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Vorleser Interpretation

Das Dokument beschreibt den Roman 'Der Vorleser' von Bernhard Schlink. Es werden Hintergrundinformationen zum Autor und zum Werk gegeben, sowie wichtige Themen und Figuren vorgestellt. Dazu gehören der Holocaust, die drei Generationen nach dem Krieg und die Beziehung zwischen dem Protagonisten Michael und der älteren Frau Hanna.

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Vorleser Interpretation

Das Dokument beschreibt den Roman 'Der Vorleser' von Bernhard Schlink. Es werden Hintergrundinformationen zum Autor und zum Werk gegeben, sowie wichtige Themen und Figuren vorgestellt. Dazu gehören der Holocaust, die drei Generationen nach dem Krieg und die Beziehung zwischen dem Protagonisten Michael und der älteren Frau Hanna.

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Bernhard Schlink: Der Vorleser

Die Erstveröffentlichung von Bernhard Schlinks Romans Der Vorleser (1995) war ursprünglich in den
USA geplant. Dazu kam es nicht, aber 1999, vier Jahre nach seinem Erscheinen, eroberte die
Übersetzung als erstes deutsches Buch die amerikanischen Bestsellerlisten.

Der Vorleser behandelt das Thema Holocaust.

In den letzten Jahren: erneutes weltweites Interesse an das Thema.

Gründe:

- die letzten Zeitzeugen und Opfer sind jetzt alt.

- durch die gewachsene zeitliche Distanz zu den Geschehnissen ändert sich auch der Umgang damit.
Auch in der Literatur ist erkennbar, dass sich diese Generation der „Nachgeborenen“ in einer anderen
Weise als bisher dem Stoff nähert. Es sind nicht mehr der Massenmord und die Geschehnisse des
Zweiten Weltkrieges selbst, um die es unmittelbar geht, vielmehr wird

die Verarbeitung dieser Geschehnisse von Seiten der Täter und Opferkinder bzw. der Enkel
beschrieben.

Schon drei Generationen haben mit der Schuld des Dritten Reiches und des Holocaust umgehen
müssen. Alle drei Generationen tauchen in seinem Roman auf:

Vertreter der ersten Generation (unmittelbar in die Ereignisse verstrickt):

Hanna, die Eltern und unmittelbaren Verwandten, die überlebende

Mutter mit ihrer Tochter = Täter, Opfer, Widerstand

Leistende, passiv Duldende

Vertreter der zweiten Generation (Kinder, haben Holocaust selbst nicht erlebt):

Michael und seine Mitschüler, Kommilitonen = kritisch Fragende,

Anklagende, in Generationskonflikt Verstrickte

Vertreter der dritten Generation (Enkel, kennen Holocaust nur aus Filmen, Dokumentationen,
Berichten):

Leser des Romans, Bewohner des neuen, erst in den siebziger oder achtziger Jahren gebauten Hauses
in der Bahnhofstraße,

aufgeklärte Zeitgenossen (vgl. Der Vorleser, S. 142)


Der Roman greift wichtige Fragen auf, wie die Übernahme von Verantwortung und Schuld, die
Zugehörigkeit des Einzelnen, ob er will oder nicht, zu einem Kollektiv aber auch zu anderen
Einzelwesen, der Umgang mit eigener und fremder Schuld, zwischenmenschliche Kommunikation,
usw.

Aufgabe der Literatur:

Literatur muss Schlinks Meinung zufolge den individuellen Zugang zu den Geschehnissen immer
wieder neu herstellen und dabei zugleich universeller sein.

Bernhard Schlink ist hauptberuflich Jurist. Diese Tatsache schlägt sich in verschiedener Hinsicht in
seinen Texten nieder. Zum einen ist nicht zu übersehen, dass viele seiner Protagonisten Juristen sind
oder im juristischen Milieu zu tun haben. Weiterhin wird inhaltlich – so auch in Der Vorleser – das
Prinzip von Schuld und Sühne verfolgt. Verfehlungen und Gerichtsurteile, juristische Denkweise ist
allenthalben unübersehbar und wird von Lesern und Rezensenten ausdrücklich aufgenommen1 . In
der Laudatio auf B. Schlink heißt es zu seinem Roman Der Vorleser:

