Einführung in Die Germanistische Linguistik (PDFDrive)
Einführung in Die Germanistische Linguistik (PDFDrive)
J.B.METZLER
Jörg Meibauer / Ulrike Demske / Jochen Geilfuß-Wolfgang /
Jürgen Pafel / Karl Heinz Ramers / Monika Rothweiler /
Markus Steinbach
Einführung in die
germanistische Linguistik
3., überarbeitete und aktualisierte Auflage
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Die Autorinnen und Autoren
Jörg Meibauer, Mainz – Ulrike Demske, Potsdam – Jochen Geilfuß-Wolfgang, Mainz –
Jürgen Pafel, Stuttgart – Karl Heinz Ramers, Rostock – Monika Rothweiler, Bremen –
Markus Steinbach, Göttingen.
Literaturempfehlung
Markus Steinbach et al.: Schnittstellen der germanistischen Linguistik (2007)
Dieses Einführungsbuch versteht sich als nötige Ergänzung zu dem vorliegenden Werk. In sieben
Kapiteln werden folgende weitere Gebiete der germanistischen Linguistik behandelt: Methoden des
empirischen Arbeitens, Psycholinguistik, Zweitspracherwerb, Gebärdensprache, Variationslinguistik
(Dialektologie und Soziolinguistik), Text- und Gesprächslinguistik sowie Linguistik und Literatur.
ISBN 978-3-476-02566-1
ISBN 978-3-476-05424-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-05424-1
Dieses Lehrbuch ist eine Einführung in die germanistische Linguistik, die während
des ganzen Studiums benutzt werden kann. In der Einleitung wird der Gegenstand
›Sprache‹ als ein soziales und historisches Phänomen und zugleich als eine biologisch
und kognitiv fundierte Fähigkeit des Menschen charakterisiert. In den fünf folgenden
Kapiteln werden die linguistischen Kerngebiete ›Lexikon und Morphologie‹, ›Pho-
nologie‹, ›Syntax‹, ›Semantik‹ und ›Pragmatik‹ behandelt. Diese Kapitel erläutern
jeweils sprachwissenschaftliche Grundbegriffe, illustrieren sie an Beispielen aus dem
Deutschen und geben einen Einblick in die linguistische Theoriebildung. Daran
anschließend werden mit dem kindlichen Spracherwerb und dem Sprachwandel
zwei Gebiete vorgestellt, die von großer Bedeutung für ein tieferes Verständnis der
menschlichen Sprache sind. In alle Kapitel sind Übungen integriert, die die Kontrolle
des Verständnisses erleichtern und zu selbstständiger Analyse und kritischer Reflexion
anleiten. Musterlösungen zu diesen Übungen finden Sie unter www.egli-online.de.
Zu jedem Kapitel wird auf ausgewählte Fachliteratur verwiesen. Darüber hinaus
gibt es eine allgemeine Bibliographie mit gezielten Hinweisen auf andere Einführungen,
auf Lexika und Handbücher, auf Grammatiken, Wörterbücher und Fachzeitschriften
und ein kleines Verzeichnis ausgewählter, linguistisch interessanter Internetadressen.
Ein umfangreiches Glossar mit knappen Erläuterungen der wichtigsten Fachtermini
und ein Sachregister schließen dieses Lehrbuch ab.
Insgesamt ist unser Ziel, die Anfängerin und den Anfänger für das Studium der
germanistischen Linguistik zu motivieren und fortgeschrittene Studierende an den
aktuellen Stand der Disziplin heranzuführen, wobei wir uns an der internationalen
Diskussion in der Linguistik orientiert haben, ohne dass einseitig eine bestimmte
theoretische Richtung bevorzugt wird. Die Auswahl der Gegenstände in den einzel-
nen Kapiteln erfolgte aufgrund langjähriger Lehrerfahrung; Vollständigkeit konnte
jedoch allein schon aus Platzgründen nicht angestrebt werden. Die einzelnen Kapitel,
in denen immer auch grundlegendes Wissen über die deutsche Grammatik behandelt
wird, sind in intensiver Diskussion aufeinander abgestimmt worden. Sie können un-
abhängig voneinander gelesen werden, wobei sich das Lehrbuch zum Selbststudium
genauso eignet wie als Kurslektüre.
Wir danken den folgenden Personen, die uns bei der Arbeit geholfen haben:
Anne-Katrin Heymann, Caroline Mannweiler, Juliane Möck, Ingo Reich, Carmen
Scherer, Melani Vukosav, Tanja Werner und last but not least Ute Hechtfischer vom
Metzler Verlag.
Im Juni 2002
Die Autor/innen
V
Vorwort zur 2. Auflage
Im November 2006
Die Autor/innen
Im April 2015
Die Autor/innen
VI
Inhalt
Vorwort ................................................................................................................ V
Vorwort zur 2. Auflage .......................................................................................... VI
Vorwort zur 3. Auflage .......................................................................................... VI
VII
Inhalt
VIII
Inhalt
IX
Inhalt
X
Inhalt
XI
1.1
1 | Einleitung
(2) Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte,
wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmerver-
mieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal
nicht. Das war noch niemals geschehen. (Franz Kafka: Der Prozeß)
(3) WENDLA Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?
FRAU BERGMANN Du wirst vierzehn Jahre heute!
WENDLA Hätt’ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre lieber
nicht vierzehn geworden.
(Frank Wedekind: Frühlings Erwachen)
(4) Das leichte und schlagfeste, für hohe Stabilität und geräuscharmen Betrieb geformte
Gehäuse ist aus Silumin, eine Legierung aus Aluminium und Silicium. Hochfliegende
Steine können dem aus einem Stück gegossenen Gehäuse nichts anhaben, eventuell
entstehende Dellen können ausgeschlagen werden, und es rostet nicht.
(Manufactum Katalog, Frühjahr 2002)
1
1.1
Einleitung
Die Texte (1), (2) und (3) sind Ausschnitte aus literarischen Texten. Es handelt sich
um einen Ausschnitt aus »Die erst Histori von Dil Ulenspiegel« eines unbekannten
Autors, sowie um die Anfänge des Romans »Der Prozeß« von Franz Kafka und des
Dramas »Frühlings Erwachen« von Frank Wedekind. Die Texte (4) und (5) sind
dagegen nicht-literarisch. Text (4) ist ein Gebrauchstext, der einem Warenkatalog
entnommen ist, es handelt sich um die Beschreibung eines Rasenmähers. Text (5)
ist ein Ausschnitt aus einem Dialog zwischen einer Mutter und ihrem zweieinhalb-
jährigen Sohn.
All diese Texte kann man sprachwissenschaftlich beschreiben, wobei es keinen
prinzipiellen Unterschied macht, aus welcher Zeit ein Text stammt; aber nur Texte
wie in (1), (2), (3) sind zugleich auch Gegenstand der literaturwissenschaftlichen
Analyse. Nur die beiden Texte (3) und (5) sind dialogisch, wobei auch hier wieder
ein Unterschied zu bemerken ist: Der erste enthält einen künstlichen Dialog, der
zweite einen authentischen Dialog. Durch die Dialogizität unterscheiden sich auch
die beiden nicht-literarischen Texte (4) und (5) voneinander.
Während sich also die Literaturwissenschaft vorwiegend mit solchen Texten
beschäftigt, die ästhetischen Charakter haben, beschäftigt sich die Sprachwissen-
schaft grundsätzlich mit allen Texten (vgl. Vater 1992, Abraham 1998). Texte mit
nicht-ästhetischem Charakter stehen dabei aber meist im Vordergrund. Und unter
diesen sind Texte mit authentischen Dialogen wie in (5) besonders wichtig. Um das
zu verstehen, muss man sich den Unterschied zwischen geschriebener Sprache und
gesprochener Sprache klar machen.
Zunächst einmal kann man beobachten, dass gesprochene Sprache lautbasiert
ist, während geschriebene Sprache schriftbasiert ist. Gesprochene Sprache wird relativ
schnell produziert, mit einer Geschwindigkeit von etwa 2,5 Wörtern in der Sekun-
de, während die Produktion von schriftlichen Texten vergleichsweise langsam ist.
In einer typischen mündlichen Kommunikationssituation sind Sprecher und Hörer
anwesend und die Rezeption der Sprecheräußerungen geschieht über das Hören.
Liest man dagegen einen Text, ist die Schreiberin nicht präsent. Das Geschriebene
ist konservierend und kann tradiert werden, während das Gehörte flüchtig ist. Man
muss es in Transkriptionen wie unter (5) aufzeichnen, um es überliefern zu können.
Korrekturen werden in gesprochener Sprache hörbar, im geschriebenen Text dagegen
sind sie normalerweise unsichtbar. Geschriebene Sprache wird in der Schule gelehrt,
gesprochene Sprache wird im natürlichen Erstspracherwerb erlernt. Es gibt durch-
aus Sprachen ohne Schriftkultur, aber eine Sprache existiert nur dadurch, dass sie
gesprochen wird oder wenigstens gesprochen wurde.
All die genannten Unterschiede zeigen, dass die gesprochene Sprache gegenüber
der geschriebenen Sprache primär ist. Und daher kommt es, dass sich Linguisten
mit besonderem Interesse der gesprochenen Sprache zuwenden, und in Bezug auf
geschriebene Texte auch Gebrauchstexte berücksichtigen, denn diese sind in ihren
kommunikativen Funktionen der gesprochenen Sprache näher als literarische Texte.
Das Primat der gesprochenen Sprache gegenüber der geschriebenen Sprache bedeu-
tet übrigens nicht, dass Letztere für die Linguistik unwichtig wäre. Die Linguistik
untersucht auch das Schriftsystem, die Graphematik, die Teil des grammatischen
Systems ist.
Die Texte in (1) bis (5) kann man – mit etwas Wohlwollen gegenüber (1) – als
deutsche Texte identifizieren. Außer Deutsch kennen die meisten von uns noch zwei
2
1.2
Sprache als soziales Phänomen
bis drei Fremdsprachen. Aber dass es ungefähr 5.500 Sprachen auf der Welt gibt,
die man im Prinzip alle lernen könnte, macht man sich selten klar (vgl. Voegelin/
Voegelin 1977, Comrie 1987 und Moseley/Asher 1994). Für uns scheint es ganz
selbstverständlich, dass der Mensch eigentlich nur eine Sprache perfekt lernen kann,
die er als Kind erwirbt (zum Spracherwerb s. Kap. 7).
Weil das so ist, haben Forscher/innen immer wieder darüber nachgedacht, ob
es nicht für alle Sprachen der Welt gemeinsame Eigenschaften geben muss. Solche
gemeinsamen Eigenschaften nennt man auch Universalien. Zum Beispiel weisen
wohl die meisten Sprachen der Welt verschiedene Satztypen wie z. B. Deklarativsatz
(Aussagesatz), Interrogativsatz (Fragesatz) und Imperativsatz (Aufforderungssatz) auf.
Dies lässt sich dadurch erklären, dass die Sprechakte, die sich mit diesen Satztypen
realisieren lassen, in der Kommunikation aller Menschen eine fundamentale Rolle
spielen. Während dies eine funktionale Begründung von Universalien ist, weil sie auf
die Zwecke abzielt, mit denen man Sprache verwendet, gibt es auch Erklärungen
von Universalien, die auf die gleiche biologische Ausstattung des Menschen abzielen.
Solche Erklärungsansätze identifizieren oft die möglicherweise angeborene Fähigkeit
zum Erwerb einer Sprache, die den Menschen ja von den Tieren unterscheidet, mit
der sog. Universalgrammatik (vgl. Pinker 1996).
Wenn wir von ›Deutsch‹ reden, meinen wir immer die deutsche Standardspra-
che. Unter der Standardsprache ist die überregionale, normierte und schriftsprachlich
basierte Sprachform zu verstehen, die durch das Bildungssystem vermittelt wird. Die
Norm betrifft vor allem die Bereiche Grammatik, Aussprache und Rechtschreibung.
Dagegen sind die Dialekte regional gebunden und unterliegen keiner besonderen
Normierung. Dialekte weisen Ähnlichkeit mit der Standardsprache auf, so dass
Sprecher/innen der Standardsprache die Dialektsprecher mehr oder minder gut
verstehen können und umgekehrt. Außerdem sprechen viele Sprecher/innen neben
der Standardsprache auch einen Dialekt. Sowohl die Standardsprache als auch die
Dialekte werden in der germanistischen Linguistik untersucht.
3
1.2
Einleitung
Als eine Varietät wollen wir die Jugendsprache betrachten. Die Jugendsprache ist
offensichtlich eine Sprech- oder Schreibweise von Jugendlichen, die zur sozialen Ab-
grenzung gegen andere Jugendliche oder gegen Erwachsene und damit der Ausbildung
einer eigenen, gruppenspezifischen Identität dient. So kann man in der Jugendsprache
wieder verschiedene Subvarietäten identifizieren, je nachdem, zu welcher ›Szene‹ die
jugendlichen Sprecher gehören.
Elemente der Jugendsprache lassen sich auf verschiedenen Ebenen des
Sprachsystems und der Sprachverwendung nachweisen, z. B. im Wortschatz, bei der
Wortbildung und in der Phraseologie, bei bestimmten syntaktischen Mustern und
im Diskurs (vgl. Androutsopoulos 1998, dem die folgenden Beispiele entnommen
sind). Zum Beispiel gehören Verben wie anmachen, angraben, anbaggern, andröhnen,
anlabern, anknipsen zum jugendsprachlichen Wortfeld ›jd. ansprechen‹. Man sieht
hier auch, wie ein bestimmtes Wortbildungsmuster, nämlich an+Verb, ausgenutzt
wird. Genauso ist das Muster auf –er(ei) wie zum Beispiel in Ablästerei, Abripperei,
Laberei, Wichserei, Klugscheißerei, Prollerei sehr aktiv. Bestimmte Verbindungen von
Adjektiv und Nomen wie fetter Sound, geile Mucke, cooler Schlitten, korrekter Preis,
miese Ratte, arrogantes Arschloch sind wie Redewendungen fest gespeichert. Viele
Ausdrücke, die in der Standardsprache nur als Nomen verwendet werden können,
werden in der Jugendsprache zu flexionslosen Adjektiven, z. B. du hast völlig panne
argumentiert oder weil sie nicht so scheiße abgehoben rüberkommen. Gespräche
können eröffnet werden durch bestimmte Anredeformeln wie zum Beispiel hey Boris
Mann, hey Mann Alter, na du Schnulli.
Allerdings ist es nicht ganz einfach, die Jugendsprache genau zu beschreiben
und von der Standardsprache abzugrenzen. Dies hat verschiedene Gründe. Zunächst
ist es nicht so, dass jeder Jugendliche auch Jugendsprache spricht. Dann gibt es aber
auch vielfältige Überlappungen mit anderen Varietäten, zum Beispiel der Sprache
der Werbung, die sich den emotionalen Charakter und die Innovativität der Jugend-
sprache gerne zunutze macht. Außerdem unterliegt die Jugendsprache einem raschen
Wandel. Gerade deshalb ist sie sehr interessant für die Untersuchung des allgemeinen
Sprachwandels.
Selbst wenn ein Jugendlicher Jugendsprache spricht, so wird er dies nicht in
allen Kommunikationssituationen tun. Zum Beispiel wird er Jugendsprache nicht
in der Kommunikation mit dem Pfarrer oder der Polizei verwenden. Vielmehr
wird er hier ein anderes Register benutzen. Unter einem Register versteht man eine
Sprech- oder Schreibweise, die charakteristisch für einen bestimmten Kommuni-
kationsbereich ist.
Dass soziale Aspekte die Sprache beeinflussen, lässt sich auch an den Perso-
nenbezeichnungen sehen. Ein Ausdruck wie Pilot hat ein bestimmtes grammatisches
Geschlecht (Genus), das sich bei der Kombination mit dem Artikel zeigt: der Pilot.
Durch den Ausdruck der Pilot kann man sich auf jeden Fall auf ein männliches Le-
bewesen (biologisches Geschlecht, Sexus) beziehen. Will man sich eindeutig auf eine
Frau beziehen, muss man den Ausdruck ›movieren‹, das heißt, ein -in anhängen: die
Pilotin. Schwierig wird es in Fällen wie Der Pilot des Airbus 913 wird gebeten, zum
Ausgang zu kommen. Nach einer Meinung kann sich hier der Pilot auch auf eine
Frau beziehen (dann wird der Ausdruck ›generisch‹ verwendet), nach einer anderen
Meinung nicht. In jedem Fall legt eine sozial begründete, stereotypische Vorstellung
über Geschlechterrollen (›Gender‹) nahe, dass es sich eher um einen Mann handelt.
4
1.3
Sprache als historisches Phänomen
5
1.4
Einleitung
Im Dativ gab es noch kein Reflexivpronomen und deshalb musste sie die Personal-
pronomen im (ihm) und ir (ihr) auch dann verwenden, wenn sich Pronomen und
Bezugswort im selben Satz befanden. Dies ist in (7b und c) illustriert. In diesem Kon-
text wurde oft das Wort selber hinzugefügt, um anzuzeigen, dass das Bezugswort des
Personalpronomens im selben Satz zu finden ist. Dies hat wiederum im Englischen
zur Entstehung der Ihnen bekannten Reflexivpronomen herself, himself und itself
geführt. Im Deutschen setzte sich dagegen das Reflexivpronomen sich im Laufe der
Zeit auch im Dativ durch.
Diese Beispiele illustrieren, dass sich Sprachen im Lauf der Zeit ändern. Sprach-
wandel ist auf allen Ebenen der Grammatik, die wir in diesem Buch noch eingehender
vorstellen werden, zu finden: auf der Ebene der Aussprache, des Wortschatzes, des
Satzbaus, der Bedeutung und auch des Gebrauchs.
Mit dem Phänomen des Sprachwandels befasst sich die historische Sprach-
wissenschaft, die nicht nur frühere Sprachstufen einer Sprache beschreibt, sondern
auch versucht, zu beantworten, wie und warum sich Sprachen überhaupt wandeln.
Von Generation zu Generation kommt es zu kleinen und manchmal auch größeren
Veränderungen, die im Lauf der Zeit dazu führen, dass uns frühere Sprachstufen
unserer Muttersprache wie zum Beispiel das Althochdeutsche wie eine Fremdsprache
vorkommen. Diese Veränderungen können durch externe Faktoren ausgelöst wer-
den. Dazu gehört unter anderem der Einfluss einer benachbarten Sprache auf eine
andere. Sie können aber auch durch interne Faktoren, die sich aus der Grammatik
einer Sprache ergeben, ausgelöst werden. So kann zum Beispiel eine unwesentliche
lautliche oder morphologische Veränderung eine ganze Reihe weiterer Veränderungen
auslösen (zum Sprachwandel s. Kap. 8).
6
1.4
Sprache als biologisches Phänomen
in den ersten drei Monaten wieder erholt. Danach sinkt die Genesungsrate und viele
Patienten bleiben auch langfristig sprachbehindert.
Man geht davon aus, dass eine der beiden Hälften des Großhirns, der sog.
Hemisphären, bei bestimmten Gehirnfunktionen mehr oder minder dominant ist.
Die Frage ist, ob sich die Dominanz der Hemisphären auch in Bezug auf sprachliche
Funktionen nachweisen lässt. Durch das Studium von Aphasien hat man erste Indizien
für die Arbeitsteilung zwischen den Großhirnhälften.
Die Klassifikation der Aphasien ist nicht ganz einfach, weil sich medizinische
Symptome nur schwer zu bestimmten Syndromen zusammenfassen lassen. Im Allge-
meinen unterscheidet man aber drei Arten der Aphasie, die Broca-Aphasie (expressive
Aphasie), die Wernicke-Aphasie (rezeptive Aphasie) und die globale Aphasie.
Die Broca-Aphasie ist nach dem französischen Chirurgen Paul Broca (1824–
1880) benannt. Der klassische Ort der Läsion bei dieser Aphasieform ist das sog.
Broca-Zentrum und seine Umgebung. Patienten mit Broca-Aphasie bzw. expressiver/
motorischer Aphasie sprechen meist auffällig langsam und stockend. Die Artikulation
ist gestört, die Patienten sprechen im ›Telegrammstil‹ und sind unfähig zu komple-
xen syntaktischen Konstruktionen; einzelne Wörter werden häufig wiederholt. Das
Sprachverstehen der Patienten ist aber deutlich weniger eingeschränkt. Unter (8) sieht
man einen typischen Interview-Ausschnitt (Keller/Leuninger 1993, 221):
(8) I: Was machen Sie denn, wenn Sie nach Hause kommen?
P: Nur auftehn, un hier äh Betten un hier Kaffee un un hier immer so helfen, arbeiten
hier … un immer hier immer mittag Arbeit, ich weiß nich, das is so schlimm zählen,
das genau … Frau B. … ne, Frau L. gut, is gut, auch Arbeit immer… un eins, zwei hier
so hier so Rek, Brett un das so hier so, un hier so Kartoffel un Rüben un alles, alles gut
… so is gut … Heinrich auch selber koch, Heinrich prima Essen, ja, nit Mann, gar nit
Mann, un aber Heinrich is gut.
Die Wernicke-Aphasie ist nach dem deutschen Neuropsychiater Carl Wernicke (1848–
1905) benannt. Der klassische Ort der Läsion bei dieser Aphasie ist das Wernicke-
Zentrum. Patienten mit Wernicke-Aphasie bzw. sensorischer/rezeptiver Aphasie haben
eine flüssige Sprachproduktion. Die Artikulation ist nicht behindert, doch kommt es zu
unvermuteten Pausen. Die Äußerungen der Patienten enthalten viele stereotype Muster,
unverständliche Sequenzen, Fehler bei der Auswahl von Wörtern und Lauten. Das
Sprachverstehen der Patienten ist erheblich beeinträchtigt. Unter (9) finden Sie ein Beispiel
für die Sprache eines Patienten mit Wernicke-Aphasie (Keller/Leuninger 1993, 221 f.):
(9) I: Sie waren doch Polizist, haben Sie mal einen festgenommen?
P: Naja … das ist so … wenn Sie einen treffen draußen abends … das ist ja … und der Mann
… wird jetzt versucht … als wenn er irgendwas festgestellen hat ungefähr … ehe sich macht
ich … ich kann aber noch nicht amtlich … jetzt muss er sein Beweis nachweisen … den
hat er nicht … also ist er fest … und wird erst sichergestellt festgemacht … der wird erst
festgestellt werden und dann wird festgestellt was sich dort vorgetragen hat … nicht …
erst dann … ist ein Beweis mit seinem Papier dass er nachweisen kann … ich kann ihm
aber nicht nachweisen … wird aber bloß festgestellt vorläufig … aber er kann laufen.
Bei der globalen Aphasie entsprechen die Symptome der kombinierten schweren
Broca- und Wernicke-Aphasie. Fast alle Aspekte der gesprochenen und geschriebenen
Sprache sind betroffen; die Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit der Patienten
ist minimal.
7
1.5
Einleitung
Broca und Wernicke ist durch ihre Forschungen die grobe Lokalisation des menschli-
chen Sprachzentrums gelungen. Allerdings ist der Sitz des Sprachzentrums bei Rechts-
und Linkshändern verschieden verteilt. Bei etwa 95 % der Rechtshänder und etwa
60 % der Linkshänder sitzt es in der linken Hemisphäre. Was die Erforschung der
Hemisphären-Dominanz kompliziert macht, ist die Tatsache, dass es auch ›gemischte
Dominanz‹ gibt; zum Beispiel gibt es Menschen, bei denen Rechtshändigkeit, Linksfü-
ßigkeit und Rechtsäugigkeit kombiniert vorkommt. Die Theorie, nach der bestimmte
Gehirnfunktionen in bestimmten Teilen des Gehirns zu lokalisieren sind, bezeichnet
man als Theorie der ›zerebralen Lokalisation‹. Es ist auch die Gegentheorie vertreten
worden, derzufolge alle Gehirnbereiche an allen Funktionen zugleich beteiligt sind;
diese Theorie heißt die Theorie der ›Äquipotenzialität‹. Gegen die Lokalisationstheorie
scheint zu sprechen, dass es Patienten mit anscheinend identischen Läsionen, aber
völlig voneinander abweichenden Sprachstörungen gibt. Umgekehrt können Läsio-
nen in unterschiedlichen Gehirnbereichen ganz ähnliche Sprachstörungen zur Folge
haben. Es gibt auch Patienten, deren Broca- und Wernicke-Zentrum intakt ist, die
aber dennoch beeinträchtigte Sprachfähigkeiten haben. Schließlich können manche
Patienten ihr Sprachvermögen behalten, obgleich ihr Broca- und Wernicke-Zentrum
entfernt wurde. Solche Beobachtungen haben zu der Hypothese geführt, dass neben
den Broca- und Wernicke-Zentren auch noch andere neuronale Bereiche an der
Sprachverarbeitung beteiligt sein müssen.
8
1.5
Sprache als kognitives Phänomen
des einen Ansatzes gehen davon aus, dass die Sprache genauso wie zum Beispiel das
Sehen und das Hören ein eigenständiges kognitives System mit eigenen Gesetzmä-
ßigkeiten (ein sog. Modul) bildet. Das Sprachsystem besteht zudem selbst wiederum
aus verschiedenen Teilmodulen. Zu diesen Teilmodulen gehören unter anderem die
Phonologie, die die Lautung betrifft, die Morphologie, die die Wortstruktur betrifft,
die Syntax, die die Satzstruktur betrifft, und die Semantik, die die Bedeutung von Wör-
tern und Sätzen betrifft. Diese Teilsysteme (die in den einzelnen Kapiteln dieses Buchs
ausführlich beschrieben werden) können genauso wie die Interaktion der einzelnen
Teilsysteme untereinander und mit anderen kognitiven Systemen wie dem Sehen und
Hören gesondert untersucht werden. Es ist allerdings nicht immer einfach, eine klare
Trennlinie zwischen den Teilsystemen zu ziehen. Der modulare Ansatz entspricht der
im vorherigen Abschnitt vorgestellten Theorie der ›zerebralen Lokalisation‹.
Die holistische Gegentheorie, die der Theorie der ›Äquipotenzialität‹ entspricht,
besagt, dass es allgemeine Prinzipien gibt, die allen kognitiven Fähigkeiten zugrunde
liegen. Die Sprache und die ihr eigenen Module bilden nach dieser Hypothese kein
eigenständiges kognitives System. Vielmehr funktionieren sie nach denselben Prinzi-
pien wie alle anderen kognitiven Fähigkeiten auch.
Im Gegensatz zur traditionellen Linguistik interessiert sich die kognitive
Linguistik nicht nur für den strukturellen Aufbau des Sprachsystems, sondern auch
dafür, wie die Sprachfähigkeit erworben und wie sie angewandt wird. Damit stehen
die folgenden drei Fragen im Mittelpunkt einer kognitiv ausgerichteten Linguistik
(vgl. Schwarz 1992):
(i) Worin besteht die (spezifische) Sprachkenntnis eines Menschen?
