
(S. 41) fühlt. Als Hanna plötzlich verschwunden ist, wird nicht
Weile, bis mein Körper sich nicht mehr nach ihrem sehnte.“ S. 83).
hält ihn „in ihren Armen“ (S. 53). Allerdings legen ihre geflüsterten
Worte („Mein Jungchen, mein Jungchen“) nahe, dass sie
denkt. „Gegebene und empfangene Lust“ soll als „Siegel auf“ die
dass sie als Preis dafür anzusehen sei, dass Hanna mit ihm
geschlafen habe (S. 28), diese Liebe also von seiner Seite aus
ihm weiß er nichts (S. 67) und auch der Leser ist vorwiegend
Kommunikation:
Kommunikationspartner.
Schon bei der ersten Begegnung wird dies deutlich. Bevor sie
den Namen des anderen kennen, vergeht etwa eine Woche, in
zu entwickeln.
ihr die Wirkung ihrer Worte nicht bewusst, dann ist es auch
„Hanna merkte, dass sie ihrer Sache mit dem, was sie sagte,
keinen Dienst erwies. Aber sie konnte nichts anderes sagen. Sie
Erkenntnis:
Hanna überlässt ihm die Wahl der Routen, der Hotels, der
(S. 54 f.)
(S. 94)
erfindet Begründungen für ihr Tun (zu aufgeregt, will sich mal
nicht kümmern etc.). Sie lässt andere für sich lesen (Michael
sind ihr ausgeliefert, werden zum Schweigen verpflichtet und anschließend in den Tod geschickt).
ihrer Schwäche scheint ein primäres Ziel zu sein, dem sie alles
lieber etwas zu, was sie nicht getan hat, als dass sie sich zu
Erst im Gefängnis gibt sie diesen Kampf auf und tritt in die
lesen und schreiben. Auch hier will sie ohne die Hilfe der
Selbststudiums. Nachdem sie ihr Ziel aber erreicht hat, ist sie
stolz und sehr froh und möchte gern, dass Michael oder jemand
Auβ erdem denunziert er die Auswirkungen auf den Leser, die Hannas Analphabetismus auslösen
können. „Der kleine, unverschuldete Defekt (…) bringt uns die Hauptfigur näher, lässt sie uns mögen“
(S.73). Auch ihre Position als Opfer während des Prozesses spielt für ihn in dieser Richtung eine
tragende Rolle, Mitleid mit der Täterin zu empfinden. Er schlieβ t seine Demonstration, „Zweifellos:
Plotting und Sympathiesteuerung funktionieren hier.“[12] Baβ ler kann Hannas Analphabetismus nur
als Entschuldigung ihrer Taten verstehen und nicht als Erklärung. Schlink behandelt einen Einzelfall
und versucht nicht nur Hannas Handeln zu verurteilen, sondern auch zu verstehen. Vielleicht ist
tatsächlich eine Art Verallgemeinerung beim Leser erfolgt, jedoch nicht in dem Sinne, dass alle
Deutsche unschuldig sind, sondern dass ihr Handeln verständlich bzw. fassbar wird.
Wenn Hannas Schuld durch ihren Analphabetismus relativiert wird, ist es auch in Bezug auf Schlinks
Denken zu betrachten. Knobloch sieht die Begründung „in dem unübersehbaren Misstrauen seines
Autors gegenüber der Justiz“[13]. Die Kritik an der Justiz, an der Rechtsprechung im Allgemeinen und
an den Nazi-Prozessen im Besonderen, ist omnipräsent.
Die Fähigkeiten der Justiz wird oft in Frage gestellt, besonders in Bezug auf den Analphabetismus
Hannas.
Der Vorleser zeigt eine komplexe Schuldkonstellation, die die juristisch definierten Schuld- und
Verantwortungsbegriffe in Frage stellt. Zuerst wird die Frage nach der individuellen Verantwortung
gestellt, die mit juristischen Begriffen nicht zu erfassen ist. „Hier wird die Frage nach der Schuld auf
existentielle Ebene verlagert“[14], betont Knobloch und öffnet eine andere Betrachtung der Täter.
Besonders die folgende Frage wird hervorgehoben: Wie weit darf das Mitgefühl mit den Tätern
gehen?
Hanna ist Analphabetin, sie kann nicht lesen und schreiben. Aus diesem Grund hatte sie den KZ-Job
angenommen, anstatt bei Siemens aufzusteigen und kommt schlechter weg beim Prozess als Andere.
Im Gefängnis lebt sie wie in einem Kloster und kurz von ihrem Tod in der Vernachlässigung. „Über
viele Jahre hat sie wie in einem Kloster. Als hätte sie sich freiwillig hierher zurückgezogen (…).Jetzt
fing sie an, viel zu essen, sich selten zu waschen, sie wurde dick und roch. (…) Eigentlich war es, als
hätte der Rückzug ins Kloster nicht mehr genügt, (…) als müsse sie sich daher weiter zurückziehen, in
eine einsame Klause, in der einen niemand mehr sieht und Aussehen, Kleidung und Geruch keine
Bedeutung mehr haben.“ (S.196). Sie bittet auβ erdem, dass ihr Geld an die überlebende Tochter der
verbrannten Kirche geschenkt wird.
Hannas Geschichte erlaubt dem Leser, die Täter auch als Individuum zu betrachten. Warum konnte
man die individuellen Leben der Verbrecher nicht untersuchen? Muss eine solche Behandlung
zwangsläufig zur Entschuldigung der Täter führen? Alles in allem sind auch viele individuellen
Erzählungen von Opfer des Nazismus veröffentlicht, ohne irgendeine Kritik auszulösen. Warum
konnte man nicht auch von der Geschichte der Täter sprechen?
Bernhard Schlink wird von Kritikern wie Germanisten der Vorwurf gemacht, daß er im Vorleser im
Gegensatz zu den Erwartungen, die man offenbar an ‘Holocaust-Literatur’ stellt, keine eindeutige
Antwort auf die aufgeworfene Schuldfrage gibt. Moeglichkeit der Gerechtigkeit
genau. ‚Schnitzler bellt, Stefan Zweig ist ein toter Hund’ oder
und das bei dem Prozess Grundlage der Anklage ist. Michael
Distanz und Nähe“ (S. 114) für das Buch dieser Überlebenden
Erst bei der späteren zweiten Lektüre fällt ihm auf, dass das
zur Welt der Lager erlaubt. Das aber ist es, was Michael
mit dem Wunsch nach Distanz („Zuerst wollte ich unsere Geschichte
schreiben, um sie loszuwerden“) und dann sofort nach
Nähe (Dann merkte ich, wie unsere Geschichte mir entglitt, und
Versuche misslingen.
43 Bernhard Schlink in seiner Rede zur Verleihung des Fallada-Preises der Stadt Neumünster,
2.7 Interpretationsansätze
93
Schuld Hannas:
Kirche
Schuld Michaels:
weder mit ihr noch mit dem Richter über ihr Problem),
nicht stehen lassen können (vgl. S. 153: „Es ging mir nicht
gedrängt“, S. 84)
für Julia
desselben
Leben
fehlende Scham
mit Aufklärungspflicht
Wegsehen, Tolerieren
Lieblosigkeit
Distanz zu Mitmenschen