„Das Buch erzählt von der Hilflosigkeit juristischer Formeln auf die größte Katastrophe unserer Zeit.“
Zum anderen wirkt sich die juristische Praxis auf Schlinks Erzählweise aus. „Ich schreibe auch als Jurist
gern und versuche auch als Jurist, klar und schön zu schreiben. Beides ergänzt sich auch sonst“,
erläutert Schlink in einem Interview mit Tilman Krause (Die Welt v. 14. 10. 1999) seine Konzeption
und den Bezug zwischen dem Juristen und dem Schriftsteller Bernhard Schlink. Die Sprache des
Romans ist gekennzeichnet durch ihre Klarheit und Knappheit. Die Wortwahl ist jeweils Alter und
Bildungsstand des Protagonisten angepasst und lädt zur Identifikation ein. Was bei der Klarheit und
Schnörkellosigkeit der Erzählweise Schlinks gelegentlich als ‚trockene Beschreibung’ beanstandet
wird, entpuppt sich nach Meinung von vielen Kritikern aber bei näherer Betrachtung als verdeckter
Vorzug. „Er erzeugt mit diesen Mitteln den Eindruck von Authentizität und damit ein überraschendes
Ergebnis. Die meisten Leser des Vorlesers wollten schwören, dass es sich dabei um eine ‚wahre
Geschichte’ handele. ... Authentisch wirken Geschichten meist dann, wenn sie ohne die ausgestellte
Kunstfertigkeit daherkommen.“

Dennoch finden sich Passagen von großer emotionaler Wirkung (z. B. S. 117 f.; 127 ff.) oder sehr
poetisch ausgefeilte Textteile, z. B. die Beschreibung der Fieberfantasien des Jugendlichen (S. 19 f.).

Der Roman ist in drei Teile unterteilt, die jeweils einem besonderen Lebensabschnitt Michaels
entsprechen. Jeder Teil ist schon durch den Neuanfang der Numerierung der Kapitel als eigenständig
und abgeschlossen gekennzeichnet (Teil I: Kapitel 1–17, Teil II: Kapitel 1–17, Teil II: Kapitel 1–12). Im
Wesentlichen folgt das Erzählen der Chronologie der Ereignisse, ist aber im Rückblick erzählt und
enthält immer wieder Vorausdeutungen (z. B. S. 68), Einschübe, Unterbrechungen (vgl. auch S. 134 f.,
S. 124, S. 84 u. a.). Die einzelnen Kapitel sind kurz und in sich abgeschlossen, selbst wenn der
Chronologie der Ereignisse folgend weitererzählt wird.Nahezu alle Kapitel fangen mit einem sehr
kurzen Satz an (Ausnahme z. B. I, 12. Kap. oder II, 7. Kap.). Die drei Teile werden einerseits durch ein
überleitendes erstes Kapitel, andererseits durch Rückblicke und Vorausdeutungen sowie durch das
Leitmotivgeflecht miteinander verknüpft.

Als Analepse (auch Rückblende, Rückwendung oder Retrospektive, im englischen Flashback)


bezeichnet man bei Film- und Fernsehproduktionen sowie in der Literatur eine Erzähltechnik.
Ereignisse, die zeitlich vor dem bisher Erzählten stattgefunden haben bzw. haben müssten, werden
erst im Nachhinein erzählt. Antizipation: Prolespse - eine Vorausschau bzw. einen Zeitsprung in die
Zukunft oder durch den Text geweckte Lesererwartungen.

Leitmotive:

1. Die Odyssee von Homer spielt eine besondere Rolle. Der Text „erweist sich als Michaels
Lieblingstext; das Epos einer Heimkehr liegt, wie sich am Ende zeigt, dem Vorleser als
versteckter Chorgesang zu Grunde“. Hier drückt sich Michaels Sehnsucht nach einem
Zuhause, nach der Möglichkeit eines Endes von Irrfahrten und Abwegen aus.

2. Körper, Sexualität und Zu-Hause-Sein

Ihre Beziehung ist eine Beziehung der Körper

. Die sexuellen Erfahrungen führen

dazu, dass er sicherer wird, sich in seinem „Körper wohl“

(S. 41) fühlt. Als Hanna plötzlich verschwunden ist, wird nicht

die Sehnsucht nach dem Menschen, sondern seines Körpers

nach dem Hannas in den Vordergrund gestellt („Es dauerte eine

Weile, bis mein Körper sich nicht mehr nach ihrem sehnte.“ S. 83).