(ii) Wie erwirbt er diese Sprachkenntnis?
(iii) Wie wendet er diese Sprachkenntnis an?
Wie die Sprachkenntnis eines Sprechers, der Deutsch als Muttersprache hat, beschaffen
ist und wie sie erworben wird, wird in diesem Buch noch ausführlich behandelt (s. Kap.
7). Was man sich unter der dritten Frage vorzustellen hat, soll kurz an einigen Bei-
spielen erläutert werden. Psycholinguistische Untersuchungen der Sprachverarbeitung
können in zwei Teilbereiche unterteilt werden: Analysen der Sprachproduktion und
Analysen der Sprachrezeption. Eine Möglichkeit, Einblick in den Prozess der Sprach-
produktion und in den Aufbau unseres Sprachproduktionssystems zu erhalten, sind
Versprecher. Ein Versprecher ist die unbeabsichtigte sprachliche Fehlleistung eines
gesunden Sprechers. Die folgenden Beispiele sind Leuninger (1998) entnommen:
(10) a. Schlecken Sie den Stüssel ins Loch. q Stecken Sie den Schlüssel ins Loch.
b. Unser Stirbchen bäumt. q Unser Bäumchen stirbt.
c. Wir waren Pilze fangen. q Wir waren Pilze sammeln.
In (10a) liegt ein phonologischer Versprecher vor. Zwischen dem ersten und vierten
Wort (stecken und Schlüssel) wurden die beiden Laute vor dem ersten Vokal ver-
tauscht. In (10b) handelt es sich um einen morphologischen Versprecher. Die beiden
Wortstämme Bäum und stirb wurden vertauscht. Die dazugehörenden Endungen
-chen und -t sind von diesem Versprecher nicht betroffen. Der letzte Versprecher in
(10c) ist semantisch. In diesem Fall wurden zwei Wörter mit ähnlicher Bedeutung
(sammeln und fangen) verwechselt. Beide Wörter bezeichnen unter anderem Tätigkei-
ten des Nahrungserwerbs. Die Beispiele in (10) zeigen, dass im Sprachproduktions-
9
1.6
Einleitung
Die meisten Menschen müssen Satz (11), in dem die korrekte Interpunktion absichtlich
weggelassen wurde, mindestens zweimal lesen, um ihn richtig zu verstehen. Woran
liegt das? Sobald sie das Wort trinkt hören, erwarten sie, dass nun Subjekt und Objekt
des Verbs kommen (›Wer trinkt was?‹). Deshalb werden die Frau und die Limonade
sofort als Subjekt bzw. Objekt von trinkt gedeutet, obwohl man sich eigentlich, wie
(11) zeigt, nicht sicher sein kann, dass dies immer die richtige Interpretation ist. In
(11) hat man dann auch das Problem, dass sich nach dieser Vorentscheidung der Rest
des Satzes nicht mehr integrieren lässt. Deshalb bleibt einem nichts anderes übrig,
als mit der Interpretation des Satzes noch einmal von vorne anzufangen. Im zweiten
Anlauf, in dem man etwas schlauer geworden ist, interpretiert man die Limonade
nicht mehr als Objekt von trinkt. Stattdessen wird der Artikel die als Relativpronomen
interpretiert und Limonade als artikelloses Objekt des zweiten Verbs verabscheut.
Die Beispiele in (12) zeigen, dass vergleichbare Sätze keine Probleme bereiten, wenn
die Objektinterpretation entweder durch eine veränderte Wortstellung oder durch
ein Relativpronomen mit einem anderen Genus blockiert ist.
(12) a. Die Frau, die Limonade schon immer verabscheut hat, trinkt jetzt.
b. Jetzt trinkt der Mann, der Limonade schon immer verabscheut hat.
In diesem Fall wird unser Sprachrezeptionssystem nicht auf einen Holzweg geführt
(man nennt Sätze wie (11) auch Holzwegsätze).
10
1.7
Zum Nutzen der Linguistik
11
1.8
Einleitung
12
1.8
Literatur
Literatur
Abraham, Werner (1998): Linguistik der uneigentlichen Rede. Linguistische Analysen an den Rändern
der Sprache. Tübingen: Stauffenburg.
Androutsopoulos, Jannis K. (1998): Deutsche Jugendsprache. Untersuchungen zu ihren Strukturen
und Funktionen. Frankfurt a.M.: Lang.
Artelt, Cordula/Stanat, Petra/Schneider, Wolfgang/Schiefele, Ulrich (2001): Lesekompetenz. Test-
konzeption und Ergebnisse. In: Baumert, Jürgen et al. (Hgg.): PISA 2000. Basiskompetenzen
von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske+Budrich, 69–137.
Becker-Mrotzek, Michael et al. (Hgg.) (2000): Linguistische Berufe: ein Ratgeber zu aktuellen lin-
guistischen Berufsfeldern. Frankfurt a.M.: Lang.
Behaghel, Otto (1923): Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. Bd. 1. Die Wortklassen
und Wortformen. Heidelberg: Winter.
Bußmann, Hadumod (1995): Das Genus, die Grammatik und – der Mensch: Geschlechterdifferenz
in der Sprachwissenschaft. In: Bußmann, Hadumod/Hof, Renate (Hgg.) (1995): Genus. Zur
Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart: Kröner, 115–160.
13
1.8
Einleitung
14
2.1
2.1 | Lexikon
2.1.1 | Wortschatz
Keine menschliche Sprache kommt ohne Wörter aus, und keine sprachliche Einheit
genießt so viel öffentliches Interesse wie das Wort. So werden »Wörter des Jahres«
gewählt, aber auch »Unwörter des Jahres«. Jeder kennt einige Wörter, die ihm merk-
würdig vorkommen: veraltete (hochachtungsvoll, Knabe) oder völlig neue Wörter
(Handy, taff), Wörter aus dem Dialekt (Plinse ›Pfannkuchen‹, Jeck ›Verrückter‹) oder
aus fremden Sprachen (viszeral, Karaoke), Wörter aus sozialen Gruppen (zeitnah,
(voll) krass) oder Wörter, die Kinder gebildet haben (abzangen ›mit der Zange ab-
machen‹).
Über den großen Bestand an Wörtern, die zu unserer Sprache gehören, denken
wir oft gar nicht nach. Dies ist höchstens dann der Fall, wenn wir aus einer Fremd-
sprache ins Deutsche übersetzen wollen oder umgekehrt. Dabei hat der Wortschatz
erstaunliche Eigenschaften. Zunächst einmal kann man alleine über seine Größe stau-
nen. Den Umfang des allgemeinen Wortschatzes schätzt man auf 300.000 bis 400.000
Wörter. Dazu werden umgangssprachliche, aber auch fach- und gruppensprachliche
Wörter gerechnet. Für den in Grammatiken und Wörterbüchern kodifizierten Wort-
schatz nimmt man einen Umfang von 150.000 bis 180.000 Wörtern an.
Wie viele Wörter davon von dem einzelnen Sprecher aktiv oder passiv be-
herrscht werden, kann nur geschätzt werden. Es sind wohl zwischen 50.000 und
250.000 Wörter; dabei muss man bedenken, dass die Wortschatzkenntnis bei ein-
zelnen Sprechern erheblich voneinander abweichen kann. Außerdem ist es so, dass
der passive Wortschatz (die Wörter, die ich verstehe) um ein Vielfaches größer sein
dürfte als der aktive Wortschatz (die Wörter, die ich benutze). Der Kernwortschatz,
d. h. der Wortschatz, der keine Zusammensetzungen und Ableitungen enthält, soll
bis zu 10.000 Grundwörter enthalten.
Unser Staunen wächst noch, wenn wir bedenken, dass jeder Einzelne von uns
im Lauf seiner eigenen Sprachentwicklung eine große Portion dieser Wörter erlernt.
Bis zum Alter von ungefähr 6 Jahren erwerben Kinder einen produktiven Wortschatz
von etwa 14.000 Wörtern. Zwischen 10 und 14 Jahren kommen noch einmal jährlich
3.000 Wörter hinzu. Und selbst Erwachsene bauen ihren Wortschatz noch weiter aus.
15
2.1
Lexikon und Morphologie
16
2.1
Lexikon
17
2.1
Lexikon und Morphologie
Beispiel fällt die Nennform eines Nomens mit dem Nominativ Singular zusammen, die
Nennform des Verbs ist der Infinitiv. Die Nennform kann man sich als Abstraktion aus
der Menge der Formen eines Worts vorstellen. Sie ist sozusagen der Name für die Lexi-
koneinheit, das Lexem. In diesem Sinne gibt es nur ein Wort (Lexem) Überraschungsei.
Unter dem syntaktischen Aspekt kann man unter Wörtern die kleinsten Ein-
heiten verstehen, die verschiebbar und ersetzbar sind. Allerdings sind viele Elemente,
die ganz klar Wörter sind, z. B. Modalpartikeln wie halt, Präpositionen wie auf und
Konjunktionen wie oder in ihrer Verschiebbarkeit und Ersetzbarkeit sehr stark einge-
schränkt. Im Übrigen gelten diese Kriterien auch für Phrasen, also größere syntaktische
Baueinheiten, die oft mehr als ein Wort enthalten (s. Kap. 3.4.2).
Unter dem semantischen Aspekt sind Wörter selbstständige Bedeutungsträger.
Gebundene Morpheme wie z. B. -lich oder be- leisten zwar auch einen Bedeutungsbei-
trag, aber sie tun dies in unselbstständiger Weise. Problematisch für dieses Kriterium
ist, dass es einige Wörter gibt, die anscheinend keine Bedeutung aufweisen. Dazu
gehört das Wort zu in Fritz ist schwer zu überzeugen oder das Wort es in Es ritten
drei Reiter zum Tor hinaus.
18
2.1
Lexikon
damit korrekte Sätze entstehen. Man kann sich nun einerseits vorstellen, dass im Le-
xikoneintrag nur Hinweise auf Flexionsparadigmen (d. h. die Menge der Wortformen
eines Worts) stehen, die eigentliche Entstehung flektierter Formen aber ein eigener,
lexikonunabhängiger Prozess ist. Anderseits könnte man annehmen, dass sämtliche
zulässige Flexionsformen bereits fertig im Lexikon stehen, was das Lexikon enorm
vergrößern würde. Wir werden auf diese schwierige Frage, die mit der genauen
Abgrenzung von Morphologie, Syntax und Lexikon zu tun hat, nicht mehr weiter
eingehen (vgl. Stump 1998).
Wortartige Gebilde, die auf Wortbildungsprozesse zurückgehen, sind die Ab-
kürzungen (ABM ›Arbeitsbeschaffungsmaßnahme‹), Kürzungen (Prof ›Professor‹) und
Akronyme (DIN ›Deutsche Industrienorm‹). Diese Gruppe ist durch vielfache Über-
gänge und Untertypen gekennzeichnet (vgl. Kobler-Trill 1994, Rothstein 2009a). Aber
dies ist kein Grund, sie vom Lexikon auszuschließen. Sie unterliegen wie andere Wörter
syntaktischen Prozessen und sie sind zweifellos auch im mentalen Lexikon registriert.
Darüber hinaus gibt es Lexikoneinheiten, die größer als das Wort sind. Der
Grund dafür ist, dass die Bedeutung dieser Einheiten sich nicht kompositionell aus
den Bedeutungen ihrer Teile ergibt, wie das für Phrasen gilt. Daraus folgt auch, dass
diese Einheiten von Sprachlernern als Ganzes gelernt werden müssen; eine Variation
der Bestandteile ist meistens gar nicht oder jedenfalls nur in bestimmten Grenzen
möglich. Der wichtigste Fall sind sicherlich die Idiome (Phraseologismen), wie zum
Beispiel sich zwischen alle Stühle setzen oder das geht mir am Arsch vorbei.
Schließlich sind die Kollokationen zu nennen. Dazu gehören Konstruktionen
wie z. B. eingefleischter Junggeselle, blonde Haare oder bitter nötig. In solchen Paa-
ren besteht eine semantische Abhängigkeit der Elemente voneinander. Zum Beispiel
kann bei eingefleischt ___ nur eine Personenbezeichnung eingesetzt werden; ohne
diesen Bezug auf eine Personenbezeichnung wüsste man gar nicht, was eingefleischt
bedeuten soll. Kollokationen sind insgesamt nicht gut untersucht, aber es gibt gute
Gründe, sie als Lexikonelemente zu betrachten.
Gleiches lässt sich von den lexikalisierten metaphorischen Wendungen wie
zum Beispiel die Talsohle noch nicht durchschritten haben oder Licht am Ende des
Tunnels sehen sagen. Diese kommen als feste Redewendungen in der Politiker- und
Zeitungssprache regelmäßig vor und werden vermutlich von Leserinnen im mentalen
Lexikon als Ganzes gespeichert.
3. Das Lexikon ist in sich strukturiert. Eine intuitiv einsichtige Struktur ist das le-
xikalische Feld (oder Wortfeld), auf das wir oben schon hingewiesen haben. Zum
Beispiel haben die Verben schlenzen, donnern, spitzeln, flanken, köpfen gemeinsam,
dass sie zum lexikalischen Feld ›Ballbewegungen im Fußballspiel‹ gehören. Die Be-
deutungen der einzelnen Feldelemente werden meist mit Hilfe semantischer Merkmale
voneinander abgegrenzt (s. Kap. 5.3.3). So lassen sich die Wörter Mädchen, Junge,
Mann, Frau allein durch die Merkmale [+/-weiblich], [+/-erwachsen] voneinander
unterscheiden. Bei der Rekonstruktion von lexikalischen Feldern macht man von
Sinnrelationen Gebrauch. Sinnrelationen sind Beziehungen zwischen Wortbedeu-
tungen wie zum Beispiel Synonymie oder Hyperonymie/Hyponymie (s. Kap. 5.3.2).
Die Elemente in einem lexikalischen Feld sind normalerweise nicht synonym, d.h. sie
unterscheiden sich in mindestens einem Merkmal. Außerdem sind sie durch die Hy-
peronymie/Hyponymie-Relation hierarchisch geordnet. Zum Beispiel ist im Wortfeld
19
2.1
Lexikon und Morphologie
20
2.2
Flexion
im Finale, und gegen die Versitzplatzung des Weserstadions mussten wir erst auf die
Barrikaden gehen. So geht der Fußball vor die Hunde.
Versitzplatzung ist sicher ein Wort, das Leser/innen als neu empfinden. Inwiefern eine
Bildung als neu empfunden wird, ist nicht ganz einfach zu sagen. Manchmal unter-
scheidet man zwischen zwei Arten von Neubildungen, dem Neologismus als einer
(relativ) neuen Lexikoneinheit, und einem okkasionellen, nur in einer bestimmten
Situation produzierten Wort. Ob nun ein Nomen wie Versitzplatzung zur ersten oder
zweiten Kategorie gehört, ist schwer zu beurteilen. Für die Leserin mag es sich um
einen Okkasionalismus handeln, während es im Wortschatz des Fachmanns den Status
eines Neologismus hat. Es kommen hier also soziolinguistische und etymologische
Aspekte ins Spiel.
Dem Neuheitsempfinden auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite
das Gefühl, ein Wort sei bereits veraltet, ungebräuchlich oder ausgestorben. Dies gilt
zum Beispiel für Bildungen wie instandbesetzen, Negerkuss und Teppichstange. ECU,
die Bezeichnung für die europäische Währung, wurde schon bald von Euro abgelöst.
Solche Beispiele zeigen, dass nicht alle Neubildungen auch die Chance bekommen,
Bestandteil des Lexikons zu werden.
Neben der Neubildung gibt es noch weitere Prozesse, die der Erweiterung des
Lexikons dienen. Hier sind vor allem die Entlehnungen zu nennen, die heute vorwie-
gend aus dem Englischen, aber auch aus anderen Sprachen kommen. Beispiele für
Entlehnungen aus dem Englischen sind die Nomen Kids, Airbag, Card, die Adjektive
hip, cool, taff, die Verben zappen, puschen, covern und die Interjektion ups. Aus
dem Japanischen kommt Karaoke. Sehr selten kommen Urschöpfungen vor. Unter
Urschöpfungen versteht man Wörter, die ohne Vorbild sind, z. B. die Interjektion
doing oder manche Produktnamen. Alle diese Verfahren, seien es Neubildungen,
Entlehnungen oder Urschöpfungen, dienen der Erweiterung des Lexikons.
2.2 | Flexion
2.2.1 | Wort und Wortform
Wörter kommen gewöhnlich als Baueinheiten von Sätzen vor. Zum Beispiel kann das
Wort Schuh in den folgenden Sätzen vorkommen:
(1) a. Deine neuen Schuhe gefallen mir gar nicht.
b. Dein linker Schuh sitzt besser als der rechte.
c. Die Schnürsenkel des rechten Schuhs sind locker.
21
2.2
Lexikon und Morphologie
Es handelt sich immer um die gleiche Lexikoneinheit Schuh, aber die Formen des
Wortes sind jeweils verschieden. In (1a) handelt es sich um den Nominativ Plural, in
(1b) um den Nominativ Singular, in (1c) um den Genitiv Singular. In Sätzen kommen
also immer Wortformen vor. Eine ganz bestimmte Wortform, und zwar die des No-
minativ Singular, ist bei Nomen zugleich die Nennform der Lexikoneinheit.
Eine Wortform wie Schuh+e ist komplex. Das Element -e ist ein Flexionselement.
Die Bildung der Wortformen eines Worts nennt man Flexion, die Menge der Wortformen
eines Worts sein Flexionsparadigma. So umfasst das Flexionsparadigma eines Nomens
acht Wortformen, die sich durch den Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) und
den Numerus (Singular, Plural) ergeben. Nicht jede Wortform muss dabei durch ein
eigenes Flexionselement gekennzeichnet sein, vgl. die Schuhe mit der Schuhe.
Wortformen unterscheiden sich in ihren Flexionsmerkmalen oder grammati-
schen Merkmalen (vgl. Thieroff/Vogel 2012). Diese kann man zu Merkmalklassen
zusammenfassen.
(2) Merkmalklassen und Merkmale
Merkmalklasse Merkmale
Numerus Singular, Plural
Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum
Person 1. Person, 2. Person, 3. Person
Kasus Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ
Tempus Präsens, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt, Futur I, Futur II
Modus Indikativ, Imperativ, Konjunktiv I, Konjunktiv II
Genus verbi Aktiv, Passiv
Komparation Positiv, Komparativ, Superlativ
Nicht alle Wortarten sind von der Flexion betroffen. Es gibt eine Gruppe von Wort-
arten, die ›Unflektierbaren‹, die prinzipiell nicht flektiert werden können. Dazu
gehören Konjunktionen (z. B. und, aber), Präpositionen (z. B. auf, zwischen), Grad-
partikeln (z. B. sogar, nur), Modalpartikeln (z. B. halt, schon), Adverbien (z. B. sehr,
hoffentlich), Interjektionen (z. B. au, pst) und Inflektive (würg, ächz) (vgl. Bücking/
Rau 2013). Betroffen von der Flexion sind das Nomen, das Pronomen, der Artikel,
das Verb und das Adjektiv.
Die folgende Tabelle zeigt für das Nomen, den Artikel, das Pronomen, das
Adjektiv und das Verb, welche Merkmalklassen auf sie zutreffen:
(3) Wortarten und Merkmalklassen
Wortarten Merkmalklassen
Nomen, Artikel, Pronomen Kasus, Numerus, Genus
Adjektiv Kasus, Numerus, Genus, Komparation
Verb Person, Numerus, Modus, Tempus, Genus verbi
Die Flexion muss man von der Wortbildung unterscheiden. Wenn man in der Wort-
bildung von komplexen Wörtern redet, meint man immer komplexe Wörter in ihrer
Nennform. Sowohl die Wortbildungstheorie als auch die Flexionstheorie befassen sich
mit der Struktur von Wörtern. Die Theorie über den Strukturaufbau von Wörtern
heißt Morphologie.
22
2.2
Flexion
(4) Morphologie
Flexion Wortbildung
Im Weiteren gehen wir zunächst auf die Flexion ein, bevor wir uns mit der Wortbil-
dung beschäftigen.
23
2.2
Lexikon und Morphologie
Die Verteilung dieser Flexionstypen auf den vorhandenen nominalen Wortschatz ist
nicht gleich. So deklinieren 90 % aller einfachen Maskulina und 70 % aller Neutra
nach dem angegebenen Muster für starke Maskulina und Neutra.
Woran erkennt man, ob ein Maskulinum nun stark oder schwach ist? Verglei-
chen wir die Flexionsparadigmen für der Tisch mit dem für der Bär. Runde Klammern
zeigen an, dass das betreffende Element stehen kann, aber nicht muss:
(8) Flexionsparadigmen für Tisch und Bär
Singular Plural Singular Plural
Nominativ Tisch Tisch+e Bär Bär+en
Genitiv Tisch+es Tisch+e Bär+en Bär+en
Dativ Tisch+(e) Tisch+en Bär+(en) Bär+en
Akkusativ Tisch Tisch+e Bär+(en) Bär+en
Man sieht hier deutlich, dass die starke Deklination bei der Tisch mehr Kasus for-
mal unterscheidet als die schwache Deklination für der Bär, die nur ein einziges
Flexionselement aufweist, nämlich -en. Nimmt man bei einem solchen Vergleich der
Paradigmen noch die anderen Fälle hinzu, dann sieht man, dass besonders wichtig
ist, ob der Genitiv Singular und der Nominativ Plural auf -(e)n enden. Wenn nur der
Plural auf -(e)n endet, spricht man oft von einer gemischten Deklination.
Wozu sind solche Vergleiche gut? Sie dienen dazu, dass man etwas darüber
heraus bekommt, ob die bestehenden Paradigmen verborgenen Regeln oder Prinzipien
unterworfen sind. Eine linguistische Deutung der Flexionsparadigmen setzt meist bei
Beobachtungen über die Markiertheit von Flexionselementen ein (vgl. Wurzel 1988,
Nübling 2002). So sind zum Beispiel die Pluralformen im Vergleich zu den Singular-
formen einheitlich gekennzeichnet, wobei verschiedene Mittel der Kennzeichnung
zur Verfügung stehen: ein bestimmtes Flexionselement, seine Abwesenheit wie beim
sog. Nullplural (z. B. der Eimer, die Eimer), der Umlaut oder die Kombination eines
Flexionselements mit dem Umlaut. In diesem Sinne kann der Plural als gegenüber
dem Singular markiert gelten (s. Kap. 8.3.5).
Man ist es gewöhnt, bei der Betrachtung der Deklination Kasus und Numerus
zusammen zu behandeln. Zwischen diesen Merkmalen gibt es aber einen wichtigen
Unterschied: Während der Numerus aus semantischen Gründen gewählt wird, ist der
Kasus in der Regel von syntaktischen Bedingungen abhängig. Zum Beispiel verlangen
Verben Komplemente in bestimmten Kasus (s. Kap. 4.6).
Die Zuweisung des Genus (grammatisches Geschlecht) ist über weite Strecken
willkürlich (arbiträr): so heißt es der Tisch, die Lampe, das Bett. Eine Ausnahme
bilden die Personenbezeichnungen, bei denen Sexus (natürliches Geschlecht) und
Genus meist übereinstimmen. Allerdings sind auch gewisse Regelmäßigkeiten zu beob-
achten. Diese sind teils morphologischer Art (z. B. sind substantivierte Infinitive stets
neutral), teils lexikalisch-konzeptueller Art (z. B. sind Autobezeichnungen männlich,
Motorradbezeichnungen weiblich, vgl. der BMW/die BMW), teils phonologischer
Art (z.B. sind Wörter wie Flirt oder Trumpf, die mit Konsonantenclustern beginnen
und enden, maskulin) (vgl. Fries 2001).
Kasus, Numerus und Genus sind Merkmalklassen, die auch für die Adjektive
gelten. Daher gibt es zwischen Adjektiven und Nomen in der Nominalphrase Kon-
24
2.2
Flexion
gruenz hinsichtlich dieser Merkmale. Ausschließlich für die Adjektive, aber nicht für
Nomen gilt dagegen die Komparation. Bei der Komparation unterscheidet man drei
Stufen: Positiv, z. B. klein; Komparativ, z. B. klein+er; Superlativ, z. B. (am) klein+st(en).
Auch einige Adverbien können kompariert werden (oft, öfter, am öftesten), aber dies
sind Ausnahmeerscheinungen.
Adjektive haben mehrere Flexionsmuster. Welches gewählt wird, hängt von der
syntaktischen Umgebung ab. Wenn das Adjektiv ohne Artikel beim Nomen steht,
flektiert es stark (vgl. 9a). Wenn es nach dem bestimmten Artikel steht (oder einem
vergleichbaren Element), flektiert es schwach, vgl. (9b). Und wenn es nach dem
unbestimmten Artikel (oder einem vergleichbaren Element, z. B. kein) steht, flektiert
es gemischt, vgl. (9c).
(9) a. stark: geiler Typ, geile Party, geiles Essen; geile Partys
b. schwach: der geile Typ, die geile Party, das geile Essen; die geilen Partys
c. gemischt: ein geiler Typ, eine geile Party, ein geiles Essen; keine geilen Partys
25
2.2
Lexikon und Morphologie
Sg. Mask. Sg. Fem. Sg. Neutr. Pl. Mask., Fem., Neutr.
Nominativ dies+er dies+e dies+es dies+e
Genitiv dies+es dies+er dies+es dies+er
Dativ dies+em dies+er dies+em dies+en
Akkusativ dies+en dies+e dies+es dies+e
Sg. Mask. Sg. Neutr. Sg. Fem. Pl. Mask., Fem., Neutr.
Nominativ er es e e
Akkusativ en es e e
Genitiv es es er er
Dativ em em er en
26
2.2
Flexion
1. 2. 3. Sg. Pl. Ind. Konj. Imp. Präs. Prät. Pf. Pqpf. Fut.1 Fut. 2 Aktiv Passiv
Ein Verb ist finit, wenn es nach Person, Numerus, Modus und hinsichtlich des Tempus
Präsens oder Präteritum flektiert ist. Nur Präsensformen und Präteritumformen sind
nämlich als Ganzes flektiert. Zu den infiniten Verbformen rechnet man im Allge-
meinen den Infinitiv, das Partizip I (z. B. sehend) und das Partizip II (z. B. gesehen).
Weiter kann man zwischen Präsens Aktiv (sehen) und Perfekt Aktiv (gesehen haben)
sowie Präsens Passiv (gesehen werden) und Perfekt Passiv (gesehen worden sein)
unterscheiden. Ferner muss man zwischen dem reinen Infinitiv (sehen) und dem zu-
Infinitiv (etwa in der Unterschied ist schwer zu sehen) differenzieren.