Hanna gibt sich nie

„rückhaltlos“ (S. 77) hin. Nur einmal, am ersten Tag der

Fahrradtour, wird etwas von der Verheißung, die Hanna ausstrahlt,

Wirklichkeit, denn sie nimmt Michael „in sich auf“ und

hält ihn „in ihren Armen“ (S. 53). Allerdings legen ihre geflüsterten
Worte („Mein Jungchen, mein Jungchen“) nahe, dass sie

eher an ein Kind als an einen ebenbürtigen Sexualpartner

denkt. „Gegebene und empfangene Lust“ soll als „Siegel auf“ die

gegenseitige „Liebe“33 verstanden werden. Was mit dem Begriff

„Liebe“ abgedeckt ist, bleibt allerdings unklar. Selbst wenn

Michael von seiner „Liebe“ zu Hanna spricht, mutmaßt er,

dass sie als Preis dafür anzusehen sei, dass Hanna mit ihm

geschlafen habe (S. 28), diese Liebe also von seiner Seite aus

einem Gefühl der Entgeltung entstehe. Sie ist überdies von

vornherein zum Scheitern verurteilt. Von Hannas Liebe zu

ihm weiß er nichts (S. 67) und auch der Leser ist vorwiegend

auf Vermutungen angewiesen. Wohl ist es möglich, sich gegenseitig

zu „Empfindungen jenseits alles bisher Empfundenen“

(S. 77) zu treiben. Unglück und Verzweiflung kann mit Sex

kompensiert werden. Für Michael ist die Beziehung zu Hanna

neben der Erinnerung von glücklichen Momenten vor allem

Quelle von Scham, Schuldgefühl, Verwirrung.

Kommunikation:

Hanna und Michael sind zwei sehr unterschiedliche

Kommunikationspartner.

Dies liegt u. a. an ihrem unterschiedlichen Alter, den sehr

verschiedenen Bildungsständen und sehr wesentlich an Hannas

Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben. Es ist auffällig,

dass die kommunikative Beziehung zwischen Hanna und Michael

weniger auf verbaler als auf nonverbaler Ebene abläuft.

Schon bei der ersten Begegnung wird dies deutlich. Bevor sie
den Namen des anderen kennen, vergeht etwa eine Woche, in

der es zur Kommunikation der Körper gekommen ist, wobei

ohne Worte gelehrt und gelernt wurde.

Die Drohung der Zurückweisung bringt

Michael dazu, in jeder Hinsicht zu kapitulieren,

sich ihr zu unterwerfen und

sogar gegen sein Wissen und gegen seine Überzeugung Fehler

einzugestehen und sich zu entschuldigen (vgl. S. 50). Mündliche

(Reden über das Streiten) und schriftliche Kommunikation

(Brief) scheitern, weil Hanna sich als Empfänger der Nachrichten

verweigert bzw. das Zeichensystem nicht beherrscht.

Als Analphabetin hat sie aus Furcht vor Entdeckung gelernt,

tiefer gehenden Fragen auszuweichen, Strategien der Vermeidung

zu entwickeln.

Hannas sprachliche Inkompetenz

wirkt sich während des Prozesses fatal

aus. Auch dort antwortet sie „einsilbig“

(S. 92), ist so ungeschickt in der Argumentation und Verteidigung

ihrer Handlungsweise, dass sie den Richter verärgert

(S. 105), die Prozessteilnehmer irritiert und die übrigen Angeklagten

dazu bringt, ihre Schwäche auszunutzen. Anfangs ist

ihr die Wirkung ihrer Worte nicht bewusst, dann ist es auch

für sie unübersehbar, aber sie findet keine Alternative.

„Hanna merkte, dass sie ihrer Sache mit dem, was sie sagte,

keinen Dienst erwies. Aber sie konnte nichts anderes sagen. Sie

konnte nur versuchen, das, was sie sagte, besser zu sagen,

besser zu beschreiben und zu erklären. Aber je mehr sie sagte,


desto schlechter sah es um ihre Sache aus.“ (S. 122 f.).

2.7.2 Das Problem des Analphabetismus

Hanna ist vollständige Analphabetin, d. h. sie kann weder

lesen noch schreiben.

Hinweise auf diese Schwäche gibt es

für Michael fortlaufend bis zu seiner

Erkenntnis:

Hanna hat Michaels Namen auf seinen Schulheften nicht

gelesen (S. 35)

Hanna reagiert nicht auf seinen Brief (S. 50)

Hanna überlässt ihm die Wahl der Routen, der Hotels, der

Speisen auf der Fahrradtour (S. 52, 53, 54)

Hanna gibt vor, den Zettel Michaels nicht gefunden zu haben

(S. 54 f.)

Hannas Reaktion im Arbeitszimmer seines Vaters, lässt sich

aus dessen Büchern vorlesen (S. 60 f.)

seltsam wahllose Auswahl von Kinofilmen (S. 76)

Anzeichen von hohem Druck auf Hanna (S. 76)

Hanna hält Termine der schriftlichen Vorladung nicht ein

(S. 94)

Hanna will nicht auf die Verlesung des vorher zugesandten

Manuskriptes des Buches der Tochter verzichten (S. 104)

reagiert sicht- und hörbar verwirrt im Zusammenhang mit

dem Protokoll ihrer richterlichen Vernehmung (S. 105)

Hanna hat im Laufe der Zeit meisterhaft

gelernt, ihre Schwäche zu vertuschen.


Sie reagiert durch Ignorieren,

erfindet Begründungen für ihr Tun (zu aufgeregt, will sich mal

nicht kümmern etc.). Sie lässt andere für sich lesen (Michael

schmeichelt sie mit seiner schönen Stimme, die KZ-Insassinnen

sind ihr ausgeliefert, werden zum Schweigen verpflichtet und anschließend in den Tod geschickt).

In die Enge getrieben

reagiert sie zornig, sogar brutal, ist empfindlich und verletzlich.

Wenn eine Entscheidung unausweichlich ist, flieht sie

aus der Situation. Im Zusammenhang mit ihrer Vernehmung

während des Prozesses wirkt sie verwirrt und ratlos. Andererseits

kann sie auch keine Hilfe annehmen. Die Verdeckung

ihrer Schwäche scheint ein primäres Ziel zu sein, dem sie alles

unterordnet, selbst die Gerechtigkeit ihr gegenüber. Sie gibt

lieber etwas zu, was sie nicht getan hat, als dass sie sich zu

ihrer Schwäche bekennt. Hanna muss konstant nach Lösungen

suchen, wie sie in einer Welt der Schriftzeichen und der

schriftsprachlichen Kommunikation zurechtkommt, und

gleichzeitig Sorge tragen, dass keiner ihre Lese- und Schreibunfähigkeit

bemerkt. Diese Anspannung ermüdet sie sichtlich

(„Ihr Blick ist müde.“ S. 61, „Ein hochmütiger, verletzter, verlorener

und unendlich müder Blick. Ein Blick, der niemanden und

nichts sehen will.“ S. 157).

Erst im Gefängnis gibt sie diesen Kampf auf und tritt in die

produktive Phase der Bewältigung ihres Problems: sie lernt

lesen und schreiben. Auch hier will sie ohne die Hilfe der

anderen auskommen und wählt den mühsamen Weg des

Selbststudiums. Nachdem sie ihr Ziel aber erreicht hat, ist sie
stolz und sehr froh und möchte gern, dass Michael oder jemand

anders diese Freude mit ihr teilt.

Auβ erdem denunziert er die Auswirkungen auf den Leser, die Hannas Analphabetismus auslösen
können. „Der kleine, unverschuldete Defekt (…) bringt uns die Hauptfigur näher, lässt sie uns mögen“
(S.73). Auch ihre Position als Opfer während des Prozesses spielt für ihn in dieser Richtung eine
tragende Rolle, Mitleid mit der Täterin zu empfinden. Er schlieβ t seine Demonstration, „Zweifellos:
Plotting und Sympathiesteuerung funktionieren hier.“[12] Baβ ler kann Hannas Analphabetismus nur
als Entschuldigung ihrer Taten verstehen und nicht als Erklärung. Schlink behandelt einen Einzelfall
und versucht nicht nur Hannas Handeln zu verurteilen, sondern auch zu verstehen. Vielleicht ist
tatsächlich eine Art Verallgemeinerung beim Leser erfolgt, jedoch nicht in dem Sinne, dass alle
Deutsche unschuldig sind, sondern dass ihr Handeln verständlich bzw. fassbar wird.