Präsens und Präteritum sind einfache Verbformen, weil sie nur aus einer
Wortform bestehen. Anders das Perfekt (habe gesehen), das Plusquamperfekt (hatte
gesehen), das Futur (werde sehen) und das Passiv (werde gesehen): Diese Formen
bestehen immer aus zwei Elementen und werden deshalb mehrteilige (komplexe)
Verbformen genannt (Dudenredaktion 1995, 437).
Was genau zu den infiniten Formen gerechnet werden soll, ist umstritten. So rech-
net zum Beispiel Eisenberg (2006, 199) das Partizip I nicht zu den infiniten Verbformen.
Der wesentliche Grund dafür ist, dass es – im Gegensatz zum Partizip II – nicht in
analytischen Verbformen vorkommt. Für ihn ist es daher nichts anderes als ein Adjek-
tiv, das von einem Verb abgeleitet wurde. Dagegen wird der Imperativ bei Eisenberg
(2006, 202) nicht wie sonst üblich als Modus des finiten Verbs betrachtet, sondern
als infinite Form. Eisenberg nimmt nur zwei Formen des Imperativs an, nämlich die,
die man gewöhnlich als 2. Ps. Sg. (nimm!) und 2. Ps. Pl. (nehmt!) bezeichnet. Da es
andere Imperativformen nicht gebe, könne man gar nicht davon ausgehen, dass der
Imperativ nach Person markiert sei; er habe nur Adressatenbezug und sei daher infinit.
Es bleibt in diesem Ansatz aber nicht nur offen, wie die Reflexivierung in Fällen wie
Schäm *mich/dich/*sich! erklärt werden soll, auch die Einordnung des sog. Adhortativs
(Gehen wir!) und des Sie-Imperativs (Gehen Sie!) bleibt unklar (vgl. Donhauser 1986).
Daher rechnen wir den Imperativmodus zu den Modi des finiten Verbs.
Während der Imperativmodus einen bestimmten Satztyp, nämlich den Impera-
tivsatz, eindeutig markiert, ist dies bei den verbalen Modi Indikativ und Konjunktiv
nicht der Fall. Ihre Aufgabe ist es, die Faktizität oder Irrealität von Sachverhalten zu
markieren (vgl. Zifonun et al. 1997, 1722 ff.).
Im Bereich der Tempusformen muss man zwischen den Formen des Präsens
und Präteritums und den verbalen Konstruktionen des Perfekts, des Plusquamper-
fekts sowie des Futurs I und II unterscheiden. Es gibt hier einerseits die Formen, die
mit dem Hilfsverb werden + Infinitiv gebildet werden (ich werde schlafen, ich werde
geschlafen haben) und anderseits diejenigen, die mit einer Form des Präsens oder
27
2.2
Lexikon und Morphologie
Präteritums von haben oder sein + Partizip II gebildet werden. Ferner ist zwischen
starken und schwachen Verben zu unterscheiden (vgl. Zifonun et al. 1997, 1684 ff.).
Starke Verben sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im Präteritum oder Perfekt
einen anderen Vokal (Ablaut) aufweisen als im Präsens. Zum Beispiel heißt es sie trifft,
sie traf, sie hat getroffen. Die schwachen Verben weisen oft keinen Vokalwechsel
auf und bilden ihre Formen immer mit dem Element -t wie in sie spielt, sie spielte,
sie hat gespielt. Man kann die schwachen Verben heute als den unmarkierten Fall
betrachten. Dies sieht man vielleicht am deutlichsten an solchen Verben, die aus
anderen Sprachen entlehnt werden: Diese flektieren immer schwach (sie zappt, sie
zappte, sie hat gezappt). Außerdem bilden die starken Verben einen tradierten, kaum
mehr erweiterbaren Bestand.
Das Passiv wird mit einer Form des Hilfsverbs werden und dem Partizip II
gebildet. Es ist syntaktisch und semantisch auf das Aktiv bezogen. Vergleicht man
den aktivischen Satz Die Handwerker renovieren das Haus mit dem passivischen
Das Haus wird (von den Handwerkern) renoviert, so fällt auf, dass das Subjekt des
Aktivsatzes im Passivsatz zu einer (weglassbaren) Präpositionalphrase wird, während
das Akkusativobjekt des Aktivsatzes zum Subjekt des Passivsatzes wird (vgl. Zifonun
et al. 1997, 1788 ff., Eisenberg 2006, 124 ff.).
Die verbalen Merkmalklassen haben verschiedene Aufgaben. Numerus und Per-
son dienen der Markierung von Kongruenz mit dem Subjekt. Modus und Tempus sind
dagegen Merkmalklassen, die spezifisch für das Verb sind und bestimmte semantische
Eigenschaften ausdrücken. Das Genus verbi betrifft zwei mögliche Perspektiven auf
einen Sachverhalt. Man sieht daran, dass die Merkmalklassen komplexe syntaktische
und semantische Eigenschaften haben.
Dies sieht man auch bei dem Versuch, Markiertheitsverhältnisse aufzudecken.
So erläutert Eisenberg (2006, 154 f.) das Präteritum von rufen unter Bezugnahme auf
Größen wie ›Adressierung‹ und ›Schwere‹:
(14) Das Präteritum von rufen
Singular Plural
1. Person rief rief+en
2. Person rief+st rief+t
3. Person rief rief+en
Führt man nun die Unterscheidung zwischen Adressat und Nicht-Adressat ein,
ergibt sich die folgende Gliederung, in der keine Synkretismen mehr vorliegen:
(15) Das Präteritum von rufen (Darstellung ohne Synkretismen)
Singular Plural
Nicht-Adressat en
Adressat st t
Man kann daraus zum Beispiel schließen, dass die Adressatformen der 2.
Person gegenüber dem Rest besonders markiert sind. Umgekehrt kann man
argumentieren, dass die Form für Nicht-Adressat und Singular, nämlich rief,
insofern ›leicht‹ ist, als sie über keine zusätzliche flexivische Markierung verfügt.
28
2.3
Grundlagen der Wortbildung
29
2.3
Lexikon und Morphologie
Derivationsaffix Flexionsaffix
Die folgende Tabelle gibt die heimischen (nativen) und fremdsprachigen (nicht-
nativen) Derivationspräfixe und -suffixe nach Fleischer/Barz (1995, 36 f.) wieder. In
jeder Rubrik wird jeweils ein typisches Affix fett hervorgehoben, das man sich als
Beispiel für die Rubrik merken kann:
(17) Affixe im Deutschen (Fleischer/Barz 1995)
Präfixe Suffixe
Nomen erz-, ge-, a-/an-, anti-, de-/ -bold, -chen, -de, -e, -ament/-ement, -ant/-ent,
haupt-, des-, dis-, ex-, -(er/el)ei, -el, -er, -heit/ -anz/-enz, -age, -ar/-är,
miss-, hyper-, in-, inter-, -keit/-igkeit, -icht, -arium, -at, -aille, -ade,
un-, ur- ko-/kon-/kol-, -ian/jan, -i, -in, -asmus/-ismus, -ee, -esse,
kom-, non-, prä-, -lein, -ler, -ling, -ner, -elle, -ette, -(er)ie, -eur,
pro-, re-, super-, -nis, -rich, -s, -sal, -iere, -ier, -ik, -iker, -ine,
trans-, ultra- -schaft, -sel, -t, -tel, -(at/t/x)ion, -ist, -(i)tät,
-tum, -ung, -werk, -(at/it)or, -ose, -ur
-wesen
Adjektiv erz-, miss-, a-/an-, anti-, de-/ -bar, -e(r)n, -er, -fach, -abel/-ibel, -al/-ell, -ant/
un-, ur- des-/dis-, ex-, -haft, -icht, -ig, -isch, -ent, -ar/-är, -esk, -iv, -oid,
hyper-, in-/il-/ -lich, -los, -mäßig, -os/-ös
im-/ir-, inter-, -sam
ko-/kon-/kor-,
non-, para-, post-,
prä-, pro-, super-,
trans-, ultra-
30
2.3
Grundlagen der Wortbildung
Die Klassifikation einzelner Elemente ist durchaus umstritten: Zum Beispiel ist unklar,
ob die Elemente -wesen und -werk wirklich Suffixe sind, oder ob -(is/ifiz)ier nicht als
nicht-natives Suffix gelten muss.
Man sieht anhand dieser Tabelle schon einen wichtigen Unterschied zwischen
Präfixen und Suffixen. Während Präfixe oft ›polygam‹ sind hinsichtlich der Wortart der
Wurzel, vor die sie treten (vgl. erz- (N, A), miss- (N, A, V), un- (N, A)), sind Suffixe
tendenziell ›monogam‹, d. h. sie sind auf genau eine Wortart der Wurzel spezialisiert
(vgl. -ung (V), -bar (V)).
Außerdem ist es so, dass Präfixe die Wortart der Wurzel intakt lassen; so ist
schön ein Adjektiv und unschön auch. Suffixe dagegen verändern sehr oft die Wort-
art ihrer Wurzel; zum Beispiel wird aus dem Verb leit- durch die Hinzufügung des
Suffixes -ung das Nomen Leitung und aus dem Verb wasch- durch Hinzufügung des
Suffixes -bar das Adjektiv waschbar.
Neben dem Begriff der Wurzel verwendet man noch den Begriff des Stamms.
Unter einem Stamm versteht man ein Morphem oder eine Morphemkonstruktion,
an das bzw. an die Flexionsmorpheme treten können (Fleischer/Barz 1995, 25). In
diesem Sinne sind die Morpheme und Morphemkonstruktionen in (18) Stämme:
(18) a. schön: Stamm = Wurzel
b. un+schön: Stamm mit der Wurzel schön
c. schön+geist+ig: Stamm mit den Wurzeln schön und geist
In (18a) fallen Wurzel und Stamm zusammen, denn schön ist ein flektierbares Ele-
ment. In (18b) ist unschön das flektierbare Element. Es enthält als Wurzel schön. In
(18c) ist schöngeistig das flektierbare Element; es enthält die beiden Wurzeln schön
und geist. Wenn es nicht darauf ankommt, ob etwas ein Stamm oder eine Wurzel ist,
spricht man auch einfach von der Basis einer Affigierung.
Darüber hinaus benötigen wir noch den Begriff des Konfixes.
(19) a. Fanat+iker, Fanat+ismus, fanat+isch, fanat+isier+en; *Fanat
b. bio-, geo-, stief-, schwieger-…
c. -nom, -loge, -thek, …
Alle diese Elemente sind zweifellos Bestandteile von Wortbildungen. Sie kommen
aber einerseits nicht frei vor, sind also keine typischen Wurzeln, anderseits sind
sie keine Affixe. Dagegen spricht vor allem, dass sich Affixe nie miteinander zu
einem selbstständigen Wort kombinieren lassen, während wir Kombinationen von
Konfixen durchaus vorfinden, z. B. Mikro+phon, Sozio+loge, homo+gen. Auch ha-
ben Konfixe meist eine noch stärker zutage tretende lexikalische Grundbedeutung
als Affixe. Außerdem sind Affixe entweder Präfixe oder Suffixe, während einige
Konfixe wie phil durchaus in erster oder zweiter Position eines Wortes auftreten
können (Phil+hellene, homo+phil), also nicht so starken Positionsbeschränkungen
unterliegen (s. Kap. 2.5.3).
Von unikalen Morphemen wie Him(+beere), Brom(+beere), Schorn(+stein),
(Tausend+)sassa sind die Konfixe darin unterschieden, dass unikale Morpheme ganz
fest an ihren Wortkontext gebunden sind, während Konfixe auch in mehreren Um-
gebungen auftreten können (z. B. Schwiegermutter, Schwiegersohn …).
Schließlich wollen wir noch die Morphemvarianten nennen (vgl. Fleischer/
Barz 1995, 30):
31
2.3
Lexikon und Morphologie
Schule und schul sind Morphemvarianten, wobei die Variante schul durch Phonemtil-
gung zustande kommt. Entsprechend sind auge, aug, äug Morphemvarianten, wobei in
aug/auge vs. äug noch zusätzlich eine Vokalalternation vorliegt. Eine Vokalalternation
liegt auch in (20b) vor. In (20c) haben wir ein Beispiel für Präfixvarianten. Morphem-
variation ist nicht auf die Wortbildung beschränkt. So werden die Flexionselemente -e,
-er -en, -n, -s, die alle den Nominativ Plural kodieren, als Varianten eines abstrakten
Pluralmorphems betrachtet. In Analogie zur Allophon-Phonem-Unterscheidung in
der Phonologie spricht man hier auch von Allomorphie (s. Kap. 3.3.2).
Fugenelemente sind vor allem bei Nominalkomposita auftretende Verbindungs-
elemente, die keine Bedeutung tragen (s. Kap. 2.5.3):
(21) Kind+er+garten, Staat+s+feind, Pferd+e+wagen, Herz+ens+wunsch, Fleisch+es+lust,
Blume+n+vase, Held+en+mut
32
2.3
Grundlagen der Wortbildung
Dabei kann es sich um Präfigierungen oder Suffigierungen handeln, vgl. (23a) mit
(23b). Ein dritter wichtiger Wortbildungstyp ist die Konversion (s. Kap. 2.7):
(24) a. VqN schau+en q Schau, lauf+en q Lauf
b. NqV Fisch q fisch+en, Nerv q nerv+en
c. AqV blau q bläu+en, link q link+en
Bei der Kontamination werden zwei Wörter so verschmolzen, dass Wortmaterial aus
den Originalwörtern gelöscht wird. Bei der Kürzung wird Wortmaterial am Ende oder
am Anfang der Originalwörter getilgt. Hier kommt der Fall vor, dass aus einem kom-
plexen Wort ein einfaches Wort (mit der gleichen Bedeutung) wird. Der Unterschied
zwischen der Abkürzung und dem Akronym besteht darin, dass Abkürzungen wie
eine Folge von Lauten, die den Buchstabennamen entsprechen, ausgesprochen werden
(z. B. [e:de"fau] für EDV), während sich bei den Akronymen ein neues phonetisches
Wort ergibt (z. B. ["ba:fœk] für Bafög).
Möglicherweise muss über diese Wortbildungstypen hinaus noch ein weiterer
Typ angenommen werden, nämlich die Rückbildung. Auch hier handelt es sich um
einen Prozess der Verkürzung:
(29) uraufführen (<Uraufführung), staubsaugen (< Staubsauger)
Bei der Rückbildung wird ein weniger komplexes Wort durch Löschung von Wort-
material eines komplexen Originalwortes gebildet (vgl. Becker 1993b).
Eine befriedigende Wortbildungstheorie muss alle diese Wortbildungstypen bzw.
die für deren Genese zuständigen Prozesse beschreiben und erklären können. Ein An-
satz zur weiteren Bestimmung des Gegenstands der Wortbildung kann davon ausgehen,
dass das einfache Wort, das selbst nicht Produkt eines Wortbildungsprozesses ist, auf
jeden Fall kein Gegenstand der Wortbildungstheorie ist. Den Gegenstand der Wort-
bildung auf komplexe, nicht flektierte Wörter zu beschränken, ist aber nur in Bezug
auf die Komposition und die Derivation (also auf die ›verkettende‹ (konkatenative)
Wortbildung) sinnvoll. Bei der Konversion scheint es sich dagegen um einen bloßen
33
2.3
Lexikon und Morphologie
2.3.3 | Wortstruktur
Komplexe Wörter haben eine Struktur. Betrachten wir als Beispiel die Derivation
Kindlichkeit. Wir können dieses komplexe Wort in die Morpheme kind, lich und
keit zerlegen.
(30) kind+lich+keit
Dabei ist kind eine Wurzel mit der Wortart Nomen, -lich ist ein Suffix und -keit ist
auch ein Suffix.
(31) kindNomen, lichSuffix, keitSuffix
Erstens kann man beobachten, dass diese Elemente nur in dieser Reihenfolge auftreten
können. Das sieht man sehr deutlich, wenn man die anderen möglichen Reihenfolgen
ausprobiert:
(32) *kind+keit+lich; *keit+kind+lich; *lich+kind+keit; *keit+lich+kind; *lich+keit+kind
Nun haben wir die Möglichkeit, die Struktur des Wortes Kindlichkeit, die sich in
der Abfolge und Zusammengehörigkeit von morphologischen Baueinheiten zeigt, in
einem Baumdiagramm wiederzugeben.
34
2.3
Grundlagen der Wortbildung
(34) N
A Sx
N Sx
N N N N
N N N N
A B
sind die Knoten A und B Schwestern voneinander und Knoten C ist ihre Mutter. C
dominiert über A und B (Dominanz), während Knoten A dem Knoten B vorausgeht
(Präzedenz). Die strukturellen Baueinheiten A und B nennt man auch Konstituenten
von C. Würde A sich in weitere Bestandteile D und E zergliedern, dann würde man
D und E mittelbare Konstituenten von C nennen, und A eine unmittelbare Konsti-
tuente von C.
In den Strukturdiagrammen (35) und (36) haben wir keinen Knoten für das
Fugenelement s angegeben. Es ist sinnvoll, es an die jeweils vorausgehende Konstitu-
ente zu hängen. Dies ist in (35) die unmittelbare Konstituente Mädchenhandel und
in (36) die mittelbare Konstituente handel. In (38) wird das Strukturdiagramm für
Handelsschule wiedergegeben:
35
2.3
Lexikon und Morphologie
(38) N
N N
N Fu
Handel s schule
Legitimiert wird diese Vorgehensweise durch die Annahme, dass die Wahl des Fugen-
elements durch die vorangehende Konstituente bestimmt wird. Es hat keinen Sinn, in
einer Konfiguration wie (38) eine Konstituente s+schule anzunehmen (s. Kap. 2.5.2).
Wenn man von Komposition oder Derivation spricht, meint man immer den
Wortbildungstyp, der sich bei der Zerlegung in unmittelbare Konstituenten ergibt.
Zum Beispiel ist [Lehr+er]+[mangel] ein Kompositum, das die Derivation Lehr+er
enthält. Und be+weih+räuch(+ern) ist eine Präfigierung, die das Kompositum
Weih+rauch enthält.
In einer Struktur wie in (38) haben wir eine binäre Verzweigung. Obwohl eini-
ges dafür spricht, dass Wortbildungen binär sind, ist z. B. eine ternäre Verzweigung
grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Manchmal gibt es sogar gute Gründe dafür, eine
ternäre Verzweigung anzunehmen, z. B. in Fällen wie Ge+renn+e (vgl. Olsen 1990c).
Es ist klar, dass nicht verkettende Wortbildungstypen wie etwa die Konversion
mit einem Baumdiagramm nicht gut darstellbar sind. Konversionen scheinen nicht
strukturell komplex zu sein. Man kann sich zwar damit behelfen, die Darstellungs-
form unter (39) zu wählen, aber diese besagt nur, dass sich ein Verb in ein Nomen
verwandelt und ein Nomen in ein Verb.
(39) N V
V N
Schau nerv-
Über die Natur dieses Wortbildungsvorgangs erfahren wir dabei nichts, allenfalls
erfahren wir etwas über die Richtung der Konversion. In Kapitel 2.7 kommen wir
auf das Problem zurück.
36
2.3
Grundlagen der Wortbildung
2.3.4 | Wortbildungsregeln
An Strukturdiagrammen kann man Regeln der Wortbildung ablesen. Solche Regeln
sind z. B.
(40) N q N+N Handels+schule
Der Pfeil in dieser Regel ist als ›besteht aus‹ oder ›expandiert zu‹ zu lesen. Nach dem
Muster solcher Regeln können viele weitere Bildungen erzeugt werden. In Bezug auf
die Regel N q N+N wären das zum Beispiel Kampf+hund, Wesens+test, Elch+test,
Ozon+loch, Steuer+reform, usw. Für N muss man also immer ein Nomen einsetzen.
Kann man mit dieser Regel auch komplexe Nomen wie z. B. Kampfhundwesenstest
bilden? Das kann man in der Tat. Man muss dazu nur die Regel auf sich selbst an-
wenden. Dann hat man eine rekursive Struktur.
(41) N
N N
N N N N
In diesem Fall wird die Regel auf beide unmittelbare Konstituenten angewendet. Es ist
aber auch möglich, sie nur auf eine der beiden unmittelbaren Konstituenten anzuwen-
den, wie wir im Fall von Mädchen+handelsschule (rechte unmittelbare Konstituente)
und Mädchenhandels+schule (linke unmittelbare Konstituente) bereits gesehen haben.
Für die Anwendbarkeit einer rekursiven Regel wie in (40) gibt es nur eine psy-
chische, mit unserem Fassungsvermögen zusammenhängende Grenze. Im Deutschen
gibt es ja auch sehr komplexe mögliche N+N-Komposita wie unter (42):
(42) Krankenkassenkostendämpfungsgesetzbeschlussvorlagenberatungsprotokollüberprü-
fungsausschussvorsitzende
Diese Bildung ist vollkommen korrekt und in einem sehr speziellen Kontext auch
durchaus sinnvoll. Dass man sie nicht verwenden würde, liegt daran, dass sie nur
sehr schwer zu verarbeiten ist.
Die Regel (40) beschreibt einen Spezialfall der Nominalkomposition, nämlich
die N+N-Komposition. Wir können nun ausprobieren, welche anderen Nominalkom-
posita es gibt. Dazu ersetzen wir das erste N nach dem Pfeil durch eine andere Wortart:
(43) N q N+N (Computer+tisch)
N q A+N (Rot+licht)
N q V+N (Dreh+griff)
N q P+N (Auf+wind)
Dies funktioniert für die Hauptwortarten ganz gut. Für Konjunktionen oder Modal-
partikeln funktioniert es aber zum Beispiel nicht, weil es keine Komposita gibt, die
z. B. aus Konjunktion oder Modalpartikel plus Nomen bestehen.
37
2.3
Lexikon und Morphologie
Die Voraussetzung dafür, dass die gesamte Bildung ein N ist, ist, dass das
rechte Element ein N ist. Wäre das linke Element ein N und nur das rechte ein A,
wie in metallblau, hätten wir ein Adjektiv, kein Nomen. Man nennt daher das rechte
Element den Kopf der Wortbildung. Der Kopf bestimmt die Wortart (Kategorie) der
Gesamtbildung.
Damit ist auch eine wichtige semantische Eigenschaft verbunden, die traditionell
in dem Begriff Determinativkompositum zum Ausdruck kommt. Ein Computertisch
ist eine Art von Tisch, ein Tischcomputer eine Art von Computer. Die Bedeutung des
rechten Elements wird also durch die Bedeutung des linken Elements determiniert
(oder modifiziert, wie man auch sagen könnte). Nicht alle Komposita sind Deter-
minativkomposita, wie man an den Kopulativkomposita wie Spieler-Trainer oder
süßsauer sieht: hier sind Erstglied und Zweitglied semantisch nebengeordnet (vgl.
Olsen 2001, Weiß/Cinkilic 2012)).
38
2.3
Grundlagen der Wortbildung
Beim Plural der Derivation Briefchen wird jedoch kein -e angehängt, sondern
gar nichts. Es handelt sich um einen Nullplural. Wir können also festhalten, dass der
Kopf die Flexionsklasse einer Wortbildung bestimmt.
Präfixe können im Allgemeinen nicht als Köpfe von Wortbildungen betrachtet
werden. Sie verändern nicht die Kategorie der Wurzel und bestimmen nicht das Genus
und die Flexionsklasse. Zum Beispiel wird in Ur+wald die Kategorie, das Genus und
die Flexionsklasse durch das rechte Element wald bestimmt.
Es sieht daher so aus, als liege der Kopf immer rechts. Tatsächlich hat man diese
Verallgemeinerung als Kopf-rechts-Prinzip formuliert: In komplexen Wortbildungen
ist das rechte Element der Kopf. Es scheint im Deutschen nur zwei wirkliche Pro-
blemfälle für das Kopf-rechts-Prinzip zu geben (zu Pseudo-Problemfällen vgl. Olsen
1990a). Dies sind einerseits Fälle wie Ge+renn+e, Ge+heul+(e), Ge+zank+e, bei denen
der Träger der Wortartfixierung nur das Präfix Ge- bzw. das Zirkumfix Ge…e sein
kann (vgl. dazu Olsen 1990c). Anderseits sind es Fälle wie ver+holz+en, ver+jüng+en,
be+freund+en, be+ruhig+en, bei denen es auf den ersten Blick die verbalen Präfixe
ver- und be- sein müssen, die der Kopf sind, da ja die Nomen Holz und Freund sowie
die Adjektive jung und ruhig dafür nicht in Frage kommen (vgl. Olsen 1990b).
Wir können zusammenfassen: Der Kopf ist das rechte Element einer Wortbil-
dung. Er bestimmt die Kategorie, das Genus und die Flexionsklasse der Wortbildung.
2.3.6 | Analogiebildung
Wortbildungsregeln haben einen analytischen Aspekt und einen synthetischen Aspekt.
Einerseits kann man mit ihnen schon vorhandene Wörter analysieren, anderseits die-
nen sie der Erzeugung neuer (sekundärer) Wörter. Allerdings kann man beobachten,
dass nicht alle neuen Wörter nur aufgrund der Anwendung einer Regel zustande
kommen:
(47) Hausmann (Hausfrau), Braunzone (Grauzone), Fußwerker (Handwerker), Diplom-
kauffrau (Diplomkaufmann), Reißbretttäter (Schreibtischtäter), entmieten (vermieten),
Flexibelchen (Sensibelchen)
In diesen Fällen scheint die neue Bildung nicht aufgrund einer Regel zustande zu
kommen, sondern durch Bezug auf eine schon existierende Wortbildung (in (47) in
Klammern gesetzt). Diese muss man kennen, um die Bedeutung der Neubildung zu
verstehen. Analysiert man also Hausmann in der Bedeutung ›Mann, der vorwiegend
mit der Führung eines Haushalts beschäftigt ist‹ bloß als [[HausN][mannN]]N, wie
es dem Regelansatz entsprechen würde, kann man diesen Bezug auf Hausfrau gar
nicht ausdrücken.
Ein weiterer Fall ist das Verb aufdecken in der Bedeutung ›zudecken rückgän-
gig machen‹. Dessen Semantik erschließt sich nicht durch die Analyse als [[aufPART]
[deckV]]V, weil man so nur die widersinnige Paraphrase ›durch Decken öffnen‹ wie
bei aufbrechen ›durch Brechen öffnen‹ erhalten würde. Bei aufdecken muss man das
Wort zudecken kennen, um die Bedeutung ›Zudecken rückgängig machen‹ erschließen
zu können. Es handelt sich also um eine Analogiebildung (vgl. Becker 1993a, 184 ff.).