Wenn Hannas Schuld durch ihren Analphabetismus relativiert wird, ist es auch in Bezug auf Schlinks
Denken zu betrachten. Knobloch sieht die Begründung „in dem unübersehbaren Misstrauen seines
Autors gegenüber der Justiz“[13]. Die Kritik an der Justiz, an der Rechtsprechung im Allgemeinen und
an den Nazi-Prozessen im Besonderen, ist omnipräsent.

Die Fähigkeiten der Justiz wird oft in Frage gestellt, besonders in Bezug auf den Analphabetismus
Hannas.

Der Vorleser zeigt eine komplexe Schuldkonstellation, die die juristisch definierten Schuld- und
Verantwortungsbegriffe in Frage stellt. Zuerst wird die Frage nach der individuellen Verantwortung
gestellt, die mit juristischen Begriffen nicht zu erfassen ist. „Hier wird die Frage nach der Schuld auf
existentielle Ebene verlagert“[14], betont Knobloch und öffnet eine andere Betrachtung der Täter.
Besonders die folgende Frage wird hervorgehoben: Wie weit darf das Mitgefühl mit den Tätern
gehen?

Hanna ist Analphabetin, sie kann nicht lesen und schreiben. Aus diesem Grund hatte sie den KZ-Job
angenommen, anstatt bei Siemens aufzusteigen und kommt schlechter weg beim Prozess als Andere.
Im Gefängnis lebt sie wie in einem Kloster und kurz von ihrem Tod in der Vernachlässigung. „Über
viele Jahre hat sie wie in einem Kloster. Als hätte sie sich freiwillig hierher zurückgezogen (…).Jetzt
fing sie an, viel zu essen, sich selten zu waschen, sie wurde dick und roch. (…) Eigentlich war es, als
hätte der Rückzug ins Kloster nicht mehr genügt, (…) als müsse sie sich daher weiter zurückziehen, in
eine einsame Klause, in der einen niemand mehr sieht und Aussehen, Kleidung und Geruch keine
Bedeutung mehr haben.“ (S.196). Sie bittet auβ erdem, dass ihr Geld an die überlebende Tochter der
verbrannten Kirche geschenkt wird.

Hannas Geschichte erlaubt dem Leser, die Täter auch als Individuum zu betrachten. Warum konnte
man die individuellen Leben der Verbrecher nicht untersuchen? Muss eine solche Behandlung
zwangsläufig zur Entschuldigung der Täter führen? Alles in allem sind auch viele individuellen
Erzählungen von Opfer des Nazismus veröffentlicht, ohne irgendeine Kritik auszulösen. Warum
konnte man nicht auch von der Geschichte der Täter sprechen?
Bernhard Schlink wird von Kritikern wie Germanisten der Vorwurf gemacht, daß er im Vorleser im
Gegensatz zu den Erwartungen, die man offenbar an ‘Holocaust-Literatur’ stellt, keine eindeutige
Antwort auf die aufgeworfene Schuldfrage gibt. Moeglichkeit der Gerechtigkeit

Funktionen der Literatur:

- die Entdeckung und Öffnung einer anderen

Welt, die man „staunend“ zeitweilig betritt (wird von

beiden gemeinsam wahrgenommen). Michael betont das Verbindende,

das sich z. B. durch die „ferne Reise“ (S. 68) in Tolstois

Welt entwickelt41. Dadurch entsteht im Laufe der Zeit

eine sehr persönliche Art der Verständigung über Literatur,

wie sie unter Vertrauten, die viel gemeinsam erlebt haben,

möglich ist („Ihre Bemerkungen über Literatur trafen oft erstaunlich

genau. ‚Schnitzler bellt, Stefan Zweig ist ein toter Hund’ oder

‚Keller braucht eine Frau’ ...“ S. 179).

- Eine Sonderrolle nimmt das Buch ein,

dass die Tochter über ihr Leben in den

Konzentrationslagern geschrieben hat

und das bei dem Prozess Grundlage der Anklage ist. Michael

studiert dieses Buch mit großer Gründlichkeit. Die Fähigkeit,

nüchtern zu analysieren und zu registrieren, danach aber die

Erlebnisse in literarischer Form umzusetzen, hat der Tochter

offenbar bei der Bewältigung der Vergangenheit geholfen. Bei

dem späteren Besuch allerdings kommt Michael angesichts

des „eigentümlich alterslos“ (S. 200) aussehenden Gesichtes und

der extremen Sachlichkeit in Ton, Haltung, Gestik und Kleidung

die Vermutung, dass sie „unter dem frühen Leid erstarrt“

(S. 201) sei, die Vergangenheit also nicht bewältigt, sondern


nur verdeckt habe. Generalisierend kommentiert Michael, offenbar

nach der Lektüre weiterer Texte dieser Art:

„Alle Literatur der Überlebenden berichtet von dieser Betäubung,

unter der die Funktionen des Lebens reduziert, das Verhalten

teilnahms- und rücksichtslos und Verbrennungen alltäglich

wurden.“ (S. 98)

Für den Studenten Michael ist das eigentümliche „Zugleich von

Distanz und Nähe“ (S. 114) für das Buch dieser Überlebenden

des Holocaust charakteristisch. Er führt dies erst auf die Tatsache

zurück, dass er das Buch in einer fremden Sprache liest.

Erst bei der späteren zweiten Lektüre fällt ihm auf, dass das

Buch dadurch Distanz schafft, dass es nicht zur Identifikation

mit einer Person einlädt, dem Leser keinen imaginären Zugang

zur Welt der Lager erlaubt. Das aber ist es, was Michael

im Umgang mit literarischen Texten zu schätzen gelernt hat.

Dennoch folgt er in gewisser Weise dem Vorbild der Tochter.

Sein eigener Versuch durch Schreiben

seine Erfahrungen zu verarbeiten gelingt

nur teilweise. Die Hoffnung, die

eigene Vergangenheit loswerden zu können, erweist sich als

genauso absurd wie die Vorstellung, das Überleben in Konzentrationslagern

vergessen zu können. Doch ihm hat nach

eigenen Angaben das Schreiben geholfen, seinen „Frieden“ (S. 206)

mit seiner Geschichte zu machen, zumindest zeitweilig ein

gewisses Maß an emotionaler Distanz und Ausgeglichenheit

zu gewinnen. Auffällig ist, dass Michael sein Schreiben erst

mit dem Wunsch nach Distanz („Zuerst wollte ich unsere Geschichte
schreiben, um sie loszuwerden“) und dann sofort nach

Nähe (Dann merkte ich, wie unsere Geschichte mir entglitt, und

wollte sie durchs Schreiben zurückholen.“ S. 206) begründet. Beide

Versuche misslingen.

Frage der Schuld:

Der Vorleser ist ein Buch, in dem Menschen auf vielfältige

Weise schuldig werden und in sehr unterschiedlicher Weise

mit der eigenen Schuld und der anderer umgehen. Es ist in

diesem Sinne nicht nur ein literarischer Beitrag zur Holocaust-

Thematik, sondern grundsätzlich ein Buch darüber,

„was Menschen einander antun und einander schuldig bleiben

können, wie sie, ohne Monster zu sein, die furchtbarsten Verbrechen

begehen können, wie politische und gesellschaftliche

Institutionen versagen und wie eine moralische Kultur zusammenbrechen

kann, schließlich auch wie man sich zu denen verhält,

die die furchtbarsten Verbrechen begangen haben“43 .

43 Bernhard Schlink in seiner Rede zur Verleihung des Fallada-Preises der Stadt Neumünster,

1997, in: Salatgarten, Heft 1 1998, S. 44

2. Textanalyse und -interpretation

2.7 Interpretationsansätze

93

Besonders eindrucksvoll ist, wie Schlink individuelle Schuld

und Kollektivschuld zueinander in Beziehung setzt; Einzelschicksale

spiegeln in gewisser Weise das Schicksal ganzer

Generationen. Es wird dargestellt, wie Menschen, teilweise

durch ganz banale Umstände, schuldig werden können und


wie schwierig es ist, mit der jeweiligen Schuld umzugehen.

Der Roman zeigt sehr unterschiedliche Mechanismen des Verdrängens,

Verweigerns von Verantwortung, der Ich-Bezogenheit

von Menschen. Gerade weil keine eindeutigen Rollenzuweisungen

zu Nur-Schuldigen oder Nur-Unschuldigen

entstehen, die Umstände, die zur Schuld führten verstehbar

und erklärbar gemacht werden, aber deutlich darauf hingewiesen

wird, dass gleichzeitiges Verstehen und Verurteilen

nicht geht, bekommt der Roman eine universelle Bedeutung

mit fast philosophischen Bezügen.