Es ist umstritten, welchen Status die Analogie in der Wortbildung hat. Für
Becker (1993a) ist sie so zentral für die Wortbildung, dass er für eine eigene ›pa-
radigmatische Morphologie‹ plädiert, deren Aufgabe es sei, Beziehungen zwischen
39
2.4
Lexikon und Morphologie
40
2.4
Wortbildung im Lexikon
belastet, wenn man nicht LehrV-, -erSx und Lehr+erN gespeichert hätte, sondern nur
LehrV- und -erSx. Wir gehen hier von der folgenden Konzeption des Lexikons aus:
(48) Konzeption des Lexikons
Das Lexikon enthält:
(a) Liste von Wurzeln und Affixen zu (a): lehr-, -er, Geld…
(b) Liste von usuellen komplexen Wörtern zu (b): Lehrer, Lehrgeld…
(c) Menge von Wortbildungsregeln zu (c): NqV+Sx, NqV+N …
Wenn zum Beispiel zu den Wortbildungsregeln auch die Regel N q N+N gehört, könnte
das Lexikon auch die potenziellen Bildungen Geld+lehrer und Lehrer+geld definieren.
2.4.2 | Lexikoneinträge
Die Regelkomponente des Lexikons stellt nur mögliche Strukturen der Wortbildung
zur Verfügung, zum Beispiel die folgende Struktur für die N+N-Komposition:
(49) N
N N
Für die mit ›N‹ etikettierte linke und rechte Konstituente muss jeweils ein Nomen
eingesetzt werden. Dieses Nomen wird aus dem Lexikon geholt. Das Verfahren nennt
man lexikalische Einsetzung. Die Information, dass es sich bei einer Lexikoneinheit
um ein Nomen handelt, entnimmt man dem jeweiligen Lexikoneintrag.
Im Folgenden wollen wir den Aufbau von Lexikoneinträgen näher betrachten.
Wir gehen davon aus, dass in den Lexikoneintrag phonologische, morphologische,
syntaktische, semantische und pragmatische Information gehört. Wie umfangreich
und detailliert diese Information ist, hängt natürlich sehr stark vom theoretischen
Gesamtmodell ab, das man der Analyse zugrundelegt. Wir nennen zunächst am Fall
des Verbs wecken einige Aspekte, die auf jeden Fall berücksichtigt werden müssen.
(50) Lexikoneintrag für weck-
weck-
PHON: /vEk/
MORPH: schwache Flexion
SYN: V
[NPnom1, NPakk2, (PPp=aus3)___]
SEM: Handlungsverb
x1: AGENS, x2: PATIENS, x3: QUELLE
WECK (x1, x2, x3)
PRAG: neutrales Register
Wenn wir hier als Lexikoneintrag den Verbstamm weck- wählen und nicht etwa den
Infinitiv (die Nennform), dann deshalb, weil wir die Möglichkeit offen lassen wollen,
dass es im Lexikon auch Flexionsregeln gibt, nach denen Flexionselemente (also auch
Infinitivmorpheme) an Stämme gefügt werden.
41
2.4
Lexikon und Morphologie
In den Lexikoneintrag gehört auf jeden Fall eine Angabe über die korrekte
Aussprache (siehe PHON) und über die Flexionsklasse (schwach – stark) des Verbs
(siehe MORPH). Zur syntaktischen Charakterisierung (SYN) gehört die Angabe der
Wortart (Kategorie) und des Valenzrahmens (dazu ausführlich Kap. 4.8.1). Es handelt
sich bei weck- um ein Verb (V), das obligatorisch zweiwertig ist, da es immer ein
Komplement mit einer Nominalphrase (NP) im Nominativ und einer Nominalphrase
im Akkusativ benötigt. Hinzutreten kann noch eine durch die Präposition aus einge-
leitete Präpositionalphrase (PP).
(51) a. *Fritz weckte.
b. Fritz weckte Anna.
c. Fritz weckte Anna aus dem Schlaf.
Semantisch gesehen handelt es sich um ein Handlungsverb. Seine logisch-semantische
Struktur wird so beschrieben, dass das Prädikat WECK drei Argumente zu sich nimmt.
Das sieht man an den folgenden Schlussfolgerungs-Proben.
(52) Fritz weckte Anna. q Jemand weckte Anna.
q Fritz weckte jemanden.
q Fritz weckte Anna aus einem bestimmten Zustand.
Wecken beschreibt einen Sachverhalt, bei dem jemand (oder etwas) jemanden, der
sich in einem bestimmten Zustand (des Schlafens, Träumens, etc.) befindet, wach
macht. Nicht alle drei Argumente müssen auch syntaktisch ausgedrückt werden;
die Präpositionalphrase aus dem Schlaf ist ja fakultativ. Daran sieht man, dass die
Prädikat-Argument-Struktur nicht in einer 1:1-Beziehung zur Valenzstruktur stehen
muss. Zusätzlich gehört noch in die semantische Charakterisierung, dass die Verb-
komplemente mit bestimmten semantischen Rollen assoziiert sind (s. Kap. 4.8.2). Die
NP im Nominativ ist mit der Rolle AGENS assoziiert, die NP im Akkusativ mit der
Rolle PATIENS, die PP mit der Rolle QUELLE. Auch diese Information ist wichtig,
denn NPs im Nominativ etwa können auch grundsätzlich anderen Rollen zugeordnet
werden (z.B INSTRUMENT, vgl. Der Schlüssel öffnet die Tür.) Zu der pragmatischen
Information (PRAG) sind u. a. Angaben zum stilistischen Wert von Lexikoneinheiten
zu rechnen, vgl. etwa Fritz weckte Anna mit Fritz riss Anna aus dem Schlaf.
Wenden wir uns dem Lexikoneintrag für das -er-Suffix zu. In Anlehnung an
die Darstellung von Olsen (1986a, 76) können wir den folgenden Lexikoneintrag
formulieren :
(53) Lexikoneintrag für das -er-Suffix
-er
PHON /å/
MORPH maskulin; Ø-Plural
SYN Naf
[V__]
SEM AGENS oder INSTRUMENT, das die V-Handlung ausführt
PRAG –
42
2.4
Wortbildung im Lexikon
Zwar erfasst er die deverbalen Nomen mit der Lesart als Nomen agentis, Nomen
instrumenti oder mit beiden Lesarten in (54a), aber nicht die denominalen und de-
numeralen Nomen in (54b), und nicht die Nomen acti und die Nomen patientis in
(54c) und (54d).
Wenn wir nun davon ausgehen, dass es im Lexikon eine Wortbildungsregel N
q V+ Naf gibt, und für V das Element weck- und für Naf das Element -er einsetzen,
erhalten wir die Wortbildung wecker:
(55) N
V Naf
weck er
Das Wort Wecker kann sich auf jemanden beziehen, der einen anderen weckt (Nomen
agentis) oder auf ein Gerät, das jemanden weckt (Nomen instrumenti).
Im Strukturdiagramm (55) kommt sehr gut zum Ausdruck, dass das Suffix
der Kopf ist. Nur das Suffix stimmt nämlich in seiner Kategoriemarkierung mit der
Kategorie des gesamten Wortes überein.
2.4.3 | Blockierung
Den Vorgaben unserer Wortbildungsregeln folgend, sollten wir auch *Stehl+er und
?Weck+ung bilden können, denn stehl- und weck- sind Verben und -ung ein nomi-
nales Affix. Dies scheint aber nicht gut möglich zu sein, weil die Wörter Dieb und
(das) Wecken schon im Lexikon existieren. Die Anwendung der Wortbildungsregeln
ist also in diesem Fall blockiert, weil das Regelprodukt synonym mit einem schon
existierenden Wort wäre.
Nach Werner (1995, 52 ff.) sind die folgenden Typen der Blockierung zu un-
terscheiden:
43
2.4
Lexikon und Morphologie
Von partieller Blockierung spricht man, wenn bei einer Wortbildung nicht alle poten-
ziellen Lesarten zur Verfügung stehen: Kocher kann etwa nur als Nomen instrumenti
verstanden werden, aber nicht mehr als Nomen agentis wegen schon existierendem
Koch. Manche Wortbildungen sind auch deshalb blockiert, weil das Zielwort schon
in einer anderen Bedeutung existiert. Zum Beispiel kann ein Essen essbar (›kann
gegessen werden‹) sein, aber nicht *kostbar (›kann gekostet werden‹), weil kostbar
schon in der Bedeutung ›wertvoll‹ lexikalisiert ist (dies ist zugleich ein Fall von Ho-
monymievermeidung, s. u.).
Eine wichtige Frage ist nun, wie systematisch diese Blockierungsbeziehungen
sind. In manchen Fällen scheint es so, als sei eine Wortbildung nur zufällig blockiert.
Dies ist der Fall bei *Stehler – Dieb, aber auch bei *klavieren – Klavier spielen. Hier
haben wir korrekte Wortbildungen wie trompeten, geigen usw. Diese Fälle kann man
mit Rainer (1988) token blocking nennen, weil davon immer nur einzelne Sprach-
zeichen betroffen sind. Im Gegensatz dazu stehen Fälle von type blocking, bei denen
eine systematische Blockierungsbeziehung zwischen ganzen Klassen (Typen) von
Wortbildungen besteht.
In Bezug auf die Suffixe -ität und -heit ergibt sich hinsichtlich der Stämme,
die auf -al auslauten, folgende Akzeptabilitätsverteilung (nach Rainer 1988, 178;
Trivialität ist die einzig belegte Bildung):
(57) a. Diametralität ??Diametralheit
Dorsalität ??Dorsalheit
Letalität ??Letalheit
b. Trivialität ?Trivialheit
Jovialität ?Jovialheit
?Zentralität ?Zentralheit
Der Vergleich der beiden Suffixe -ität und -heit ist insofern ›fair‹, als sie (a) an ad-
jektivische Basen treten, und (b) diese endbetont sein müssen, seien sie nun ein- oder
mehrsilbig. Ein ähnliches Bewertungsmuster ergibt sich auch, wenn man auf -ar, -är,
-ell, -id, -iv, -os, -ös auslautende Stämme betrachtet.
Was die erste Gruppe (57a) von der zweiten Gruppe (57b) unterscheidet, ist der
Grad der Entlehntheit. Seltene und ungebräuchliche Lehnwörter scheinen sich gegen
-heit zu sträuben, während häufigere und gebräuchliche Lehnwörter mit -heit akzep-
tabel sind. Es ist auch nicht so, dass -heit durchweg nur heimische Basen verlangt,
denn es gibt sogar gebräuchliche Lehnwörter, die nur mit -heit akzeptabel sind, vgl.
44
2.4
Wortbildung im Lexikon
Während Fachschaftler und Fachschafter beide möglich sind – hier also keine Blo-
ckierung eintritt – wird Mittelbauer aus Homonymiegründen blockiert.
Aber auch hier scheint es nötig, nur von Tendenzen auszugehen. Denn in vielen
Fällen wird Homonymie nicht vermieden:
(60) leiten Leiter (trotz Leiter ›Arbeitsgerät‹)
wetten Wetter (trotz Wetter ›atmosphärischer Zustand‹)
laufen Läufer (trotz Läufer ›Bodenbelag‹)
2.4.4 | Produktivität
Die Wirksamkeit von Wortbildungsregeln ist in vielfacher Weise eingeschränkt. Sie sind
unterschiedlich produktiv, wobei man zwischen Graden der Produktivität unterschei-
den kann. Produktiv sind alle Wortbildungsregeln, nach denen häufig Neubildungen
vorgenommen werden. Das ist z. B. bei dem -er-Suffix oder dem -ung-Suffix der Fall.
Schwach produktiv sind solche Wortbildungsregeln, nach denen nur vereinzelt Neu-
bildungen vorgenommen werden, z. B. -tum (Sammlertum, Punkertum). Als Basis von
-tum kommt heute nur noch das Nomen vor, während früher auch Adjektive und
Verben zugelassen waren (Reichtum, Wachstum). Außerdem sind Neubildungen in
ihrer Bedeutung auf ›sozialer Stand von N, Art des Verhaltens‹ eingeschränkt (vgl.
dagegen Besitztum). Als unproduktiv gelten heute die Bildungen auf -t. In unserem
45
2.4
Lexikon und Morphologie
Wortschatz existieren noch Bildungen wie Fahr+t, Zuch+t, aber Neubildungen wie
*Stört oder *Lest sind ausgeschlossen.
Wie bei allen sprachlichen Phänomenen, die mit Wandel zu tun haben, ist auch
bei der Produktivität eine Kernfrage, ob es sich hier eher um einen sprachinternen
Vorgang der Regelbeschränkung handelt oder um einen sprachexternen Vorgang der
Regelpräferenz in der Äußerungssituation (getrieben vom Bedürfnis nach der Füllung
lexikalischer Lücken) (vgl. Bauer, 2001, Demske 2000, Scherer 2005).
Die Bildungen unter (61) sind alle Nomen, -i kann also als nominales Suffix gelten
(vgl. aber tschüßi, supi). Die -i-Bildungen bestehen meistens aus zwei Silben (vgl.
aber kindersprachlich Verstecki ›Versteckspiel‹). Die erste Silbe ist betont, die zweite
unbetont, offen und endet mit einem finalen gespannten i. Eine betonte Silbe gefolgt
von einer unbetonten Silbe nennt man einen Trochäus. Wie Féry (1997, 465) sagt,
ist das Ergebnis der -i-Suffigierung »prosodisch vorgegeben, und die Stämme werden
quasi mit Gewalt in eine Schablone gezwungen, um dieser vorgegebenen Form zu
entsprechen« (vgl. auch Köpcke 2002).
Ier(en)-Bildungen mit heimischen Basen wie in (62b) kommen dagegen eher selten
vor (vgl. Fleischer/Barz 1995, 311 ff. und Kap. 8.6.2). Man sieht an diesem Fall auch,
dass ein Vergleich von zwei Suffixen hinsichtlich ihrer Produktivität dann ›unfair‹
ist, wenn man nicht die Menge der überhaupt zur Verfügung stehenden möglichen
Ableitungsbasen mit in das Kalkül einbezieht. Es dürften ja viel mehr native Basen
existieren als nicht-native.
Der zweite Fall betrifft die Distribution der Suffixe -heit, -keit, -igkeit. Grob
gesagt, verbinden sich diese Suffixe mit Basen unterschiedlicher Komplexität (vgl.
Fleischer/Barz 1995, 158 ff.) bzw. verlangen eine Kombination mit bestimmten an-
deren Suffixen:
46
2.4
Wortbildung im Lexikon
3. syntaktische Faktoren: Ein syntaktischer Faktor wird bei der Bildung von -bar-
Adjektiven wirksam, denn obgleich es einige Basen mit intransitiven Verben wie unter
(64b) gibt, sind nur transitive verbale Basen wie unter (64a) produktiv:
(64) a. (transitive Verben) konsumierbar, heizbar, rückzahlbar, feststellbar, lesbar
b. (intransitive Verben) gerinnbar, haftbar, brennbar, fehlbar, sinkbar
Toman (1987, 69) begründet das damit, dass sich die Verben unter (64b) bezüglich
ihrer Bedeutung anders verhalten. So bedeutet konsumierbar ›etw. kann konsumiert
werden‹, aber haftbar bedeutet nicht ›jd. kann haften‹, sondern ›jd. muss haften‹.
Außerdem seien Neubildungen nach diesem Muster nicht mehr möglich (vgl. aber
Eisenberg 2006, 279).
4. semantische Faktoren: Ein Beispiel für eine semantische Anforderung an die Basis
ist die Bildung der Nomen acti auf -er:
(65) Basisrestriktionen für das -er-Suffix
Basis Nomen agentis Nomen instrumenti Nomen acti
Verb Lehr+er Send+er Hüpf+er
Nomen Strich+er Benzin+er –
47
2.5
Lexikon und Morphologie
Doch das -ler-Modell mit verbaler Basis stirbt aus. Eine Präferenz für -ler-Bildungen
ergibt sich aus phonologischen Anforderungen der Basis (-ler tritt gern an Basen mit
den dentalen Verschlusslauten -d und -t und die Silbe bleibt erhalten, vgl. *Spor-ter
vs. Sport-ler), morphologischen Anforderungen (Präferenz für komplexe Basen)
und semantischen Anforderungen (Tendenz zur Pejoration vor allem bei der dever-
balen -ler-Bildung). Eine Konkurrenzsituation taucht in Fällen auf, wo die Basis auf
-schaft endet: wir haben Gewerkschafter und Gewerkschaftler, Burschenschafter
und Burschenschaftler usw. Die -ler-Bildungen scheinen dabei eine leicht abwertende
Bedeutung zu haben.
2.5 | Komposition
2.5.1 | Haupttypen der Komposition
Nach einem knappen Überblick über die Haupttypen der Komposition (vgl. Fleischer/
Barz 1995, Eisenberg 2006, 226–235, Altmann/Kemmerling 2000; vgl. a. Fleischer/
Barz 2012) betrachten wir das Problem des Fugenelements, des Konfixkompositums,
der Interpretation von N+N-Komposita und des Phrasenkompositums. Wir konzen-
trieren uns auf Determinativkomposita und gehen der Reihe nach auf die Verhältnisse
beim Nomen, beim Adjektiv, beim Verb und beim Adverb ein.
Die Haupttypen der Nomen-Komposition sind die folgenden (vgl. Fleischer/
Barz 1995, 87–146):
(67) Haupttypen der Nomen-Komposition
Nomen-Komposition Beispiel
N q N+N Holz+haus, Elch+test, Kampf+hund
N q A+N Rot+licht, Groß+rechner, Blöd+mann
N q V+N Web+stuhl, Misch+ehe, Kann+bestimmung
N q P+N Vor+geschmack, Neben+frau, Zwischen+deck
48
2.5
Komposition
Zu dem Typ N+A kann man auch solche Fälle rechnen, wo das Zweitglied ein Partizip
ist: herz+zerreißend, leid+tragend.
Die verbale Wortbildung geschieht über Präfigierung und Suffigierung, nicht über
Komposition (s. Kap. 2.6.2). Es gibt aber einige Typen, die auf den ersten Blick in
unser Regelschema passen (vgl. Fleischer/Barz 1995, 295–304):
(69) Haupttypen der Verb-Komposition
Verb-Komposition Beispiel
V q N+V kopf+stehen, rad+fahren, stand+halten, bau+sparen
V q A+V lieb+äugeln, froh+locken
V q V+V sitzen+bleiben, liegen+lassen, kennen+lernen, schwing+schleifen
Die Behandlung der N+V-Typen in der Literatur ist äußerst unterschiedlich. Insbe-
sondere werden sie oft als Pseudokomposita von der Komposition im engeren Sinne
ausgeschlossen, weil sie auf anderen Prozessen wie Univerbierung (Inkorporation),
Konversion und Rückbildung basieren (Eisenberg 2006, 232–234).
Bei der Adverb-Komposition unterscheiden Fleischer/Barz (1995, 280–282)
im Wesentlichen die folgenden Typen:
(70) Haupttypen der Adverb-Komposition
Adverb-Komposition Beispiel
X + -her/-hinADV X=ADV: da+her, da+hin, überall+her, überall+hin,
hinter+her
X=A: ferner+hin, weiter+hin
X+P X=ADV: her+auf, hin+auf, da(r)+auf, hier+auf
X=P: durch+aus
X=A: frisch+auf
X=N: berg+an
Dieser Bereich bietet viele Probleme (vgl. auch Altmann/Kemmerling 2000, 159 f.).
Zum Beispiel ist unklar, ob es sich hier wirklich um ein Determinationsverhältnis
zwischen dem Erstglied und dem Zweitglied handelt oder nicht vielmehr um ein
Verhältnis der ›Zusammenrückung‹ (etwa in Hoheslied, infolgedessen). Außerdem
sind die X+P-Typen nicht ohne weiteres mit dem Kopf-rechts-Prinzip in Einklang zu
bringen. Eine Möglichkeit ist natürlich, hier von einer Wortart ›Präpositionaladverb‹
auszugehen, denn das Zweitglied hat ja keine typischen Präpositionseigenschaften
mehr, d.h. es nimmt kein Komplement, dem es einen Kasus zuweist.
49
2.5
Lexikon und Morphologie
2.5.2 | Fugenelemente
Fugenelemente sind Verbindungsstücke zwischen Morphemen. Sie kommen nicht
nur in Komposita vor, sondern auch in Derivationen wie z. B. hoffnung+s+los,
sage+n+haft, Zeuge+n+schaft, Volk+s+tum. Die größte Rolle spielen sie aber in N+N-
Komposita, und auf diese Fälle konzentrieren wir uns im Folgenden (vgl. Fuhrhop
1996, Ramers 1997, Eisenberg 2006, 235–241, Wegener 2003, Nübling/Szczepaniak
2008, Neef/Borgwaldt 2012).
Folgende Fugenelemente sind zu unterscheiden:
(71) -e- Weg+e+zoll -s- Kind+s+kopf
-en- Dozent+en+café -er- Bild+er+rahmen
-n- Bauer+n+hof -ens- Herz+ens-wunsch
-es- Tag+es+gespräch
Zunächst kann man fragen, ob das Fugenelement genau in der Mitte zwischen zwei
Kompositionsgliedern steht, oder näher zum Erst- oder Zweitglied gehört. Wir be-
trachten dazu die folgenden Daten (Ramers 1997, 34 f.):
(72) a. Löwe+n+mähne, Löwe+n+maul, Löwe+n+zahn, Löwe+n+anteil
b. Kind+frau, Kind+s+kopf, Kind+es+alter, Kind+er+wagen
(73) a. Kind+er- und Abenteuerspielplatz, aber: *Kind- und Abenteuerspielplatz
b. Kind+er+wagen und -sitz, aber: *Kind+er+wagen und -er+sitz
In (72a) wird deutlich, dass es das Erstglied ist, welches das Fugenelement bestimmt,
obgleich – wie man an den Beispielen unter (72b) sieht – es das Fugenelement nicht
eindeutig bestimmen muss. Der Koordinationstest in Beispiel (73a) zeigt, dass das
Fugenelement -er- erhalten bleibt, wenn man das Zweitglied Spielplatz tilgt; tilgt man
aber das Erstglied Kinder, dann darf -er- nicht zurückbleiben, wie man in (73b) sieht.
Die enge Bindung des Fugenelements an das Erstglied sollte in Baumdiagrammen so
wiedergegeben werden, dass es mit diesem eine Konstituente bildet.
Auf den ersten Blick wirken die Fugenelemente wie Flexionselemente. Es gibt
jedenfalls einige Fälle, in denen man ihnen eine Singular- vs. Plurallesart oder eine
Genitivlesart zuschreiben könnte:
(74) Hausfront Häus+er+front ›Front der Häuser‹
Staatsgemeinschaft Staat+en+gemeinschaft ›Gemeinschaft der Staaten‹
Gottesmutter Gött+er+mutter ›Mutter der Götter‹
Landeskonferenz Länd+er+konferenz ›Konferenz der Länder‹
(75) Lehrer+s+gattin ›Gattin eines Lehrers‹
Kind+es+kind ›Kind des (eigenen)Kindes‹ (›Enkelkind‹)
Herz+ens+angelegenheit ›Angelegenheit des Herzens‹
Tag+es+arbeit ›Arbeit eines Tages‹
Historisch gesehen ist ein Teil der Fugenelemente tatsächlich auf Flexionselemente
zurückzuführen (s. Kap. 8.3.4).
Für die sprachlichen Verhältnisse der Gegenwart hat es jedoch keinen Sinn,
Fugenelemente als Flexionselemente zu analysieren. Flektiert wird nur am Wortende.
Vor allem die folgenden Beispiele sprechen dagegen:
50
2.5
Komposition
2.5.3 | Konfixkomposita
Unter Konfixkomposita versteht Eisenberg (2006, 242–246) solche Komposita, die
mindestens ein Konfix enthalten. Für Konfixe gilt Folgendes:
(a) sie sind Wortbildungs-Elemente, die an produktiven Wortbildungsmustern teil-
haben,
(b) sie haben eine lexikalische Bedeutung wie Wurzeln,
(c) kommen aber nicht frei vor und sind nicht flektierbar.
Als Beispiel nennt Eisenberg (2006, 242) Konfixkomposita mit dem Element Hard-:
Hard+cover, Hard+liner, Hard+rock, Hard+top, Hard+ware. Es scheint sich dabei
durchaus um ein produktives Muster zu handeln (Neubildungen wie Hard+word oder
Hard+rap erscheinen möglich), es gibt eine lexikalische Bedeutung (›hart‹), aber es
gibt (noch) kein frei vorkommendes Wort hard, und hard kann auch nicht flektiert
werden. Vor allem die Eigenschaft, dass sie eine lexikalische Bedeutung wie Wurzeln
haben, unterscheidet Konfixe von Affixen.
Konfixe gibt es als Präkonfixe und als Postkonfixe. Bei den Präkonfixen unter-
scheidet Eisenberg (2006, 245) zwei Klassen:
(77) a. agro-, agri-, bio-, elektro-, mini-, mikro-, makro-, biblio-, phono-, disko-, neo-,
turbo-, geo-, multi-, multo-, thermo-, hydro-, strato-, öko-, turbo-, homo-, astro-,
philo-, servo-, aequi-
b. hard-, home-, allround-, light-, low-, soft-, high-, free-, fast-, short-, work-
Die Präkonfixe der Klasse (77a) sind Gräzismen oder Latinismen, die der Klasse
(77b) Anglizismen. Ein phonologischer Unterschied ist, dass die Konfixe aus dem
Griechischen oder Lateinischen immer einen Trochäus bilden. Eine Wortartkategorie
kann man den Konfixen vom Typ (77a) nicht zuschreiben; bei der Klasse (77b) ist
die Frage, inwiefern die Wortart aus dem Englischen importiert wird.
Anders als die Präkonfixe vom Typ (77a), aber genauso wie Suffixe, sind Post-
konfixe wortartmarkiert. Eisenberg (2006, 245) unterscheidet zwischen nominalen
und adjektivischen Postkonfixen:
51
2.5
Lexikon und Morphologie
(78) a. nominale Postkonfixe: -burger, -drom, -gramm, -graph, -lekt, -mat, -naut, -phon,
-port, -shop, -tainer, -thek, -top, -ware
b. adjektivische Postkonfixe: -gen, -nom, -log, -phil, -phob, -therm
Eine Bildung wie homogen würde demnach die folgende Struktur erhalten (mit ›Ko‹
für Konfix):
(79) A
Ko AKo
homo gen
Normalerweise treten Postkonfixe an nicht-native Wurzeln. Zweifellos gibt es Bil-
dungen wie Spiel+o+mat, Knast+o+loge, Wasch+o+mat, sachs+o+phil, aber diese
Bildungen haben (noch) einen etwas markierten bzw. scherzhaften Charakter.
Eisenberg (2006) macht darauf aufmerksam, dass es verschiedene Typen von
Präkonfixen gibt: solche, die niemals als Basis weiterer Wortbildungsprozesse gelten
können wie anthrop unter (80a), und solche, bei denen das geht wie techn in (80b).
Die letztgenannten Elemente bezeichnet er als ›gebundene Stämme‹. (Allerding kann
man anthropisch und Anthropiker in Fachwortschätzen finden.)
(80) a. [Anthrop+oKo]+[log+eKo], *anthrop+isch, *Anthrop+iker, *Anthropität
b. [Techn+oKo]+[log+eKo]; techn+isch, Techn+iker, Techn+ik, Techn+o+krat
Das -o- ist jeweils ein an das erste Konfix gebundenes Fugenelement, das -e ist ein
›morphologischer Rest‹.
Hat man Reihen wie etwa Hardrock, Hardware usw., kann es dazu kommen,
dass das Konfix hard sich herauslöst und mit anderen Elementen kombiniert wird,
z. B. hardmäßig draufsein oder einen auf hardig machen, usw. Diesen Vorgang nennt
man Rekombination; man erhält dadurch Wörter, die nicht als Ganzes entlehnt sind.
52
2.5
Komposition
53
2.5
Lexikon und Morphologie
Wenn die Zweitglieder keine Indizien formaler Art für die richtige Interpretation
liefern, bleibt nur, dass man ausgehend von der Bedeutung der beteiligten Glieder
eine Bedeutungsrelation etabliert. Dabei spielen Annahmen über die stereotypische
Bedeutung von Wörtern eine große Rolle. Zum Beispiel gehört zu unseren Annahmen
über eine Fabrik, dass diese etwas produziert. Es liegt also nahe, ein Kompositum wie
Nagelfabrik so aufzufassen, dass es sich um eine Fabrik handelt, die Nägel produ-
ziert. Ähnliches gilt für Buchgeschäft, Weinladen, Operettentheater, Zeitungskiosk.
Für die restlichen Fälle bietet sich eine Reihe von typischen Grundrelationen
an (nach Fandrych/Thurmair 1994). Damit ist weder gesagt, dass diese ausreichend
sind, noch, dass die entsprechenden Bildungen nur mit Hilfe dieser Relationen inter-
pretierbar sind. Zum Beispiel könnte man über die Annahme einer Beziehung und
nachdenken, die für Kopulativkomposita anzusetzen wäre (Fanselow 1981). Anders
als bei Fanselow (1981) wird hier davon ausgegangen, dass die Relation immer von
dem Zweitglied (dem Kopf) ausgeht.
(82) Semantische Grundrelationen bei N+N-Komposita (Fandrych/Thurmair 1994)
SITUATION Das Zweitglied steht in <ist in> Stadtautobahn, Gartenbrunnen;
lokaler oder temporaler Relation zum <führt zu> Gartentür, Mondrakete;
Erstglied. <stammt aus/von> Erdöl, Fabriknagel;
<ist zum Zeitpunkt/ im Zeitraum>
Mittagessen, Abendkonzert
SITUATION-URHEBER Das Zweit- <ist verursacht von> Feuerschaden,
glied steht in kausaler Relation zum Polizeirazzia, Brecht-Gedicht
Erstglied.
KONSTITUTION Das Zweitglied <besteht ganz aus> Holztisch, Goldring,
hat das Erstglied als konstitutiven Glasflasche; <hat> Henkeltasse, Nuss-
Bestandteil. kuchen, Giebelhaus; <in der Art/Form/
Farbe … von> Würfelzucker, Zitronen-
falter, Milchglas
KONSTITUTION-THEMA <hat als Thema> Tierbuch, Friedens-
Das Zweitglied hat das Erstglied als zeichen; <im Bereich> Verkehrs-
konstitutiven thematischen Bereich. ministerium, Rektorenkonferenz
ZWECK Das Zweitglied wird be- <dient zu> Arbeitstisch, Malerpinsel,
züglich seines Anwendungsbereichs Schulranzen; <schützt vor> Schmerz-
(Erstglied) bestimmt. tablette, Hustensaft, Windjacke
INSTRUMENT Das Zweitglied wird <funktioniert mit Hilfe von> Benzin-
in seiner Funktionsweise durch das motor, Handbremse, Windmühle,
Erstglied charakterisiert. Dampfkochtopf
54
2.6
Derivation
2.5.5 | Phrasenkompositum
Wir sind davon ausgegangen, dass die Regel für die N+N-Komposition N q N+N
lautet. Dennoch finden wir Phrasenkomposita wie zum Beispiel Trimm-dich-Pfad
oder Graue-Maus-Dasein (vgl. Lawrenz 1996). Die Erstglieder sind in diesen Fällen
ein Satz (Trimm dich) und eine Nominalphrase (graue Maus). Soll man also noch
eine zusätzliche Regel N q XP+N annehmen, wobei XP eine Variable für alle
Phrasentypen ist? Es gibt unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Lieber (1981a)
nimmt tatsächlich an, dass Phrasen ganz regulär innerhalb von Wortstrukturen vor-
kommen können; Phrasenkomposita sind für sie der Beweis, dass die Wortbildung
wesentlich syntaktisch ist, denn Phrasen werden in der syntaktischen Komponente
der Grammatik erzeugt. Wiese (1996b) hat dagegen eingewendet, dass die phrasalen
Wortbestandteile eigentlich nur »Zitate« seien, und Zitate seien keine genuinen Wort-
bestandteile. Mit dieser Annahme verteidigt er die Auffassung der lexikalistischen
Wortbildungstheorie, die von einer scharfen Trennung von Syntax und Wortbildung
ausgeht und die Wortbildung im Rahmen des Lexikons ansiedelt (s. Kap. 2.4). Ob
aber tatsächlich alle phrasalen Erstglieder in Phrasenkomposita Zitate sind, ist unklar.
Es scheint sich vielmehr sehr oft um feststehende, lexikalisierte Ausdrücke zu han-
deln, z. B. Hier-kriegt-man-alles-was-man-braucht-Seminar oder Oben-ohne-Show.
Man kann annehmen, dass diese schon im Lexikon stehen und nicht in der Syntax
erzeugt werden (Meibauer 2003). Phrasenkomposita sind oft stilistisch markiert, sie
haben einen »expressiven« Charakter. Meibauer (2007) führt dies auf einen Konflikt
zwischen konversationellen Prinzipien zurück, die bei ihrer Interpretation beachtet
werden. Damit sind Phrasenkomposita ein weiteres Beispiel für die Wirksamkeit
morphopragmatischer Prozesse (vgl. Meibauer 2013, 2014).
2.6 | Derivation
2.6.1 | Haupttypen der Derivation
Unter Derivation wollen wir im Folgenden Präfigierung und Suffigierung verstehen;
man kann auch allgemein von Affigierung reden. Die Tabellen sind von Fleischer/
Barz (1995) übernommen (vgl. auch Fleischer/Barz 2012), werden aber hier auf der
Grundlage der Darstellungen in Eisenberg (2006) und Altmann/Kemmerling (2000)
kommentiert. Wir gehen der Reihe nach auf Nomen, Adjektiv, Verb und Adverb ein.
In Bezug auf diese Wortarten ist jeweils nach Präfigierung und Suffigierung sowie
nach nativen und nicht-nativen Affixen zu unterscheiden (zu Letzteren vgl. Lüdeling/
Schmid/Kiokpasoglou 2002).
55
2.6
Lexikon und Morphologie
Präfix erz-, ge-, haupt-, miss-, un-, ur- a-/an-, anti-, de-/des-, dis-, ex-, hyper-,
in-, inter-, ko-/kon-/kol-, kom-, non-,
prä-, pro-, re-, super-, trans-, ultra-
1. Native Präfixe:
(84) Erz+feind, Ge+büsch, Haupt+mann, Miss+stand, Un+art, Ur+wald
Schon bei deren Bestand gibt es Uneinigkeit in der Forschung: So werden bei Altmann/
Kemmerling (2000, 108 ff.) nur un- und ge- genannt; daneben wird auf das nicht
mehr produktive be- in Be+hörde, Be+huf verwiesen. Der Ausschluss von erz- und
haupt- hängt wohl mit ihrer Einstufung als »Präfixoide« zusammen (ebd., 103) (s. Kap.
2.6.3). Zu miss- wird explizit gesagt, dass es sich um ein Kompositionselement –
mit unklarem kategorialem Status! – handele, da es in Bildungen wie Miss+geburt
Miss+ernte, Miss+fallen noch »Restmerkmale eines selbständigen Morphems« (ebd.,
108) aufweise, vgl. ver+miss+en, miss+lich.
In der Darstellung von Eisenberg (2006, 247–254) werden die Präfixe un- und
ge- besonders hervorgehoben. Un- kommt auch als adjektivisches Präfix vor, vgl.
ungut, unbequem; die Gruppe der Präfixe erz-, miss-, un-, ur-, mit denen Nomen
und Adjektive gebildet werden, fasst Eisenberg (2006, 246) als »nominale« Präfixe
zusammen. Interessant ist nun, dass in diesem Bereich große Produktivitätsunter-
schiede herrschen. Un+N ist so gut wie unproduktiv (Unart, Undank, Unwetter,
Unkraut; *Unkult, *Uncomputer); bei Un+A ist eine einfache Basis möglich (undicht,
uncool), aber die Menge der einfachen Adjektive ist begrenzt; hochproduktiv sind
jedoch komplexe Un+A-Bildungen, wenn die Adjektive partizipial sind (unbeobachtet,
unbewiesen) oder nach einem produktiven Muster der Suffigierung (unbrauchbar,
unfilmisch) gebildet sind (vgl. Lenz 1995).
Das Präfix ge- tritt an Nomen oder Verben; es bildet Kollektiva (also etwa die
Bedeutung ›eine Menge/Gesamtheit von etwas‹):
(85) a. Geäst, Gebälk, Gebüsch, Geflügel (Basis: N)
b. Gebell, Gebet, Gebrüll (Basis: schwaches V);
c. Gebäck, Gebiss, Gebot (Basis: starkes V)
Das Interessante am Präfix ge- ist nun, dass es sich wie ein Kopf verhält. Es scheint
bei (85b,c) die Kategorie zu bestimmen, das Genus (Neutrum) und die Flexionsklasse
(e-Plural). Mit anderen Worten, wir hätten hier eine Ausnahme vom Kopf-rechts-
Prinzip. Nach Eisenberg ist ge- in den Konfigurationen in (85) aber nicht mehr
produktiv. Nomen als Basen gibt es nicht mehr, schwache Verben wie unter (85b)
56
2.6
Derivation
ebenfalls nicht; bei den starken Verben wie unter (85c) gibt es immer eine markierte
Form, entweder Umlaut (Gebäck, Gewächs) oder Ablaut (Gebiss, Gebot). Auch diese
Gruppe ist nicht mehr produktiv. Produktiv ist nur das Muster Ge…e wie in (86a):
(86) a. Gebelle, Gebete, Gebrülle (vgl. Gebell, Gebet, Gebrüll)
b. Geschluchze, Geflachse, Geatme (nur mit -e)
c. Gefasel(e), Gezappel (e), Gewimmel(e) (mehrsilbige Stämme mit Schwa; auch mit -e)
Dass das Schwa eine Rolle spielt, sieht man an den Fällen mit mehrsilbigem Verbstamm
unter (86c), die mit oder ohne -e möglich sind (vgl. Neef 1996).
Während Olsen (1990c) für die Ge…e-Typen eine ternäre Analyse mit -e als
(rechtem!) Kopf annimmt, analysiert Eisenberg (2006) (binär, aber mit sich über-
kreuzenden Kanten?) Ge…e als Zirkumfix. Es sei unwahrscheinlich, dass -e ein
Derivationssuffix sei, da es als Schwa im Auslaut von Feminina (Wiese, Rippe) und
schwachen Maskulina (Hase, Schwede) »funktional anderweitig hoch belastet« sei
(ebd., 244). Hier gibt es sicher noch weiteren Diskussionsbedarf.
2. Als typisches nicht-natives Präfix gilt ex- (vgl. Rothstein 2009b). Genauer gesagt
gehört es zu den Lehnpräfixen (und nicht zu den Fremdpräfixen), da es sich auch mit
nativen Basen verbindet. Ex- tritt wie un- ebenfalls an nominale und adjektivische
Basen:
(87) a. Ex-Azubi, Ex-Gatte, Ex-Hippie, Ex-Kolonie
b. ex-jugoslawisch, ex-kommunistisch
Das Präfix ex- hat sich abgelöst, es kommt als Nomen vor (Seine Ex hat wieder mal
angerufen) und als Verb (exen ›jdn. von der Schule verweisen‹, ›Glas/Flasche in einem
Zug leeren‹). Es hat interessante temporale Eigenschaften, da es eine Bezugszeit benö-
tigt. Zum Beispiel ist ein Ex-Rocker jemand, der bis zu einem bestimmten Zeitpunkt
ein Rocker war, danach aber nicht mehr.
3. Bei den nativen Suffixen heben wir besonders -er hervor, auf das wir schon ausführ-
lich eingegangen sind (s. Kap. 2.4.2). In der Aufstellung nach Fleischer/Barz (1995)
sind auch -wesen und -werk als Suffixe angesetzt. Das dahinter stehende Problem
soll hier kurz erläutert werden.
Zunächst sehen -wesen und -werk wie ganz normale Kompositionsglieder aus.
Vergleicht man sie jedoch mit ihren frei vorkommenden Gegenstücken, stellt man eine
Tendenz zur semantischen Entleerung des Zweitglieds fest; zum Beispiel bezeichnet
Verkehrswesen nicht das Besondere am Verkehr, sondern den ganzen Bereich der
Verkehrsorganisation, und Laubwerk bezeichnet keine Art von Werk, sondern Laub.
Hinzu kommt Reihenbildung, d. h. es gibt mehrere Bildungen, die sich dem Muster mit
dem semantisch entleerten Zweitglied anschließen. Man hat solche Elemente daher als
Suffixoide oder Halbsuffixe bezeichnet, vgl. Vögeding (1981). (Entsprechend redet man
auch von Präfixoiden, z. B. Haupt- in Hauptbahnhof, Hauptverteiler, bzw. allgemein
von Affixoiden.) Verschiedene Gründe wurden vorgebracht, die auf die Ablehnung
von Affixoiden in einer synchronen Wortbildungstheorie hinauslaufen (Schmidt 1987).
Olsen (1986b) argumentiert, dass es sich um Kompositionsglieder handelt, während
Fleischer/Barz (1995) entsprechende Elemente einfach als Suffixe behandeln. Beide
Ansätze können nicht ganz befriedigen, weil sie der Tatsache nicht Rechnung tragen,
dass es sich letztlich um ein Phänomen des Sprachwandels handelt (s. Kap. 8.3).
57
2.6
Lexikon und Morphologie
Schließlich ist auf die Gruppe der Suffixe -chen, -lein (Diminutivsuffixe), sowie
-in, -er/-ich/-erich (Movierungssuffixe, vgl. Doleschal 1992) hinzuweisen, die alle
keine kategorienverändernde Eigenschaft haben.
4. Als nicht-natives Suffix betrachten wir -iker (vgl. Altmann/Kemmerling 2000, 122).
Dessen Entstehen kann man auf eine reguläre -er-Bildung wie Komik+er, die als
Kom+iker reanalysiert wurde (vgl. auch Botaniker, Politiker), zurückführen. Daher
hat man sehr oft Konfixe als Erstglieder, z. B. Allerg+iker, Chem+iker, Fanat+iker,
Stud+iker.
(88) Affixe der Adjektiv-Derivation
Adjektiv nativ nicht-nativ
Präfix erz-, miss-, un-, ur- a-/an-, anti-, de-/des-/dis-, ex-, hyper-,
in-/il-/im-/ir-, inter-, ko-/kon-/kor-, non-,
para-, post-, prä-, pro-, super-, trans-, ultra-
Suffix -bar, -e(r)n, -er, -fach, -abel/-ibel, -al/-ell, -ant/-ent, -ar/är, -esk, -iv,
-haft, -icht, -ig, -isch, -oid, -os/ös
-lich, -los, -mäßig,
-sam
Das Adjektivpräfix ur- wird bei Altmann/Kemmerling (2000) nicht genannt, aber es
gibt einschlägige Bildungen wie uralt, urgut, urgemütlich. Auf das native Präfix un-
sind wir oben schon eingegangen, ebenso auf das nicht-native Präfix ex-. Zusätzlich
zu ex- gibt es beim Adjektiv noch eine Reihe weiterer nicht-nativer Negationspräfixe,
nämlich a-/an- (sowie ar-), in-/il-/im-/ir-, de-/des-/dis- (sowie di-/dif-) und non-. Alle
kommen nur mit nicht-nativen Basen vor.
Sehr gut untersucht ist das Adjektivsuffix -bar. Mit ihm sind besondere Ei-
genschaften verbunden, die man an den folgenden Sätzen verdeutlichen kann (vgl.
Toman 1987, 66 ff., Olsen 1986a, 88 f., Eisenberg 2006, 279 f.):
(89) a. Jochen löst die Aufgabe.
b. Die Aufgabe ist (von Jochen) lösbar.
c. Die Aufgabe wird (von Jochen) gelöst.
Das Verb lösen ist transitiv, es verlangt ein Komplement in Form einer Nominalphra-
se im Nominativ (Subjekt) und ein Komplement in Form einer Nominalphrase im
Akkusativ, vgl. (89a). In Konstruktionen mit einem -bar-Adjektiv wird das Akku-
sativobjekt zum Subjekt im Nominativ, während das ehemalige Subjekt durch eine
Präpositionalphrase realisiert werden kann oder ganz wegfallen kann, vgl. (89b). Die
Parallele zu einem werden-Passiv wie in (89c) ist deutlich. Bar-Adjektive operieren
also passivähnlich über dem Valenzrahmen (›Argumentstruktur‹) des Basisverbs,
wobei klar ist, dass das -bar-Adjektiv einen Zustand (eine Disposition) bezeichnet,
das Passiv dagegen einen Prozess. Um diesen regelhaften Zusammenhang zwischen
der Argumentstruktur des Basisverbs und der -bar-Ableitung zu erfassen, kann man
auch von Argumentvererbung sprechen (vgl. Toman 1998).
Los- und -mäßig gelten oft als Affixoide. Auf die Affixoidproblematik sind wir
oben schon eingegangen.
Die nicht-nativen Adjektivsuffixe -abel/-ibel entsprechen dem nativen Suffix
-bar. Sie nehmen Nomen als Basis (komfortabel, profitabel) oder Verben auf -ieren,
58
2.6
Derivation
ab-, an-, auf-, aus-, be-, bei-, dar-, de-/des-/dis-, in-, inter-,
ein-, ent-, er-, ge-, los-, miss-, nach-, ko-/kom-/kon-/kor-/kol-,
Präfix
ob-, über-, um-, unter-, ver-, vor-, prä-, re-, trans-
wider-, zer-, zu-
Auf die Gruppe der nativen Präfixe werden wir im nächsten Abschnitt »Präfix- und
Partikelverben« detailliert eingehen. Unter den nicht-nativen sei das Negationspräfix
de/-des-/dis- wie in desinfizieren, destabilisieren usw. hervorgehoben.
Das Infinitivmorphem -en wird als Flexionsmorphem betrachtet, nicht als
Derivationsmorphem. Dagegen sind die genannten nativen Verbalisierungssuffixe
tatsächlich Suffixe, die zur Bildung verbaler Stämme dienen:
(91) a. ängst+ig(en), fest+ig(en), befehl+ig(en)
b. dräng+el+n, äug+el+n, fenster+l+n
c. steig+er+n, folg+er+n, schmäl+er+n
d. form+ier+en, buchstab+ier+en, autor+isier+en, krit+isier+en, klass+ifizier+en
Man beachte, dass -(is/ifiz)ier bei Fleischer/Barz (1995) als natives Suffix firmiert,
vermutlich deshalb, weil native Wurzeln wie in buchstabieren möglich sind. Altmann/
Kemmerling (2000) weisen aber darauf hin, dass diese Gruppe Suffixbetonung hat,
was für die nativen Suffixe in der Regel nicht gilt. Dies wäre in der Tat ein Argument
dafür, sie den nicht-nativen Verbalisierungssuffixen zuzuordnen.
(92) Suffixe beim Adverb
Adverb nativ
Suffix -dings, -ens, -halben/-halber, -hin, -lei, -lings, -mals, -maßen, -s,
-wärts, -weg, -weise
Wir stellen fest, dass es im Bereich der Adverbbildung keine Präfixe gibt, und dass es
keine nicht-nativen Affixe gibt. Die Wortbildung des Adverbs ist insgesamt nicht gut
untersucht, eine erste Übersicht findet sich in Altmann/Kemmerling (2000, 153–168).
Wir weisen hier auf das produktive -weise wie in blöderweise, bescheuerterweise
hin; wobei besonders interessant ist, dass – untypisch für ein Suffix – der Bezug zum
Nomen Weise, aus dem das Suffix sich entwickelt hat, noch transparent ist.
59
2.6
Lexikon und Morphologie
Zu den Präfixverben gehören alle Verben, die die folgenden Präfixe aufweisen:
(94) ge-, er-, ver-, be-, ent-/ant-/emp-, zer-, miss-
Es handelt sich dabei um echte Präfixe in dem Sinne, dass es keine frei vorkommenden
Gegenstücke gibt. Sie sind vermutlich aus Präpositionen entstanden, sind aber heute se-
mantisch entleert. Treten sie mit adjektivischen oder nominalen Wurzeln auf, also
verjüngen oder vergesellschaften, kann man sie als Kopf betrachten. Die Kategorie
Verb kann ja nicht vom Adjektiv jung oder dem Nomen Gesellschaft kommen, es
kann also nur das Präfix dafür verantwortlich sein. Dies ist tatsächlich die Auffas-
sung von Eisenberg (2006, 253). Eine Alternative ist, eine Konversion zu einem Verb
*jüngen oder *gesellschaften (parallel zu (die Pflanze) topfen oder (das Geld) sacken))
anzunehmen; dann kann das Verb als Kopf analysiert werden (z. B. Thurmair 1997;
vgl. auch Olsen 1990 b).
Be- ist dasjenige Präfix, das bisher am gründlichsten analysiert worden ist (vgl.
Wunderlich 1987). Es ist nach wie vor sehr produktiv. Die wichtigste Funktion von
be- ist, dass es transitive Verben ableitet (z. B. behängen, bereifen, beatmen); dabei
können die Komplementtypen des be-Verbs systematisch auf diejenigen des Basis-
verbs zurückgeführt werden (vgl. Eisenberg 2006, 261–264). Dies kann man sich
an Paaren wie Monika klebt Plakate an die Wand versus Monika beklebt die Wand
mit Plakaten klarmachen.
Betrachten wir noch einmal ein typisches Präfixverb wie bewässern. Wir können
feststellen, dass bewässern sich niemals in seine Elemente aufspalten lässt. Das ist bei
einem typischen Partikelverb wie anrufen anders:
(95) a. *Die Bauern wässerten das Brachland be. bewässern
b. Nastassja rief den Regisseur an. anrufen
Man kann sagen, dass ein Verb wie anrufen syntaktisch trennbar ist. Die Elemente
des Verbs bilden eine verbale Klammer, und zwar so, dass der finite Verbstamm die
linke Satzklammer besetzt, während die Partikel die rechte Satzklammer besetzt (s.
Kap. 4.2). Das Element an hat ein Gegenstück bei den Präpositionen, für be- gibt es
kein solches Gegenstück in einer anderen Wortart.
Nicht alle Verben, die wie Partikelverben aussehen, d. h. kein typisches verbales
Präfix aufweisen, sind auch syntaktisch trennbar. Diese Klasse von Verben nennen
wir Partikelpräfix-Verben. (Es handelt sich um ›Partikeln‹, die sich wie Präfixe ver-
halten.) Ein solcher Fall ist zum Beispiel das Verb umfahren in der Bedeutung, die
in (96a) vorliegt:
(96) a. Die Fahrerin umfährt den Poller. Partikelpräfix-Verb
b. Die Fahrerin fährt das Hindernis um. Partikelverb
Neben der syntaktischen Trennbarkeit spielt auch die morphologische Trennbarkeit
eine Rolle. Unter morphologischer Trennbarkeit versteht man das Verhalten beim
60
2.6
Derivation
zu-Infinitiv und beim Partizip II. Partikelverben haben das zu wortintern, es liegt
also morphologische Trennbarkeit vor. Das erlauben Partikelpräfix-Verben niemals.
Genauso ist beim Partikelverb das ge beim Partizip II wortintern realisiert, bei
Partikelpräfix-Verben geht das nicht.
Hinzu kommt ein wichtiger Unterschied hinsichtlich des Wortakzents: Partikel-
verben haben den Akzent auf der Partikel, beim Partikelpräfixverb wird wie beim Prä-
fixverb der Stamm betont. Und schließlich ist auch die Produktivität unterschiedlich. Es
gibt sehr viele Neubildungen vom Typ Partikelverb, aber nur wenige vom Typ Partikel-
präfix-Verb. Die folgende Tabelle fasst die wesentlichen Unterschiede zusammen.
(97) Partikelverb und Partikelpräfix-Verb
Umfahren Partikelverb Partikelpräfix-Verb
syntaktische Trennbarkeit Er fährt den Poller um. Er umfährt den Poller.
morphologische Trennbarkeit die Chance, den Poller die Chance, den Poller
Q zu-Infinitiv umzufahren zu umfahren
Q Partizip Perfekt er hat den Poller er hat den Poller
umgefahren umfahren
Akzent UMfahren umFAHren
Produktivität viele Neubildungen: nur begrenzt produktiv
antörnen, abhängen
usw.
Damit ist aber das ganze Spektrum der ›Partikeln‹ noch nicht erschöpft. Als weiteres
Erstelement sind Doppelpartikeln zu nennen, wobei man hier wieder verschiedene
Typen unterscheiden kann, z. B. her+unter+ziehen, hinter+her+laufen, mit+ein+bezie-
hen. Und schließlich haben wir Adverbien, Adjektive, Nomen und Verben als Erst-
glieder, die sich teilweise wie »Partikeln« verhalten, z. B. zusammenAdv+brechen,
breitAdj+schlagen, kennenV+lernen.
2.6.3 | Zusammenbildungen
Angenommen, wir wollten die Struktur des Adjektivs zielstrebig wiedergeben. Wie
würden wir das machen? Als Erstes analysieren wir das Wort als Kompositum:
(98) A
N A
V Aaf
ziel streb ig
Diese Analyse besagt, dass es ein Adjektiv strebig gibt, was falsch ist. Probieren wir
es daher mit einer Analyse als Derivation:
61
2.6
Lexikon und Morphologie
(99) A
?? Aaf
N V
ziel streb ig
Diese Analyse besagt, dass es ein Element zielstreb gibt. Sinnvoll wäre es, ein solches
Element als Verb zu betrachten. Fleischer/Barz (1995, 257) reden hier von einer
»verbalen Wortgruppe«, aber dies ist keine Kategorienbezeichnung.