Schuld Hannas:

während ihrer Zeit als Aufseherin im KZ: Beteiligung an

der Selektion der Gefangenen, Brutalität den Gefangenen

gegenüber, unterlassene Hilfeleistung bei der brennenden

Kirche

Michael gegenüber: Demütigung und Kälte, Schlagen mit

dem Gürtel, Zuweisung lediglich eines sehr beschränkten

Platzes in ihrem Leben (vgl. S. 75)

juristische Schuld (nach § 182 des Sexualstrafrechts): Verführung

eines Minderjährigen, d. h. sexueller Missbrauch

Michaels, da juristisch vom Ausnutzen einer fehlenden Fähigkeit

zur Selbstbestimmung ausgegangen wird

Schuld Michaels:

Liebe zu einer Verbrecherin

Hanna gegenüber: Verrat durch Ausschluss aus seinem Leben,


bzw. Zuweisung seinerseits einer kleinen Nische, Unterlassene

Hilfe nach Erkenntnis ihres Geheimnisses (redet

weder mit ihr noch mit dem Richter über ihr Problem),

Vermeiden von Besuchen und persönlichem Kontakt, später

der Versuch, ständig auf sie Einfluss zu nehmen und sie

nicht stehen lassen können (vgl. S. 153: „Es ging mir nicht

wirklich um Gerechtigkeit. Ich konnte Hanna nicht lassen, wie

sie war und wie sie sein wollte.“)

Sophie gegenüber: Verletzung ihrer Gefühle („in ihr Herz

gedrängt“, S. 84)

dem Großvater gegenüber: Ablehnung von dessen Segen

vor seinem Tod

Gertrud und Julia gegenüber: ständiger Vergleich mit Hanna

nimmt der Beziehung die Basis, Verweigerung von Geborgenheit

für Julia

dem Gesetz gegenüber: Diebstahl von Kleidungsstücken für

die kleine Schwester und für Hanna

Schuld des Vater:

unzureichende Aufmerksamkeit und Herzlichkeit/Wärme

gegenüber den Kindern (S. 136)

Schuld der Zeitgenossen der NS-Zeit:

Zulassen der Gräueltaten, mangelnder Widerstand

aktive Mithilfe im Nazi-Regime, Unterstützung und Festigung

desselben

Verzicht auf Verurteilung und Ausschluss aus dem gesellschaftlichen

Leben
fehlende Scham

Schuld der Kindergeneration:

moralischer und überheblicher Eifer beim Zur-Kenntnis-

Nehmen und Aufklären der Furchtbarkeiten des NS-Zeit,

„auftrumpfende Selbstgerechtigkeit“ (S. 162)

Vermischen von Konflikten mit den Eltern (Generationskonflikt)

mit Aufklärungspflicht

Kollektivschuld, Scham (S. 161)

Umgang mit Schuld, Folgen:

Gefühl der Scham

Wegsehen, Tolerieren

empörter Fingerzeig auf die Schuldigen, Umsetzen des passiven

Leidens an Scham und Schuld in „Energie, Aktivität,

Aggression“ (S. 162), Abgrenzung von der „ganzen Generation

der Täter, Zu- und Wegseher, Tolerierer und Akzeptierer“

(S. 162), lärmendes Übertönen der eigenen Verstrickung

Versuch zu vergessen, Verdrängen, Vermeiden der Erinnerung

„Kaltschnäuzigkeit“ (S. 85) und Fühllosigkeit, Arroganz; Verharren

in Betäubung, Kälte, Erstarrung (von nahezu allen

Betroffenen, schuldig Gewordenen und Opfern gezeigt),

Lieblosigkeit

Distanz zu Mitmenschen

Verstörung, Tränen, Erschütterung, mühsame Fassung im

Umgang mit der Schuld anderer

Zorn und Wut

Ratlosigkeit und Hilflosigkeit

Verstummen, Leere (S. 150)


Weglaufen, Flucht

aktive Auseinandersetzung mit dem Geschehenen (Anschauung,

Besuch, wissenschaftliche Literatur etc.), Beschreiben

und Erzählen, Kommunikation darüber

bescheidener Versuch der Wiedergutmachung (Hannas Testament)

Tod Hannas als Möglichkeit der Sühne44

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