Wenn die beiden bisher ausprobierten binären Strukturierungsmöglichkeiten
– als Kompositum und als Derivation – nicht überzeugen, warum versuchen wir es
nicht mit einer ternären? Dann hätten wir die folgende Struktur:
(100) A
N V Aaf
ziel streb ig
In (100) würde dann tatsächlich ein eigener Typ von Wortbildung vorliegen, nämlich
die Zusammenbildung.
Solche Zusammenbildungen gibt es nicht nur bei den Adjektiven, sondern
auch bei den Nomen, den Adverbien und sogar bei den Determinantien. Die folgende
Tabelle (nach Leser 1990, 5) stellt einschlägige Beispiele zusammen:
(101) Typen der Zusammenbildung (nach Leser 1990)
Zusammenbildungen
Nomen Schriftsteller, Grundsteinlegung, Vogelscheuche; Leisetreter,
Schadloshaltung, Instandsetzung; Zahnputzglas, Minenräum-
boot; Dickhäuter, Altsprachler; Rechtshänder; Zehnpfünder,
Vierundzwanzigflächner; Altweibersommer; Hinterglasmale-
rei; Fünfjahresplan
Adjektive zielstrebig, handgreiflich, halsbrecherisch, hausbacken;
schwerhörig, wahrscheinlich, gleichmacherisch, altbacken;
vorläufig, eindeutig; fahrlässig; blechkehlig, bernsteinfarben;
breitkrempig, buntfarben, neutestamentlich, langgeschwänzt;
rechtsseitig, mehrdimensional; überjährig, vorgeburtlich;
hundertprozentig, eindimensional; hängeflügelig; diesjährig,
neunrösserstark
Adverbien zeitlebens; beiderseits; niemals; unterwegs; erstmals; diesseits
Determinantien derjenig-
62
2.7
Konversion
(102) Zusammenbildungen
Zusammenbildungen sind dreigliedrige Wortbildungen der Form S1S2X, mit Si = Stamm,
X = Stamm oder Suffix, wobei *S1S2 und *S2X in semantischer Verwandtschaft nicht
frei vorkommen.
Das Beispiel zielstrebig hat die Form Stamm1+Stamm2+Suffix, und weder Stamm1+
Stamm2 (= zielstreb-) noch Stamm2+Suffix (= strebig) kommen frei vor.
Das Beispiel Zahnputzglas hat die Form Stamm1+Stamm2+Stamm3, und weder
Stamm1+Stamm2 (= Zahnputz) noch Stamm2+Stamm3 (= Putzglas) kommen frei vor.
Was hat es mit der Einschränkung »in semantischer Verwandtschaft« auf sich?
Betrachten wir dazu das Beispiel Schriftsteller. Es gibt nicht schriftstell-, aber gibt es
nicht Steller? Das gibt es in der Tat als Bezeichnung für einen Spieler beim Volleyball.
In dieser Bedeutung liegt Steller aber nicht im Wort Schriftsteller vor, es handelt sich
also nicht um einen Fall von »semantischer Verwandtschaft«.
Es hat nun immer wieder Versuche gegeben, dem Zwang zur Einrichtung eines
weiteren Wortbildungstyps neben der Komposition und der Derivation, nämlich der
Zusammenbildung, dadurch zu entgehen, dass man nachweist, dass es sich eigentlich
um normale Fälle der Derivation oder Komposition handelt. Einen Derivationsansatz
vertritt Höhle (1982), der u. a. auf Parallelen zwischen Bildungen wie dreimastig, Drei-
master, Dreimastboot verweist. Hier handelt es sich immer um das Element dreimast,
welches einmal mit den Suffixen -ig und -er kombiniert wird, das andere Mal mit dem
Nomen boot. Dreimast ist also ein gebundenes (nicht frei vorkommendes) Element
der Kategorie N, dabei selbst ein Kompositum. Für diese Analyse spricht auch, dass
Elemente wie dreimast im Prinzip frei vorkommen können, vgl. Dreirad oder Ein-
baum. Dagegen argumentiert Leser (1990), dass es sich bei den Zusammenbildungen
um Komposita handelt. Anhand des N+V+er-Typs wie zum Beispiel Appetithemmer
versucht er den Nachweis, dass es sich um ein Rektionskompositum im Sinne von
Olsen (1986a) handelt. Bei Fällen wie Rechenschieber nimmt er Lexikalisierung an.
Probleme bereiten aber Fälle wie Muntermacher oder grünäugig.
2.7 | Konversion
2.7.1 | Haupttypen der Konversion
Wir folgen Eisenberg (2006, 294 f.) darin, zwischen ›syntaktischer Konversion‹ wie
in (103) und ›morphologischer Konversion‹ wie in (104) zu unterscheiden. Nur die
Letztere ist Gegenstand der Wortbildungs-Theorie.
(103) a. laufen q das Laufen VqN
b. gestrichen q gestrichen VqA
c. gut q der/die/das Gute AqN
d. gestrichen q der/die/das Gestrichene AqN
e. entscheidend q der/die/das Entscheidende AqN
(104) a. laufen q der Lauf VqN
b. grün q grünen AqV
c. Gras q grasen NqV
63
2.7
Lexikon und Morphologie
Warum handelt es sich in (103) um syntaktische Konversion? Dies hängt mit der
Überlappung in syntaktischen Kontexten zusammen.
Sehen wir uns dazu zunächst substantivierte Adjektive wie unter (103c-e) an:
(105) a. der gute Wagen – der Gute
b. die gestrichene Treppe – die Gestrichene
c. das entscheidende Tor – das Entscheidende
Die attributiven Adjektive sind jeweils formgleich mit den substantivierten Adjektiven;
daher ist anzunehmen, dass es sich bei dem -e-Suffix nicht um ein Derivationsmor-
phem, sondern um das Flexionsmorphem des Adjektivs handelt. Es scheint daher
möglich, der Gute/die Gestrichene/das Entscheidende jeweils als Ellipsen aus den
vollständigen Nominalphrasen zu analysieren.
Auch beim substantivierten Infinitiv wie unter (103a) gibt es Überlappungen
mit der Syntax, die zumindest eine Syntaxnähe dieser Typen nahelegen:
(106) a. Karlchen will leben/Leben. (transitiver Modalverbgebrauch)
b. Bier trinken/Biertrinken ist gesund. (verbaler Inf./Rektionskompositum)
c. Nastassja ist am telefonieren/Telefonieren. (Verlaufsform)
Die meisten konventionellen VqN-Konversionen wie in (109a) sind wohl schon idio-
matisch; Neubildungen wie in (109b) sind jedoch in beschränktem Umfang möglich
und haben immer den s-Plural:
(109) a. Blick, Halt, Knall, Rat (einfache Basen); Befehl, Beginn, Beleg (komplexe Basen)
b. Dreh, Schwenk, Stau, Treff, Fick, Kick
Die NqV-Konversion hält man für produktiver, vor allem, weil man hier auf eine
größere Zahl Entlehnungen aus dem Englischen verweisen kann:
(110) bluffen, drummen, flippen, grillen, jazzen, jobben, mobben, shoppen, tippen, trucken
(Eisenberg 2006, 298); floppen, toppen (›übertrumpfen‹)
64
2.7
Konversion
Bei der AqV-Konversion kann man zwar auf eine Reihe von Bildungen wie unter
(111) verweisen, in Bezug auf die Produktivität dieses Typs ist man jedoch unschlüssig:
(111) faulen, heilen, reifen, runden, schnellen, schrillen, trocknen, trüben, weißen
(Eisenberg 2006, 299)
Dieser Typ könne durchaus »strukturell produktiv« (Eisenberg 2006, 299) sein, da
die Zahl der morphologisch einfachen Adjektivbasen ja beschränkt sei.
2.7.2 | Ableitungsrichtung
Damit kommen wir zum Problem, welche Argumente es für die Annahme bestimmter
›Ableitungsrichtungen‹ gibt. Es ist zwar intuitiv einsichtig, dass das Verb fischen vom
Nomen Fisch kommt, und das Nomen Treff vom Verb treffen. Aber was sind die Gründe
für diese unterschiedlichen Ableitungsrichtungen? Und kommt Mief nun von miefen
oder miefen von Mief? In Bezug auf die Ableitungsrichtung ist eine gewisse Zurückhal-
tung in der Forschung zu spüren. Einerseits benötigt man das Konzept, um erklären zu
können, warum nicht alle Möglichkeiten der Konversion gleichermaßen ausgeschöpft
werden, warum es z. B. eher AqV-Konversion gibt als VqA-Konversion. Andererseits
sind die Kriterien für die Feststellung einer Ableitungsrichtung nicht vollkommen klar.
Bei Fleischer/Barz (1995, 210 f.) werden drei Kriterien genannt. Das morphologische
Kriterium besagt, dass es sich in Fällen wie Befehl, Entscheid, Erfolg, Verkehr, Zerfall
um VqN-Konversionen handeln muss, denn die Präfixe be-, ent-, er-, ver-, zer- kom-
men nur bei Verben vor. Das Produktivitätskriterium geht davon aus, dass es sich bei
einem problematischen Fall wie Ruf-rufen um die NqV-Konversion handelt, da diese
produktiver ist als die VqN-Konversion. Das semantische Kriterium bezieht sich auf
die Bedeutung der beteiligten Wörter. So heißt fischen soviel wie ›Fische fangen‹, aber es
ist kein Hauptmerkmal von Fisch, dass er gefangen/gefischt wird (also NqV); schauen
heißt nicht ›sich mit einer Schau beschäftigen‹, aber es ist ein wichtiges Merkmal einer
Schau, dass sie betrachtet/angeschaut wird (also: VqN). In Zweifelsfällen müsse die
Entscheidung jedoch offen bleiben (Fleischer/Barz 1995, 210, Eisenberg 2006, 299).
Motsch (1999) verzichtet vollkommen auf die Repräsentation einer Ablei-
tungsbeziehung im Lexikon. Bei einem Wortbildungsmuster müsse immer die Basis
semantisch und/oder phonologisch verändert werden. Dies sei bei Konversionen nicht
der Fall. In Fällen wie rufen/Ruf, schlagen/Schlag, schreien/Schrei nimmt Motsch
daher eine doppelte Kategorisierung an, d. h. es liegt bei diesen Paaren keine mor-
phologische Beziehung und entsprechend auch keine Ableitungsrichtung vor. Das
Gleiche gilt bei Hunger/hungern, Durst/dürsten, Leid/leiden, Trauer/trauern, Hader/
hadern, Geiz/geizen und bei schrill/schrillen, toll/tollen, krank/kranken, siech/siechen,
bang/bangen, wach/wachen, nass/nässen, gleich/gleichen und für Fälle wie Dunkel/
dunkel, Elend/elend, Ernst/ernst. Motsch (1999, 178) sieht solche Beziehungen als
»innerlexikalische Beziehung«, nicht als Wortbildungsmuster.
Wenn man die ›Kosten‹ der Doppelkategorisierung (also zweier voneinander
unabhängiger Lexikoneinträge) nicht scheut, sieht das wie eine verblüffend einfache
Lösung aus. Aber es fragt sich, ob hier nicht der Teufel mit dem Beelzebub ausge-
trieben wird. Neubildungen wie Jet q jetten sind ja möglich. Es besteht kein Zweifel
über eine Ableitungsrichtung. Nach Motsch wäre der Zusammenhang aber bloßer
Zufall, der Bezug der beiden Wörter aufeinander könnte nicht ausgedrückt werden.
65
2.7
Lexikon und Morphologie
Suffixe haben die generelle Eigenschaft, eine Kategorie in eine andere zu überführen.
Genau wie das Adjektiv legal durch das Suffix -ize in ein Verb überführt werde, so
werde das Adjektiv clean durch das Nullsuffix Ø in ein Verb überführt.
Der Nullsuffix-Ansatz wird nun durch Olsen weiter ausgebaut. Der Konversi-
onsbildung zelten kommt die folgende Struktur zu:
(113) V
N M
[+V]
[+schwach]
Zelt Ø
Neben diesem Nullmorphem wird noch genau ein weiteres angenommen, das als [+N,
Genus, Flexionsklasse] charakterisiert wird und das man für die VqN-Konversion
benötigt (vgl. Olsen 1990b, 205).
66
2.7
Literatur
Gegen diese Analyse kann man eine Reihe von Einwänden vorbringen. Ein
allgemeiner Einwand ist, dass die Annahme von nicht sichtbaren Elementen theore-
tisch fragwürdig ist. Der einzige theoretische Vorteil des Nullmorphems scheint darin
zu bestehen, dass es die Rechtsköpfigkeit sichert. Aber auch dies geschieht indirekt,
über die Merkmalsspezifizierung, da ja »M« kein Kategoriensymbol ist. Speziellere
Einwände stützen sich auf die Schwierigkeiten, die es mit der Ausfüllung der Lexi-
koneinträge gibt, da das Nullsuffix nicht wie die anderen Suffixe hinsichtlich seiner
Merkmale festgelegt werden könne (vgl. Lieber 1981b, Olsen 1990b).
Es gibt also eine Reihe von Einwänden gegen eine Derivationsanalyse für Kon-
versionen, die auf der Annahme eines Nullsuffixes basiert. Die Umkategorisierungs-
Analyse wurde vor allem deshalb verworfen, weil sie nicht-konkatenativ und kopflos
war. Die Zurückführung der Konversion auf die Derivation wurde mit der Einführung
des Nullmorphems teuer erkauft. Dessen Status im Lexikon ist nicht geklärt, insbe-
sondere hat man keine klaren Vorstellungen über die nötigen Lexikoneinträge. Eine
Umkategorisierungs-Analyse, wie sie zum Beispiel Eschenlohr (1999, 46 ff.) vertritt,
ist also nicht ganz von der Hand zu weisen. Damit wäre die Konversion der dritte
Haupttyp der Wortbildung neben der Komposition und der Derivation.
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Lexikon und Morphologie
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Jörg Meibauer
70
3.1
3 | Phonologie
3.1 | Einleitung
Die linguistische Teildisziplin Phonologie befasst sich, grob gesprochen, mit ›lautlichen
Aspekten der Sprache‹. Der Phonologe hat es mit konkreten mündlichen Äußerun-
gen zu tun, die in Datenkorpora erfasst sind. Diese Korpora analysiert er mit zwei
Methoden: a) der Segmentierung und b) der Klassifizierung.
Die erfolgreiche Anwendung dieser Methoden erfordert zwei Prämissen:
1. Eine Äußerung lässt sich in einzelne Segmente mit klaren Grenzen gliedern.
Goldsmith (1976, 17) nennt diese Prämisse die »absolute slicing hypothesis«. Die
Auffassung, dass der »Redestrom« sich in einzelne Scheibchen schneiden lässt, ver-
steht sich keineswegs von selbst. In Wirklichkeit überlagern sich die verschiedenen
Artikulationsbewegungen beim Sprechen. Wenn wir z. B. das Wort Kuh aussprechen,
so runden wir die Lippen bereits beim initialen k und nicht erst beim u, während wir
sie bei der Produktion des Wortes Kiel von Anfang an spreizen. Das bedeutet, ein
k vor dem Vokal i wird anders realisiert als ein k vor u. Diese gegenseitige Überla-
gerung von Artikulationsbewegungen wird als Koartikulation bezeichnet. Fertigen
wir andererseits eine Tonbandaufnahme der Äußerung von Kuh (oder Kiel) an und
schneiden dann das Band in immer kleinere Teile, so hören wir beim Abspulen trotz-
dem immer noch eine Lautsequenz ku bzw. ki und keinen Einzellaut k. Das bedeutet,
eine Isolierung von Einzelsegmenten in Äußerungen ist sehr schwierig, wenn nicht gar
unmöglich. Untersuchungen, die diesen Sachverhalt verdeutlichen, werden in Maas
(1999, Kap. 3) zusammengefasst.
Möglicherweise wird die Vorstellung, ein kontinuierliches Sprechereignis sei
in einzelne diskrete (= unterscheidbare) Abschnitte segmentierbar, durch die ca.
2000jährige Erfahrung mit der Alphabetschrift beeinflusst, die ja tatsächlich aus klar
abgrenzbaren Einheiten, den Buchstaben, besteht (zu dieser These vgl. Lüdtke 1969
und Tillmann/Günther 1986). Unbestreitbar ist allerdings, dass ein geschulter Hörer
in der Lage ist, eine Äußerung seiner Sprache in einzelne Laute (Phone, Segmente) zu
zerlegen. Als Hilfsmittel bedient sich der ›Ohrenphonetiker‹ dabei des international
gebräuchlichen Transkriptionssystems IPA (= International Phonetic Alphabet).
Im Handbuch der International Phonetic Association (2007) wird dieses System
ausführlich erläutert und anhand der Übersetzung der Äsop-Fabel Der Nordwind
und die Sonne in eine Reihe verschiedener Sprachen illustriert. Die für das Deutsche
relevanten IPA-Zeichen werden in Kapitel 3.2.2.3 erklärt. In (1) ist die Transkription
einer Äußerung des Wortes Kiel im IPA-System aufgeführt:
(1) Segmentation in Laute
Transkription einer Äußerung des Wortes Kiel: [k i Ü l]
71
3.1
Phonologie
Jeder Buchstabe innerhalb der eckigen Klammer repräsentiert einen auditiv segmen-
tierten Laut der Wortäußerung. Außerdem enthält die Transkription ein Zusatzzei-
chen (diakritisches Zeichen), den Doppelpunkt, zur Kennzeichnung der Länge des
Vokals [i].
Während die Prämisse der »absolute slicing hypothesis« für die Segmentation
grundlegend ist, wird folgende Hypothese für die Klassifizierung benötigt:
2. Die Methode der Klassifizierung beruht auf der Grundannahme, dass die sprach-
lichen Einheiten eine Struktur bilden.
Diese Prämisse besagt, dass die durch Segmentation gewonnenen Einheiten in regu-
lären Beziehungen zueinander stehen. Zwei Arten von Beziehungen werden von de
Saussure (1916) unterschieden:
(2) a. syntagmatisch: Relationen zwischen Einheiten in der linearen Kette (zeitlichen Se-
quenz) einer Äußerung (Einheiten in praesentia); Kette der Einheiten = Syntagma
b. paradigmatisch: Relationen zwischen Einheiten, die an der gleichen Stelle im Syntagma
füreinander einsetzbar sind (Einheiten in absentia); die Relation ist assoziativer Art,
sie besteht zwischen Einheiten im Gedächtnis; Menge paradigmatisch verknüpfter
Einheiten = Paradigma
In (3) sind diese beiden Arten von Relationen auf den drei Ebenen der Sprachstruktur
illustriert, (a) der syntaktischen, (b) der morphologischen und (c) der phonologischen
Ebene:
(3) a. syntaktische Ebene: b. morphologische Ebene:
der Vogel zwitschert ich lieb e am o
eine Katze miaut du lieb st am as
dieses Schaf blökt er/sie/es lieb t am at
Ottos Ziege meckert wir lieb en am amus
ihr lieb t am atis
sie lieb en am ant
c. phonologische Ebene:
[hUnt] Hund [fUnt] Fund
[mUnt] Mund [vUnt] wund
[ b U n t] bunt [RUnt] rund
Auf der phonologischen Ebene regeln die syntagmatischen Beziehungen die Abfolge-
möglichkeiten der einzelnen Segmente innerhalb eines Syntagmas. So ist im Deutschen
am Wortende die Folge [ n t ] möglich, nicht jedoch [ t n ].
Die Wörter in (3c) bilden nach syntagmatischen Regeln zugelassene Sequenzen
im Deutschen. Sie sind zugleich lexikalische Einheiten (s. Kap. 2.1), d. h. sie bilden
Lautketten, denen eine Bedeutung zugeordnet ist. Andere Kombinationen von
Segmenten, die ebenfalls die syntagmatischen Beschränkungen nicht verletzen, sind
dagegen (zufällig) nicht lexikalisiert (vgl. 4a vs. 4b):
(4) a. Baunt [ b a U8 n t ] b. * Bautn [ b a U8 t n ]
bent [bEnt] * betn [bEtn]
beunt [ b O I8 n t ] * beutn [ b O I8 t n ]
Die Formen in (4a) sind zufällige Lücken im Lexikon; sie bilden mögliche Wörter
des Deutschen. Die Sequenzen in (4b) dagegen sind systematische Lücken, da sie die
Folge [t n] enthalten, die keinen möglichen Teil eines Wortsyntagmas, genauer einer
72
3.1
Phonetische Grundlagen
Silbe darstellt. Sie sind daher im Deutschen nicht zugelassen, d. h. ungrammatisch (zur
Segmentfolge [t n`] in Wörtern wie Bauten und beten s. Kap. 3.3.4.2 und 3.4.2.1). Das
Sternchen vor den Wörtern in (4b) markiert diese Ungrammatikalität. Die Regeln der
syntagmatischen Verknüpfung von Segmenten zu Silben und Wörtern werden in der
Phonotaktik beschrieben. Phonotaktische Regularitäten werden im Zusammenhang
mit der Silbenstruktur in Kapitel 3.4.2 thematisiert.
In den Wörtern in (3c) werden die Segmente [h], [m], [R], [f], [v] und [b] an der
gleichen Stelle – am Wortanfang – füreinander eingesetzt. Sie sind folglich zu einem
Paradigma von Lauten klassifizierbar. Die Substitution eines der Laute durch einen
anderen führt jeweils zu einem wohlgeformten Syntagma. Darüber hinaus erfüllt die
Ersetzung im Gesamtsystem der Sprache die Funktion, Wörter zu differenzieren (s.
Kap. 3.3.1).
Die artikulatorische Phonetik beschäftigt sich mit dem Sprechvorgang insgesamt, die
akustische Phonetik mit den physikalischen Eigenschaften des übertragenen Schall-
signals und die auditive Phonetik mit der Perzeption dieses Signals durch den Hörer.
73
3.1
Phonologie
3.2.2.2 | Phonation
Bei ihrem Weg aus den Lungen durch die Luftröhre wird die ausgeatmete Luft im
Kehlkopf (der Larynx) in unterschiedlicher Weise modifiziert und zwar durch die
Stimmbänder (Stimmlippen, engl. ›vocal cords‹). Diese dienen als eine Art Ventil für
den Luftstrom: Sie können verschlossen werden und die Passage durch die Larynx
völlig blockieren, sie können geöffnet werden und die Luft ungehindert ausströmen
lassen, oder sie öffnen und schließen sich mit hoher Geschwindigkeit in regelmä-
ßigen Abständen, d. h. sie schwingen. In (6) sind diese drei Grundpositionen bzw.
-bewegungen der Stimmbänder schematisch dargestellt:
(6) Positionen der Stimmbänder
Schildknorpel
Stimmbänder
In (6) ist die Position der Stimmbänder innerhalb des Kehlkopfs in einem Querschnitt
– stark vereinfacht – dargestellt. Vorne im Kehlkopf befindet sich der Schildknorpel
(Thyroid), der bei einigen männlichen Personen als Adamsapfel sichtbar ist. An diesem
sind die beiden Stimmbänder befestigt. Im hinteren Bereich des Kehlkopfes sind diese
74
3.1
Phonetische Grundlagen
mit den beweglichen Stellknorpeln (Arytenoids) verbunden. Die Lücke zwischen den
geöffneten Stimmbändern, durch welche die Luft ausströmen kann, wird als Glottis
(Stimmritze) bezeichnet (zu Details des Aufbaus und der Funktionsweise der Kehl-
kopforgane vgl. Pompino-Marschall 2009, Kap. 1).
In den einzelnen Positionen werden folgende Laute produziert:
1. Werden die Stimmlippen fest verschlossen (vgl. 6a) und dann plötzlich geöffnet, so
entsteht ein Knackgeräusch. Der auf diese Weise produzierte Laut wird daher auch
als ›Knacklaut‹ bezeichnet, der wissenschaftliche Terminus ist ›Glottisverschlusslaut‹
(engl. ›glottal stop‹). In der internationalen Lautschrift IPA (vgl. 3.1) wird er mit dem
Zeichen [/] wiedergegeben. Im Deutschen wird der Knacklaut insbesondere vor be-
tonten Vokalen realisiert, und zwar am Wortanfang oder im Wortinnern nach einem
anderen Vokal (vgl. die Beispiele in (7)):
(7) a. [/] Apfel b. be[/]eilen
[/] essen Du[/]ell
[/] Igel Prä[/]ambel
Die meisten Sprecher sind sich nicht bewusst, dass sie einen solchen Laut in den Wör-
tern in (7) produzieren. Dieses mangelnde Bewusstsein hängt u. a. damit zusammen,
dass im Schriftsystem des Deutschen kein Buchstabe für diesen Laut vorhanden ist.
Offensichtlich ist unser Wissen um das Lautsystem der Sprache stark geprägt von
unserer Kenntnis der Orthographie. Dies illustriert auch folgendes Beispiel aus dem
Bereich der Vokale:
In den Wörtern Schoten und Schotten werden zwei verschiedene o-Laute rea-
lisiert, ein geschlossenes [o] und ein offenes [O]. Obwohl der Unterschied auditiv gut
wahrgenommen werden kann, ist er aufgrund der einheitlichen Schreibung für viele
Sprecher nicht transparent.
2. Wenn die Stimmlippen geöffnet sind (vgl. 6b), kann die Luft durch die Glottis
entweichen, ohne in Schwingungen versetzt zu werden. In dieser Position werden
stimmlose Laute produziert, z. B. die Konsonanten [t] und [s] in Tasse.
3. Durch eine rhythmische Abfolge von Öffnungen und Verschlüssen der Stimm-
bänder (vgl. 6c; der Zick-Zack-Pfeil symbolisiert diese Bewegungen) wird die aus-
strömende Luft selbst in Schwingungen versetzt. Auf diese Art wird ein Stimmton
erzeugt, die so realisierten Laute sind stimmhaft. Diese Eigenschaft besitzen im
Deutschen alle Vokale, Nasalkonsonanten (wie [m] und [n]) sowie [l] und [r]. Eine
weitere Lautklasse, die Obstruenten, bilden Paare von stimmlosen und stimmhaften
Varianten (vgl. das Korpus in (8); in den Paaren enthält das erste Wort jeweils den
stimmlosen Laut):
(8) [p] – [b] Pass – Bass [s] – [z] weißen – weisen
[t] – [d] leiten – leiden [f] – [v] Feier – Weier
[k] – [g] Kasse – Gasse
Die in eckigen Klammern stehenden Transkriptionssymbole sind übrigens nicht in
allen Fällen mit den entsprechenden Zeichen der deutschen Orthographie deckungs-
gleich: Dem Zeichen [z] entspricht in aller Regel ein <s> (Einheiten des Schriftsys-
tems werden in Spitzklammern notiert), [v] ein <w> oder ein <v> (z. B. in Vanille,
Violine, Veronika).
75
3.1
Phonologie
3.2.2.3 | Artikulation
Die Aktivitäten der Sprechorgane oberhalb der Glottis werden unter dem Terminus
›Artikulation (im engeren Sinne)‹ zusammengefasst. Der gesamte Bereich, in dem
sich diese Artikulation abspielt, wird als ›supraglottaler Raum‹, ›Sprechtrakt‹ (›vocal
tract‹) oder ›Ansatzrohr‹ bezeichnet. Der Sprechtrakt gliedert sich in drei Teilräume,
den Rachenraum, den Nasenraum und den Mundraum (vgl. die Abbildung in (9),
nach Heike 1972, 26):
(9) Artikulationsräume und -organe (Sagittalschnitt)
Bei ihrem Weg durch den supraglottalen Raum kann die Luft entweder ungehemmt
ausströmen oder sie wird durch die Bewegung eines Artikulationsorgans in irgen-
deiner Form behindert. In ersterem Fall werden Vokale produziert, im letzteren
Konsonanten.
1. Konsonanten: Bei der Artikulation von Konsonanten wird der Luftstrom an einer
Stelle im Mund- oder Rachenraum verengt oder kurzfristig ganz blockiert. Für
den Hörer entsteht durch diese Art der Lautproduktion ein Geräuscheindruck.
Konsonanten werden traditionell nach zwei Hauptkriterien klassifiziert: a) Art der
Luftstrombehinderung (Artikulationsart) und b) Stelle im supraglottalen Raum, an
der die Behinderung erfolgt (Artikulationsort). Hinzu kommt als drittes Kriterium –
wie bereits erläutert – der Stimmton. In Tabelle (10) sind die im Standarddeutschen
vorkommenden Konsonanten nach diesen drei Kriterien zusammengefasst (z. T. nach
Kohler 2007, 86 und Ramers 1998, 21):
76
3.1
Phonetische Grundlagen
In den Zeilen stehen die Artikulationsarten, in den Spalten die -orte. Stimmen zwei
Konsonanten in diesen Eigenschaften überein, so steht jeweils links das Transkrip-
tionssymbol für die stimmlose Variante, rechts für die stimmhafte. Diese Art der
Darstellung wird übrigens auch in der IPA-Tabelle verwendet.
Artikulationsarten:
Q Plosive (Verschlusslaute, Explosive, engl. ›stops‹) werden gebildet, indem der Mund-
raum völlig blockiert und dann wieder geöffnet wird (vgl. [p], [b] etc.). Die Luft
staut sich hinter dem Hindernis und erzeugt dann beim Entweichen ein kleines
Explosionsgeräusch. Auch der Glottisverschlusslaut [/] gehört aufgrund seiner
Artikulationsart zu dieser Klasse, da eine Blockade des Luftstroms in der Glottis
erfolgt (s. aber die phonologische Klassifikation in Kap. 3.3.3).
Q Frikative (Reibelaute, Spiranten, Engelaute) sind Konsonanten, die mit einer Ver-
engung des Luftstroms im Mund- oder Rachenraum produziert werden. Die durch
diese Verengung gepresste Luft wird in Turbulenzen versetzt, die als Reibegeräusch
wahrgenommen werden (vgl. [f], [v] usw.). Bei [h] erfolgt die Engebildung in der
Glottis selbst (s. aber Kap. 3.3.3).
Q Nasale werden, wie die Plosive, mit vollständigem Verschluss im Mundraum ge-
bildet (im Deutschen [m], [n] und [N]). Allerdings kann die Luft bei Nasalen durch
die Nase entweichen: Das bewegliche Velum (der weiche Gaumen) wird gesenkt
und gibt die Passage durch die Nasenhöhle frei (vgl. Abb. (9)). Bei oralen Lauten
dagegen ist das Velum gehoben und verschließt den Nasenraum.
Q Bei Lateralen (Seitenlauten) wird der Mundraum nur in der Mitte verschlossen
und die Luft kann an einer oder beiden Seiten entweichen. Das Standarddeutsche
kennt nur den Lateral [l].
Q Vibranten (Zitterlaute, r-Laute) werden durch Vibrationen eines flexiblen Ar-
tikulationsorgans erzeugt. Die Zungenspitze (apex) oder das Zäpfchen (uvula)
werden mehrmals (bei trills) oder nur einmal (bei flaps) gegen die Alveolen bzw.
die Hinterzunge geschlagen. Im Deutschen wird sowohl das apikale [r] (»gerolltes
Zungenspitzen-r«) als auch das uvulare [R] realisiert (s. Kap. 3.3.2).
Eine weitere Konsonantenklasse bilden die Affrikaten: Sie sind Kombinationen aus
einem Plosiv und einem Frikativ, die am gleichen Artikulationsort gebildet werden
(die homorgan sind). Da sie – phonetisch gesehen – Konsonantenkombinationen
(Cluster) und keine Einzelkonsonanten bilden, sind sie nicht in die Tabelle (10)
übernommen worden. Im Deutschen gehören die Cluster [pf] (z. B. in Pferd), [ts] (in
Zeit und Katze), [tS] (in Matsch) und [dZ] (in Gin) zu dieser Klasse (s. Kap. 3.4.2.3).
77
3.1
Phonologie
78
3.1
Phonetische Grundlagen
Das Raster in Tabelle (10) ermöglicht eine Grobklassifikation der Konsonanten des
Deutschen nach artikulatorischen Kriterien. [v] kann beispielweise artikulatorisch
als stimmhafter, labialer (genauer: labiodentaler) Frikativ charakterisiert werden (zu
weiteren Möglichkeiten der Subklassifizierung mit Hilfe phonologischer Merkmale
s. Kap. 3.3.3).
2. Vokale: Bei vokalischer Artikulation erfolgt keine so starke Behinderung des Luft-
stroms im Ansatzrohr, dass ein Geräusch entsteht. Die unterschiedlichen Vokalqua-
litäten kommen vielmehr auf andere Weise zustande. Die an den Stimmbändern in
Schwingungen versetzte Luft regt die im Rachen- und Mundraum befindliche Luftsäule
zum Mitschwingen an. Diese Übertragung von Schwingungen wird als Resonanz
bezeichnet. Durch die Bewegungen der Zunge und der Lippen werden oberhalb der
Glottis verschiedene Resonanzräume geformt, die resultierenden Laute werden als
unterschiedliche Vokalklänge wahrgenommen.
Vokale sind nach folgenden artikulatorischen Parametern differenzierbar:
1) Position der Zungenmasse (dorsum) und 2) Position der Lippen.
Zu 1: Die Stellung des Dorsums kann in zwei Dimensionen bestimmt werden, in der
vertikalen (Zungenhöhe) und in der horizontalen Ausrichtung (Zungenlage). Letztere
bezieht sich auf die Position des höchsten Punktes der Zunge im Mundraum.
Zu 2: Die Lippen können bei der Vokalartikulation eine neutrale bzw. – bei [i] – ge-
spreizte Stellung einnehmen oder sie können vorgestülpt und gerundet sein. Nach
diesem Kriterium werden runde Vokale von nicht-runden unterschieden.
Eine übliche Darstellungsform für die Vokalparameter ›Zungenhöhe‹ und
›Zungenlage‹ ist das sogenannte Vokaltrapez. In (11) ist ein solches Trapez mit den
Vokalen des Standarddeutschen abgebildet:
(11) Vokale des Deutschen
I
Y U
ø E ´
œ O
å
Vordere Vokale werden auch als Palatalvokale bezeichnet, weil die Zungenmasse bei
ihrer Artikulation in Richtung des harten Gaumens angehoben wird; hintere Vokale
nennt man Velarvokale, da die Hebung zum Velum hin erfolgt.
79
3.1
Phonologie
Zur Differenzierung der Vokale sind zwei weitere Eigenschaften relevant, Vokallänge
und Gespanntheit: Alle Vokale außerhalb der Ellipse in Abb. (11) werden – in betonter
Silbe – mit längerer Dauer artikuliert als die übrigen, die nur kurz vorkommen (mit
einer Ausnahme, [E:] wie in Käse). Die Vokallänge ist in der Regel mit der Eigenschaft
›Gespanntheit‹ kombiniert (zu Ausnahmen s. Kap. 3.3.3). Ob zwischen den tiefen
a-Vokalen ein Gespanntheitsunterschied besteht – wie in (11) angenommen – oder
nur ein Längenkontrast, ist in der Forschung umstritten (vgl. ausführlich Ramers
1988). Gespannte Vokale werden mit größerer Muskelanspannung artikuliert als
ungespannte Vokale. Dies führt zu einer dezentraleren Lage der Artikulatoren ›Zunge‹
und ›Lippen‹ (stärkere Vorstülpung oder Spreizung) im Mundraum, während diese
bei der Artikulation der ungespannten Varianten näher an der Mundraummitte liegen
(vgl. die Vokale in der Ellipse). Umgekehrt erfordert eine dezentralisierte Position eine
längere Bewegung der beiden Artikulatoren, die durch größere Muskelanspannung
hervorgerufen wird. Gespannte Vokale sind folglich dezentralisiert, ungespannte
dagegen zentralisiert. Die zentralste Position, in der die Zunge weder gehoben noch
gesenkt, weder nach vorne noch nach hinten bewegt wird, ist die des Zentralvokals
›Schwa‹. Als Transkriptionssymbol wird [´] verwendet, in der Orthographie des
Deutschen steht für diesen Vokal ausnahmslos ein <e>. Ein weiterer Zentralvokal
ist der etwas tiefere Vokal [å]. Dieser wird auch als ›vokalisiertes r‹ bezeichnet, und
zwar aus zwei Gründen: 1) Im Schriftsystem korrespondiert dieser Vokal mit einem
<r> (z. B. in Ohr, Uhr etc.) oder mit einem <er> (wie in Mutter, Vater usw.). 2) Ar-
tikulatorisch ähnelt er der frikativen uvularen r-Variante [Â], da auch beim Vokal
eine Bewegung der Hinterzunge in Richtung Uvula erfolgt. Sie ist nur schwächer
ausgeprägt als beim konsonantischen ›r‹.
In Tabelle (13) sind Beispielwörter für alle Vokale in (11) mit den entsprechen-
den Transkriptionszeichen aufgeführt:
(13) [i:]: Liebe, Igel, ihn, Vieh [´]: geheim, Rose
[I]: List, Stimme [å]: Winter, Tür
[y:]: lügen, Bühne [a]: man, Kanne
[Y]: Sünde, Hülle [A:]: Dame, Zahn, Aal
[e:]: lesen, Mehl, See [u:]: Schule, Ruhm
[E]: Eltern, älter, Stelle, Fälle [U]: Hund, Hummer
[E:]: schälen, Pfähle [o:]: Los, Moos, Mohn
[P:]: schön, Höhle [O]: von, Gott
[{]: Köln, gönnen
80
3.1
Phonetische Grundlagen
dass für die meisten Vokale mehrere Möglichkeiten der Wiedergabe im Schriftsystem
des Deutschen bestehen.
Aufgabe 2: Ermitteln Sie anhand des Korpus (13) die Möglichkeiten der orthogra-
phischen Wiedergabe von Lang- und Kurzvokalen im Deutschen.
Eine Sondergruppe unter den vokalischen Lauten bilden die Diphthonge: Sie sind
Kombinationen aus zwei Vokalen innerhalb einer Silbe; während der Artikulation
bewegen sich Zunge und Lippen aus einer Vokalposition in eine andere. Im Deut-
schen sind drei Diphthonge geläufig, 1) [aI8 ], 2) [aU8] und 3) [OI8 ] (zur Transkription
s. Kap. 3.4.2.1):
(14) Diphthonge des Deutschen
[aI8] [aU8] [OI8]
Reise Haus heute
Blei Applaus teuer
Eis auch Häute
Mais Clown Säule
Waise Kakao ahoi
Die Bewegung der Zunge während der Artikulation dieser Diphthonge ist in Abbil-
dung (15) veranschaulicht (nach Pompino-Marschall 2009, 218):
(15) Artikulation der Diphthonge
OI
aI aU
Die Abbildung zeigt, dass die Ausgangsposition der Artikulation relativ genau fixier-
bar, der Endpunkt der Gleitbewegung der Zunge dagegen sehr variabel ist. Entspre-
chend finden sich eine Reihe unterschiedlicher Transkriptionen für die Diphthonge
in der Literatur (vgl. Ramers 1998, 36 f.).
Auch die tautosyllabischen (zu einer Silbe gehörenden) Kombinationen aus einem
Vokal und folgendem vokalisiertem ›r‹ bilden Diphthonge des Deutschen, z. B. in den
Wörtern ihr, er, für, Stör, Uhr und Ohr (zu ihrer Artikulation vgl. Kohler 2007, 88).
81
3.3
Phonologie
Das Phonem bildet die zentrale Einheit der Phonologie (s. Kap. 3.1). Die Bemühungen
um seine Definition markieren den Anfangspunkt der historischen Entwicklung der
Phonologie als wissenschaftlicher Disziplin (vgl. Bloomfield 1933 und Trubetzkoy
1939; einen zusammenfassenden Überblick über die Entwicklung der Phonologie
enthält Ternes 1987). Die Phonemdefinitionen lassen sich mit de Saussures (1916)
Begriff des sprachlichen Zeichens verbinden. Zeichen sind nach de Saussure bilateral,
sie haben eine Form, die mit einem Inhalt verknüpft ist. Unterschiede im Inhalt (in
der Bedeutung) sind dabei in der Regel mit Differenzen in der Form verbunden. Diese
Korrelation zwischen Inhalt und Form besteht z. B. für die Wörter in (3c), hier der
Einfachheit halber wiederholt als (16):
(16) Hund [h U n t] Fund [f U n t]
Mund [m U n t ] wund [v U n t]
rund [R U n t ] bunt [b U n t]
Einem lautlichen Unterschied entspricht jeweils ein Bedeutungsunterschied. Die
Differenz besteht dabei aus genau einem Segment. So unterscheidet sich die Ausspra-
che der Wörter Mund und rund nur im initialen Konsonanten: Während das erste
Wort mit einem labialen Nasal [m] anlautet, beginnt das zweite mit dem uvularen
Vibranten [R]. Die Substitution der einzelnen Laute führt jeweils zu einem neuen
Wort mit anderer Bedeutung. Das heißt, die einzelnen Segmente erfüllen die zentrale
Funktion der Bedeutungsdifferenzierung (distinktive Funktion). Außerdem bilden
sie die kleinsten aufeinander folgenden Einheiten mit dieser Funktion. Segmente, die
diese beiden Kriterien, (a) distinktive Funktion und (b) Minimalität, erfüllen, bilden
Phoneme des jeweiligen Lautsystems einer Sprache. Das Phonem ist in (17) definiert
(vgl. auch Bloomfield 1933, 136):
(17) Ein Phonem bildet das kleinste bedeutungsdifferenzierende Segment einer Sprache.
Eine distinktive Funktion können Phoneme nur in Opposition zu anderen Phonemen
des gleichen Lautsystems erfüllen. Trubetzkoy (1939, 39) kennzeichnet den opposi-
tionellen Wesenszug des Phonems wie folgt:
Das Phonem kann weder von seiner psychologischen Natur aus noch von seiner Bezie-
hung zu den phonetischen Varianten befriedigend definiert werden, sondern einzig und
allein von seiner Funktion im Sprachgebilde. Ob man es nun als kleinste distinktive
Einheit (L. Bloomfield) oder als Lautmal am Wortkörper (K. Bühler) bezeichnet – alles
das kommt auf eines hinaus: nämlich darauf, daß jede Sprache distinktive (›phonologi-
sche‹) Oppositionen voraussetzt, und daß das Phonem ein in noch kleinere distinktive
(›phonologische‹) Einheiten nicht weiter zerlegbares Glied einer solchen Opposition ist.
Phonologische Oppositionen zwischen distinktiven Einheiten sind nicht per se in den
sprachlichen Daten gegeben; diese liefern zunächst auf der Grundlage einer auditiven
Segmentation nur einzelne Laute (s. Kap. 3.1). Die Oppositionen müssen vielmehr
erst mittelbar über minimal differierende Wörter, sogenannte Minimalpaare (engl.
›minimal pairs‹), gewonnen werden. In (18a) sind einige Minimalpaare des Deutschen
aufgelistet, in (18b) die entsprechenden phonologischen Oppositionen:
82
3.3
Segmentale Phonologie
Die Phoneme in (18b) stehen in Opposition bzw. sie kontrastieren. Während Phone
(Laute) in der Notation in eckigen Klammern stehen, werden Phoneme in Schräg-
striche eingefasst.
In der Gegenüberstellung in (18) ist noch eine weitere Eigenschaft von Phone-
men – neben Minimalität und Distinktivität – sichtbar: Phoneme stehen sich nicht als
unaufspaltbare Atome gegenüber, sie kontrastieren in bestimmten Lauteigenschaften.
Dies illustrieren z. B. die ersten vier Phonempaare in (18b): /b/ – /p/, /g/ – /k/, /d/ – /t/
und /v/ – /f/. Sie unterscheiden sich in der Lauteigenschaft ›Stimmton‹. Das erste Glied
der Opposition ist jeweils stimmhaft, das zweite stimmlos. Stimmton ist folglich eine
Lauteigenschaft, in der Phoneme des Deutschen differieren. Anders gesagt, Minimal-
paare können sich allein in dieser Eigenschaft unterscheiden. Sie erfüllt daher eine
distinktive Funktion bzw. Phoneme erfüllen diese Funktion kraft einer derartigen
Lauteigenschaft.
Bloomfield (1933, 79) betrachtet deshalb ein Phonem nicht als unanalysierbare
phonologische Einheit, sondern als Bündel solcher distinktiver Merkmale (›distinctive
features‹). Diese Bestimmung des Phonems widerspricht allerdings nicht der in (17)
gegebenen Definition. Dort ist vom »kleinsten bedeutungsdifferenzierenden Segment«
die Rede. Diese Bestimmung bezieht sich auf kleinste in der Sequenz aufeinander fol-
gende Einheiten. Diese Definition schließt eine Gliederung in noch kleinere simultan
im Phonem gebündelte Merkmale nicht aus. Merkmale dieses Typs sind neben dem
Stimmton z. B. auch Artikulationsort und -art (zur phonetischen Charakterisierung
dieser Merkmale s. Kap. 3.2.2.3). Für das Phonem /p/ des Deutschen ist z. B. folgende
Bündelung von distinktiven Eigenschaften möglich (zu distinktiven Eigenschaften
dieser Art s. Kap. 3.3.3.):
a) stimmlos (im Gegensatz zu /b/)
b) an den Lippen gebildet, labial (im Gegensatz zu /t/ und /k/)
c) Plosiv/Verschlusslaut (im Gegensatz zu /f/ als Frikativ)
d) oraler Laut (im Gegensatz zu /m/, einem Nasallaut, der mit gesenktem Velum
produziert wird)
83
3.3
Phonologie
Die Lauteigenschaft ›Aspiration‹ ist zwar im Deutschen nicht distinktiv, aber in einer
Reihe anderer Sprachen (vgl. Maddieson 1984). Das Korpus (20) aus Ladefoged (1993,
145) verdeutlicht die Distinktivität der Aspiration in der indischen Sprache Hindi:
(20) a. [pal] ›achtgeben auf‹ – [phal] ›Klinge‹ c. [kan] ›Ohr‹ – [khan] ›mein‹
b. [tal] ›schlagen‹ – [thal] ›Teller‹
Wenn nicht alle Eigenschaften konkreter Laute eine distinktive Funktion erfüllen, so
ist daraus zweierlei ableitbar:
1. Lauteigenschaften können andere Funktionen haben als die der Bedeutungsunter-
scheidung. Eine mögliche weitere Funktion ist z. B. die der Markierung phonologischer,
morphologischer oder syntaktischer Grenzen. So kennzeichnet die Aspiration stimmlo-
ser Plosive im Deutschen den Wortanfang bzw. eine vorangehende Sprechpause. Diese
Funktion kann als deliminativ bezeichnet werden. Weitere Funktionen sind die der
Identifikation eines bestimmten Sprechers oder der Übermittlung emotiver Färbungen
des Inhalts von Äußerungen. Solche Funktionen können z. B. Tonhöhenunterschiede
zwischen Vokalen im Deutschen erfüllen.
2. Das Phonem als Bündel distinktiver Merkmale ist nicht mit einem konkreten
Laut mit allen seinen Eigenschaften identifizierbar, sondern bildet eine abstrakte
funktionale Einheit, bei deren Ermittlung von nicht-distinktiven Eigenschaften (wie
Aspiration im Deutschen) abgesehen wird. Trubetzkoy (1939, 35) umschreibt diesen
Sachverhalt wie folgt:
Man darf sagen, daß das Phonem die Gesamtheit der phonologisch relevanten Eigen-
schaften eines Lautgebildes ist.
Dies bedeutet zugleich, dass ein Phonem eine ganze Klasse von Lauten konstituiert,
die alle distinktiven Eigenschaften gemeinsam haben, in den nicht-distinktiven da-
gegen differieren können. So bilden z. B. aspiriertes [ph] und nicht-aspiriertes [p] im
Deutschen Varianten (Realisierungen bzw. Instanzen) eines Phonems. Solche Instanzen
werden als Allophone bezeichnet.
So gelangt man zwar wieder zu den ursprünglichen Phonen, diese sind aber als In-
stanzen abstrakterer Einheiten, der Phoneme, identifiziert. Der Unterschied wird klar,
wenn auditiv Phone differenziert werden, die innerhalb eines Lautsystems überhaupt
keinem Phonem zugeordnet werden können. Dies gilt im Deutschen z. B. für den
84
3.3
Segmentale Phonologie
Glottisverschlusslaut [/], der keine distinktive Funktion hat. Er bildet folglich auch
kein Allophon eines Phonems.
Der Zusammenhang zwischen dem Phonem als abstrakter Lautklasse und
seinen Allophonen kann graphisch so veranschaulicht werden:
(21) a. Phonem1 Phonem2
b. /p/ /k/
85
3.3
Phonologie
Die Lautkontexte sind somit komplementär, folglich erfüllen die beiden Frikative
alleine keine distinktive Funktion. In Minimalpaaren wie ›Milch – mild‹ und ›hoch
– hohl‹ steht zwar [ç] bzw. [x] in Opposition zu [d] bzw. [l], bedeutungsunterschei-
dend ist aber nur die beiden Frikativen gemeinsame Eigenschaft ›dorsaler Frikativ‹
(zu Details vgl. unten). Dieses Faktum ist daran ablesbar, dass der Ich-Laut jeweils
durch den Ach-Laut ersetzt werden kann und umgekehrt, ohne Verlust der distink-
tiven Funktion: Auch in der schweizerdeutschen Aussprache von Milch mit dem
velaren Frikativ [x] beispielsweise bleibt der Kontrast zu [d] erhalten und das gleiche
Minimalpaar wird differenziert.
Die Frikative [ç] und [x] bilden daher Allophone eines Phonems (vgl. 23):
(23) [x] [ç]
Welches Allophon quasi als Vertreter des Phonems das Transkriptionssymbol liefert,
ist zunächst beliebig. Für die Wahl können Kriterien wie Häufigkeit der Lautkon-
texte oder Komplexität des Allophons (Anzahl der Lauteigenschaften) herangezogen
werden. Auch die Distribution in Flexionsparadigmen kann als Kriterium benutzt
werden: Der Ach-Laut erscheint jeweils in den unmarkierten Flexionsformen, der
Ich-Laut in den markierten (zur Markiertheit s. Kap. 2.2.2). Das Korpus (24) illus-
triert diese Verteilung:
(24) a. Singular: Buch [x] – Plural: Bücher [ç]
Loch – Löcher
Bach – Bäche
In der unmarkierten Singular- bzw. Indikativform steht das Allophon [x], in der
markierten Plural- bzw. Konjunktivform das Allophon [ç]. Letzteres kann als
abgeleitet betrachtet werden: Die Umlautung des vorangehenden Vokals bewirkt
in den markierten Formen eine Angleichung (Assimilation) des folgende Frikativs
im Artikulationsort. Aus einem velaren Ach-Laut wird nach palatalen (vorderen)
Vokalen ein palataler Ich-Laut (zu Assimilationen s. Kap. 3.3.4). Morphologische
Paradigmen wie in (24) sprechen folglich für die Wahl des Transkriptionssymbols
/x/ für das Phonem.
a. [b] [B]
["bota] bota ›Stiefel‹ ["loBo] lobo ›Wolf‹
["bino] vino ›Wein‹ [aB"la|] hablar ›sprechen‹
["ambOs] ambos ›beide‹
86
3.3
Segmentale Phonologie
b. [d] [D]
["doBle] doble ›doppelt‹ ["deDo] dedo ›Finger‹
["konde] conde ›Graf‹ ["maD|e] madre ›Mutter‹
["falda] falda ›Rock‹ [xuBen"tuD] juventud ›Jugend‹
c. [g] [L]
["gUsto] gusto ›Geschmack‹ ["laLo] lago ›See‹
["saNg|e] sangre ›Blut‹ ["siLlo] siglo ›Jahrhundert‹
["alLo] algo ›etwas‹
Nicht immer führt eine Phonemanalyse allein auf der Grundlage des Kriteriums ›kom-
plementäre Distribution‹ zu sinnvollen Ergebnissen. Dies verdeutlicht die Verteilung
der Allophone [h] und [N] im Deutschen. Das Korpus (25) zeigt die Distribution:
(25) a. [haU8 s] Haus b. [dIN] Ding
["u:hu] Uhu [hENst] Hengst
[g´"haI 8 m] geheim ["tsUN´] Zunge
Da [h] und [N] nie im gleichen Lautkontext vorkommen, können sie auch nie alleine
einen Kontrast bilden, d. h. Wörter differenzieren. Dennoch ist es nicht sinnvoll,
sie als Allophone eines Phonems zu betrachten. Es ist nämlich völlig unklar, welche
Bündelung distinktiver Lauteigenschaften dieses Phonem bilden würde. Die einzige
gemeinsame Lauteigenschaft von [h] und [N] ist, dass sie beide hintere Konsonanten
sind. Diese Eigenschaft teilen sie aber mit /g/, /k/ und /x/; der Artikulationsort erlaubt
folglich keine Abgrenzung von diesen anderen Phonemen des Lautsystems.
Um eine kontraintuitive Phonemanalyse, die allein auf das Distributionskrite-
rium gestützt ist, zu verhindern, zieht Trubetzkoy (1939) das zusätzliche Kriterium
der phonetischen Ähnlichkeit mit heran: Nur wenn zwei Allophone dieses Kriterium
erfüllen, bilden sie Realisierungen eines Phonems, wenn nicht, sind sie Varianten zweier
verschiedener Phoneme. Phonetische Ähnlichkeit liegt dann vor, wenn Allophone ein
Bündel gemeinsamer Lauteigenschaften haben, das kein anderer Laut des Systems mit
ihnen teilt (vgl. Ternes 1987, 81). Dieses Kriterium ist für die beiden Allophone [x]
und [ç] im Deutschen gegeben. Sie sind die einzigen stimmlosen, dorsalen Frikative
und unterscheiden sich nur geringfügig in der Artikulationsstelle: [x] ist velar und [ç]
palatal. [h] und [N] sind hingegen, wie oben gezeigt wurde, nicht phonetisch ähnlich
und bilden daher Allophone zweier verschiedener Phoneme /h/ und /N/.
Neben der komplementären Distribution besteht als weiterer Relationstyp
zwischen Allophonen die freie Variation. Freie Variation liegt dann vor, wenn zwei
Allophone im gleichen Lautkontext austauschbar sind, ohne dass sich die Bedeutung
ändert. Zwei Spielarten dieser Variationsart können unterschieden werden:
(a) Variation beim gleichen Sprecher (freie Variation im engeren Sinne)
(b) regional oder sozial bedingte Variation
87
3.3
Phonologie
Ein Beispiel für Typ (a) ist im Deutschen die Realisierung des gleichen Vokals (z. B.
[A:]) in unterschiedlicher Tonhöhe. Mit dieser Variation in der Tonhöhe kann ein
Sprecher des Deutschen zwar keine Wörter differenzieren, aber emotionale Färbungen
wie Wut, Trauer, Angst, Freude u.ä. transportieren.
Ein Paradebeispiel für den Typ (b) bilden die verschiedenen r-Realisierungen im
Deutschen (vgl. ausführlich Ternes 1987, 83–86; Ramers/Vater 1995, 34 f., Kohler
1995, 165 f. und Krech et al. 2010, 85–87). Wortinitial, z. B. in Rede, Rabe usw., sind
zwei Hauptvarianten differenzierbar, 1. uvularer Vibrant [R] (sog. Zäpfchen-r) und
2. vorderes, alveolares apikales [r] (gerolltes Zungenspitzen-r). Anders als bei Typ
(a) variiert in diesem Fall der einzelne Sprecher in der Regel nicht zwischen beiden
Allophonen, sondern realisiert immer das gleiche Allophon. Entweder er ist Sprecher
eines hinteren Zäpfchen-R oder eines vorderen Zungenspitzen-r. Die Wahl hängt von
der regionalen und – in geringerem Umfang – auch von der sozialen Herkunft ab.
Nach Kohler (1995, 165 f.) liegt folgende regionale Verteilung vor: Vorderes [r] wird
im österreichisch-bayrischen Raum, in Schleswig-Holstein sowie im Alemannischen
bevorzugt, hinteres [R] wird dagegen im übrigen deutschen Sprachraum, z. B. in
Nord-, Ost- und Westdeutschland, häufiger verwendet. Das hintere [R] hat sich von
der Stadt aus aufs Land ausgebreitet. Zumindest früher bestand daher vor allem in
ländlichen Gegenden noch ein Generationenunterschied zwischen älteren Sprechern
eines vorderen [r] und jüngeren, die bereits zum hinteren [R] gewechselt hatten.
Die formale Notation der Merkmale ist jeweils in der letzten Zeile aufgeführt: Die
Merkmalsbezeichnungen werden in eckige Klammern eingeschlossen. Für jedes Merk-
mal sind zwei Werte möglich, ›+‹ oder ›–‹. Im Beispiel (26) sind diese Werte wie folgt
interpretierbar: [+stimmhaft] bezeichnet das Vorhandensein einer Lauteigenschaft,
die paraphrasierbar ist als ›mit vibrierenden Stimmbändern produziert‹; [–stimmhaft]
kennzeichnet dagegen das Fehlen dieser Eigenschaft. [+nasal] steht für eine zusätzliche
Artikulation, die ›Senkung des Velums‹, die den Nasenraum für den Luftstrom öffnet;
bei Segmenten mit dem Merkmal [–nasal] (rein oralen Lauten) fehlt dieses zusätzliche
artikulatorische Merkmal.
Die Zweiwertigkeit der phonologischen Merkmale in (26) wird als Binarität
bezeichnet. Mehrwertige (skalare) Merkmale sind dagegen nur in der Phonetik in
nicht-distinktiver Funktion gebräuchlich. Eine Möglichkeit zur Skalierung bietet
88
3.3
Segmentale Phonologie
z. B. die Eigenschaft ›Vokalhöhe‹. In (27a) werden zwei binäre Merkmale zur Unter-
scheidung von drei Vokalhöhen verwendet, in (27b) dagegen ein skalares Merkmal:
(27) a. /i:/ [+hoch, –tief] b. [i:] [1 hoch]
/e:/ [–hoch, –tief] [e:] [2 hoch]
/A:/ [–hoch, +tief] [A:] [3 hoch]
In der klassischen Merkmalstheorie werden nur binäre distinktive Merkmale des
Typs (27a) benutzt.
Eine weitere Eigenschaft der phonologischen Merkmale wurde bereits mehrfach
erwähnt, ihre Distinktivität. Diese Eigenschaft ist nicht auf eine Einzelsprache bezogen.
Gemeint ist vielmehr, dass das jeweilige Merkmal in irgendeiner natürlichen Sprache
eine bedeutungsdifferenzierende Funktion hat. Das Beispiel ›Aspiration‹ wurde oben
diskutiert (s. Kap. 3.3.1): Diese ist zwar im Deutschen nicht distinktiv, dafür jedoch im
Hindi, Thai und weiteren Sprachen. Daher ist sie in ein Gesamtinventar distinktiver
Merkmale aufzunehmen.
Mit der Distinktivität in irgendeiner Sprache hängt eine dritte Eigenschaft
phonologischer Merkmale zusammen, ihre Universalität. Mit einer relativ kleinen
Menge von Merkmalen können die Phonemsysteme aller natürlichen Sprachen cha-
rakterisiert werden. Jakobson/Fant/Halle (1951) kommen mit einem Inventar von
nur 12 Merkmalen aus. Die Verwendung von Merkmalen führt zu einer enormen
Reduzierung des phonologischen Vokabulars in der Beschreibung von Lautsyste-
men gegenüber der ausschließlichen Verwendung von Phonemsymbolen. Für das
Standarddeutsche geht z. B. Wiese (1996, 10 f.) von 37 Phonemen aus; dieses System
beschreibt er mit Hilfe von 22 distinktiven Merkmalen (1996, 20 und 23). Logisch
möglich ist mit Hilfe von n binären Merkmalen eine Differenzierung von 2n Phone-
men. Z. B. könnten mit Hilfe der beiden Merkmale (n = 2) [+/– hoch] und [+/– tief]
maximal vier Phoneme eindeutig unterschieden werden (denn 22 = 4). Genutzt werden
die beiden Merkmale aber nur zur Unterscheidung von drei Phonemen (vgl. 27a),
und zwar aus folgendem Grund: Die Kombination [+tief, +hoch] ist zwar logisch
möglich, aber nicht phonetisch. Der Zungenrücken kann bei der Lautproduktion
nicht zugleich gehoben und gesenkt werden. Der Ausschluss solcher Kombinationen
liegt in einer weiteren Eigenschaft der Merkmale begründet, ihrem phonetischen
Gehalt: Im Idealfall sollten alle verwendeten Merkmale in allen drei phonetischen
Manifestationsbereichen definierbar sein, d. h. 1) artikulatorisch, 2) akustisch und
3) auditiv. Jakobson/Fant/Halle (1951) und Jakobson/Halle (1956) geben zumindest
Definitionen artikulatorischer und akustischer Art an, später begnügt man sich in der
phonologischen Praxis meist mit rein artikulatorischen Definitionen (so z. B. teilweise
in Chomsky/Halle 1968 oder Wurzel 1970).
Im Folgenden werden die einzelnen für das Deutsche relevanten Merkmale
eingeführt und definiert. Die sogenannten Oberklassenmerkmale (engl. ›major class
features‹) dienen der Differenzierung der Hauptklassen eines Lautsystems. In (28) ist
eine mögliche Klassifikation mit Hilfe solcher Merkmale für das Deutsche dargestellt
(nach Kloeke 1982, 3 und Ramers 1998, 55):
(28) Vokale Sonoranten Obstruenten Laryngale
konsonantisch – + + –
sonorant + + – –
89
3.3
Phonologie
Wie die Tabelle zeigt, genügen im Deutschen zwei binäre Merkmale zur Dif-
ferenzierung in diese vier Hauptklassen:
1. [+/–konsonantisch]: Das Merkmal ist artikulatorisch so definierbar: [+konsonan-
tisch] sind Laute, die mit einer Behinderung des Luftstroms oberhalb der Glottis
produziert werden, [–konsonantisch] alle Laute, bei deren Realisierung entweder nur
eine Behinderung in der Glottis selbst oder überhaupt keine erfolgt.
2. [+/– sonorant]: Dieses Merkmal bezieht sich auf die Möglichkeit zur Stimmton-
bildung. [+sonorant] sind Laute, die spontan stimmhaft sind. Aufgrund des nicht
verengten Stimmtraktes und angenäherter Stimmbänder ist der supraglottale Luft-
druck gegenüber dem subglottalen klein genug, um die Stimmbänder beim Ausatmen
automatisch zum Schwingen zu bringen (vgl. Chomsky/Halle 1968, 300–302).
Stimmhafte Obstruenten (wie [z], [d] etc.) sind dagegen zwar stimmhaft, aber nicht
spontan stimmhaft. D. h., damit die Stimmbänder bei der supraglottalen Behinde-
rung des Luftstroms während der Produktion dieser Laute trotzdem schwingen,
ist zusätzlicher artikulatorischer Aufwand, z. B. eine stärkere Öffnung der Glottis,
erforderlich. Dies bedeutet, Vokale und Sonoranten sind im unmarkierten Fall
[+stimmhaft], der unmarkierte Wert für Obstruenten ist dagegen [–stimmhaft]. In
aller Regel werden Laute, die [+sonorant] sind, auch stimmhaft realisiert. Diese
Kopplung besteht jedoch nicht zwangsläufig. Im Deutschen beispielsweise werden
alle Laute, auch die Sonoranten und Vokale, beim Flüstern stimmlos ausgesprochen.
In einigen Sprachen kommen stimmlose Sonoranten auch als reguläre Phoneme
vor, z. B. stimmlose Nasale im Burmesischen und ein stimmloser Lateral in der
dravidischen Sprache Toda. Zu letzterem Fall führt Hall (2011, 21) das Minimal-
paar [kal] ›Perle‹ vs. [kal9] ›studieren‹ an (das diakritische Zeichen [ 9] kennzeichnet
die Stimmlosigkeit von Lauten, die unmarkierterweise stimmhaft sind, also von
Vokalen und Sonoranten).
Zur Lautklasse der Laryngale gehören im Deutschen nur zwei Segmente, [h] und der
Glottisverschlusslaut [/]. Diese beiden Laute sind zum einen nicht spontan stimmhaft
wie die Vokale und Sonoranten, sondern im unmarkierten Fall stimmlos. Zum anderen
findet bei ihrer Artikulation keine Behinderung des Luftstroms oberhalb der Glottis
statt wie bei den Konsonanten.
Im Folgenden werden die drei Subklassen ›Obstruenten‹, ›Sonoranten‹ und ›Vo-
kale‹ näher beleuchtet. Eine Möglichkeit zur Klassifikation der Obstruentenphoneme
des Deutschen mit Hilfe distinktiver Merkmale ist in (29) abgebildet:
(29) Merkmalsmatrix für die Obstruentenphoneme des Deutschen
p b f v t d s z S Z J k g x
(a) sth – + – + – + – + – + + – + –
kont – – + + – – + + + + + – – +
(b) lab + + + + – – – – – – – – – –
kor – – – – + + + + + + – – – –
hint – – – – – – – – – – – + + +
hoch – – – – – – – – + + + + + +
Kürzel: sth = stimmhaft, kont = kontinuierlich, lab = labial, kor = koronal, hint = hinten
90
3.3
Segmentale Phonologie
Eine Tabelle wie (29) wird als Merkmalsmatrix bezeichnet. Die beiden Oberklassen-
merkmale aus Tabelle (28) wurden in (29) weggelassen: Für alle Obstruenten ergeben
sich die Werte [+konsonantisch] und [–sonorant].
In der linken Spalte in (29) stehen jeweils die distinktiven Merkmale (in ab-
gekürzter Form) und in der obersten Reihe die Transkriptionssymbole für die Pho-
neme. Die Anordnung der Merkmale in der ersten Spalte folgt der Einteilung in (a)
Artikulationsartmerkmale und (b) Artikulationsortsmerkmale.
Zunächst zu Gruppe (a): Das Merkmal [+/–stimmhaft] wurde bereits erläu-
tert. Typisch für Obstruenten ist, dass sie im Regelfall paarweise [+stimmhaft] und
[–stimmhaft] sind. Dieses System hat im Deutschen nach Tab. (29) allerdings zwei
Lücken: Zu stimmhaftem /J/ fehlt das stimmlose Gegenstück und zu stimmlosem /x/
das stimmhafte Pendant.
Das Merkmal [+/–kontinuierlich] ([+/–dauernd]; engl. [+/–continuant]) differen-
ziert die Artikulationsart von Plosiven vs. Frikativen: Plosive sind [–kontinuierlich],
Frikative [+kontinuierlich]. Die artikulatorische Definition des Merkmals lautet
entsprechend wie in (30):
(30) [–kontinuierlich] sind Laute, die mit einer vollständigen Blockade des Luftstroms im
mittsagittalen Bereich des Mundraums produziert werden, [+kontinuierlich] alle übrigen
Laute.
Der Ausdruck ›mittsagittal‹ bezieht sich auf die mittlere Längsachse des Mundraums.
Nach dieser Definition ist der Lateral [l] [–kontinuierlich], da die Zungenspitze im
Mittelteil des Mundraums einen vollständigen Verschluss bildet (zur näheren Begrün-
dung vgl. Wiese 1996, 24 und 233).
Zu Gruppe (b) (Artikulationsortsmerkmale): Die ersten beiden Ortsmerkmale
sind in (31) und (32) definiert:
(31) [+labial] sind Laute, die mit aktiver Beteiligung der Lippen an der Artikulation gebildet
werden. Alle anderen Laute sind [–labial].
(32) [+koronal] sind Laute, die mit angehobener Zungenspitze produziert werden, alle anderen
Laute sind [–koronal].
Die Definition des nächsten Ortsmerkmals [+/–hinten] bezieht sich nicht auf den Vorder-
teil der Zunge, die Corona, sondern auf ihren Hauptteil, den Zungenrücken, das Dor-
sum. Bezogen auf diesen Teil der Zunge kann das Merkmal wie folgt definiert werden:
(33) [+hinten] sind Laute, bei deren Produktion das Dorsum aus der neutralen Lage nach
hinten verschoben wird, [–hinten] alle anderen Laute (vgl. Chomsky/Halle 1968, 305).
Die Neutrallage der Zunge ist eine mittlere Position, die in etwa der Stellung bei der
Produktion des Neutralvokals [´] entspricht. In Tabelle (29) dient das Merkmal ins-
besondere der Differenzierung von /J/ ([–hinten]) und /x/ ([+hinten]), die beide [–labial]
und [–koronal] sind. Das Ortsmerkmal [+/–hoch] ist ebenfalls auf das Dorsum bezo-
gen. Die Definition in (34) ist daher analog zu der für [+/–hinten] in (33) formuliert:
(34) [+hoch] sind Laute, bei deren Produktion das Dorsum aus der neutralen Lage angehoben
wird, [–hoch] alle anderen Laute (vgl. Chomsky/Halle 1968, 304).
Der Zusammenhang zwischen den traditionellen Artikulationsortsbezeichnungen
und den hier verwendeten distinktiven Merkmalen ist in (35) zusammengefasst (nach
Ramers 1998, 57):
91
3.3
Phonologie
Die Lautklasse der Sonoranten ist in der Merkmalsmatrix (36) erfasst; die bei allen
Sonoranten übereinstimmenden Werte [+konsonantisch] und [+sonorant] sind weg-
gelassen (vgl. dazu Tab. 28):
(36) Merkmalsmatrix für die Sonorantenphoneme des Deutschen
m n N l R
nasal + + + – –
kontinuierlich – – – – +
labial + – – – –
koronal – + – + –
hinten – – + – +
hoch – – + – –
In der Tabelle wird ein uvulares /R/ zugrunde gelegt. Bei Annahme eines vorderen /r/
wären die entsprechenden Merkmalswerte [+koronal, –hinten]. Das Merkmal [+/–la-
teral] ist ganz weggelassen. Es ist im Deutschen aus folgender Merkmalskombination
ableitbar: [+kons, +son, –nas, –kont] q [+lateral]. Daher bildet es ein redundantes
und kein distinktives Merkmal (vgl. dazu auch Wiese 1996, 23 f.).
Im ›Merkmalbaum‹ (37) ist die Einteilung der Konsonanten in Unterklassen
mit Hilfe distinktiver Merkmale illustriert:
(37) Konsonantenklassen
Konsonanten [+kons]
Laterale Vibranten
[–kont] [+kont]
Klassen wie in (37), die durch eine Menge gemeinsamer Merkmale charakterisierbar
sind, werden als natürliche Klassen bezeichnet.
Eine mögliche Matrix der Merkmalsrepräsentation für die Vokalphoneme des
Deutschen bildet (38):
92
3.3
Segmentale Phonologie
Auch hier sind die (für alle Vokale gleichen) Oberklassenmerkmale [+son] und [–kons]
in der Matrix (38) weggelassen. Die Merkmale [hinten] und [hoch] wurden in (33)
und (34) definiert.
Das Merkmal [rund] bezieht sich – wie [labial] bei Konsonanten – auf die
Beteiligung der Lippen. Es spezifiziert die Art der Lippenaktivität näher (vgl. die
Definition (39)):
(39) [+rund] sind Laute, bei deren Produktion die Lippen vorgestülpt und gerundet sind,
[–rund] alle anderen Laute.
Die Abhängigkeit des Merkmals [rund] von [labial] ist im klassischen Merkmals-
konzept nicht direkt darstellbar. Im sogenannten Merkmalhierarchiemodell dagegen
können solche Dependenzrelationen zwischen Merkmalen repräsentiert werden (s.
Kap. 3.4.1).
Die Merkmale [vorn] und [tief] sind – parallel zu [hinten] und [hoch] – so
definierbar:
(40) [+vorn] sind Laute, bei deren Produktion das Dorsum aus der neutralen Lage nach vorne
verschoben wird, [–vorn] alle anderen Laute.
(41) [+tief] sind Laute, bei deren Produktion das Dorsum aus der neutralen Lage gesenkt
wird, [–tief] alle anderen Laute.
Die Senkung des Dorsums ist in der Regel auch mit einer Senkung des Unterkiefers
verbunden. In Tabelle (38) werden nur die beiden a-Vokale als [+tief] spezifiziert,
alle anderen sind [–tief].
Zur Distinktion der Vokalphoneme werden in (38) zwei weitere Merkmale
verwendet,
(a) [+/–gespannt] (engl. [+/–tense]) und (b) [+/–lang].
Zu (a): Dieses Merkmal ist auf die Spannung der supraglottalen Muskulatur bezogen
und kann wie folgt definiert werden (vgl. dazu ausführlich Chomsky/Halle 1968,
324–326):
(42) [+gespannt] sind Laute, die mit einer zusätzlichen Anspannung der supraglottalen
Muskulatur, insbesondere der Zungenmuskulatur, produziert werden.
Der Ausdruck »zusätzlichen« deutet darauf hin, dass der Einschätzung dieses
Merkmals als ›binär‹ eine gewisse Künstlichkeit anhaftet. Jede Bewegung von Arti-
kulationsorganen, z. B. der Zunge, erfordert eine Anspannung der Muskulatur, das
93
3.3
Phonologie
Mehr oder Weniger dieser Muskelspannung entscheidet aber über die Spezifikation
der Vokale in (38). Es wird quasi ein Grenzwert eingeführt, der ein kontinuierliches
Merkmal binär macht. Zwischen Spannung und Zungenposition besteht folgender
Zusammenhang: Je gespannter die Muskulatur, umso größer die Bewegung der Zunge
weg von der Neutrallage, die sie bei der Produktion des Schwa-Vokals [´] einnimmt
(s. Kap. 3.2.2.3; vgl. insbesondere das Vokaltrapez in Abb. 11).
Die Vokallänge ist im Deutschen in Akzentsilben an Gespanntheit gekoppelt:
Betonte gespannte Vokale sind [+lang], betonte ungespannte [–lang]. Dieser Zusam-
menhang ist in den Minimalpaaren in (43) verdeutlicht (nach Ramers 1998, 32):
(43) bieten – bitten [i:] – [I] spuken – spucken [u:] – [U]
Hüte – Hütte [y:] – [Y] Schoten – Schotten [o:] – [O]
Beet – Bett [e:] – [E] Bahn – Bann [A:] – [a]
Höhle – Hölle [P:] – [{]
In unbetonten Silben sind Gespanntheit und Länge allerdings nicht gekoppelt, wie
das Korpus in (44) belegt:
(44) Idée [e:] – ideál [e] Volúmen [u:] – voluminö!s [u]
Physík [i:] – physikálisch [i] Barón [o:] – Baronésse [o]
In den Wörtern der jeweils rechten Spalte werden die kursivierten Vokale gespannt,
aber kurz realisiert.
Die Kopplung von Gespanntheit und Länge in Akzentsilben ist im standard-
deutschen Vokalsystem nicht vollständig durchgeführt, weil der Langvokal /E:/ (z. B.
in Käse, Tränen etc.) ungespannt ist.
Die Merkmalsmatrix (38) enthält zwei weitere Vokale, die bisher nicht dis-
kutiert wurden: die Zentralvokale [´] und [å]. Diese besitzen Phonemstatus, wie die
Minimalpaare in (45) zeigen:
(45) a. Freunden – Freundin /´/ – /I/ b. Opa – Oper /a/ – /å/
Balken – Balkan /´/ – /a/ Rudi – Ruder /i/ – /å/
Lehre – Lehrer /´/ – /å/ läutern – läuten /å/ – /´/
Zur Differenzierung von /å/, /´/ und /E/ sind die beiden Merkmale [vorn] und [hinten]
erforderlich: /å/ ist [+hint, –vorn], /´/ ist [–hint, –vorn] und /E/ ist [–hint, +vorn].
Die Spezifikation von /å/ als [+hinten] ist allerdings phonetisch gesehen nicht
unproblematisch, da es streng genommen ein Zentralvokal ist, kein Hinterzungen-
vokal (s. das Vokaltrapez (11)). Die hier vorgenommene Analyse ist jedoch auch aus
phonetischer Sicht nicht völlig willkürlich, da /å/ etwas weiter hinten im Mundraum
realisiert wird als /´/. Die in Kapitel 3.2.2.3 formulierte Generalisierung, dass alle hin-
teren Vokale rund sind, ist entsprechend einzuschränken: /å/ ist [+hinten], aber [–rund].
Dass der Vokal /å/ (vokalisiertes ›r‹) mit einer Segmentfolge /´R/ in Verbindung
zu bringen ist (wie das Paar ›weiter – weitere‹ ([å] – [´R]) illustriert), ist mit Hilfe
eines rein statischen Phonemsystems nicht direkt erfassbar. In diesem kann lediglich
die Distribution der Phoneme in verschiedenen Wortformen verglichen werden, eine
Herleitung der einen Form aus einer anderen (hier weit[å] aus weit[´R]) ist dagegen
nicht möglich. Dazu ist ein dynamisches Modell erforderlich, das die Analyse pho-
nologischer Prozesse zum Ziel hat.
94
3.3
Segmentale Phonologie
95
3.3
Phonologie
96
3.3
Segmentale Phonologie
Q Die Tilgung (Elision) von Schwa findet vor Sonoranten im Wortauslaut statt. Dass
diese Bedingung notwendig ist, zeigen folgende Daten: (a) Vor Obstruenten wird
Schwa nicht getilgt (vgl. Kirmes oder Ticket). (b) In nicht-finalen Silben im Wort
bleibt Schwa ebenfalls erhalten, z. B. in den Präfixen be- und ge- (vgl. bemalen,
gelernt).
Q Der Nasal wird im Artikulationsort an den Lautkontext, und zwar den vorausge-
henden Plosiv, angeglichen (assimiliert, Assimilation) (vgl. 50a und c).
Q Von den sprachexternen Faktoren sind alle Reduktionsstufen mitbedingt: So-
wohl ein höheres Sprechtempo als auch die Wahl einer niedrigeren Stilebene
(Umgangssprache) führen zu stärkerer Reduktion, während hohe Stilebene (z. B.
feierliche Rede) und langsameres Tempo zu expliziteren Formen tendieren. Die
Kommunikationssituation beeinflusst ebenfalls den Reduktionsprozess: In ei-
ner Face-to-face-Kommunikation, in der sich die Kommunikationspartner zur
gleichen Zeit am gleichen Ort aufhalten, kann das rein verbal Geäußerte durch
Mimik, Gestik und Körperhaltung unterstützt und ergänzt werden. Daher sind
in einer solchen Kommunikationssituation reduzierte Formen möglich, ohne das
Verständnis zu trüben. In einer Fernkommunikation wie dem Telefongespräch
dagegen fällt der non-verbale Kanal aus und die phonologische Form der Wörter
muss daher expliziter sein.
Die morphologischen Kontexte des Umlauts sind nach Korpus (51) wie folgt zu
bestimmen:
a. Bestimmte Pluralformen bedingen die Umlautung des Stammvokals: Das Plural-
suffix -er zieht obligatorisch Umlaut nach sich, das Pluralflexiv -e nur fakultativ
(vgl. (die) Tage ohne Umlaut). Außerdem können die Pluralformen bei fehlender
Flexionsendung allein durch Umlautung von den Singularformen differenziert
werden (vgl. Vogel – Vögel, Mutter – Mütter, Tochter – Töchter), sie müssen es
aber nicht (vgl. der Balken – die Balken, der Wagen – die Wagen).
b. In der 2. und 3. Person starker Verben tritt Umlautung ein, allerdings nur bei den
a-Vokalen obligatorisch (vgl. ohne Umlaut: rufen – ruft (nicht: *rüft), kommen
– kommt (aber veraltet: kömmt), saugen – saugt; mit Umlaut: saufen – säuft,
stoßen – stößt).
97
3.3
Phonologie
98
3.3
Segmentale Phonologie
Im Althochdeutschen bewirkte ein /i/ oder /j/ der Folgesilbe die Umlautung des
Stammvokals. Die Angleichung erfolgte im Merkmal [vorn] ([–vorn] q [+vorn]).
Durch Reduktion zu Schwa, das [–vorn] ist, oder Schwund des Nebensilbenvokals
im Mittelhochdeutschen verschwand der Lautkontext für die Assimilation. Der
Umlaut wurde zu einem rein morphologisch bedingten phonologischen Prozess (s.
Kap. 8.2 und 8.3.1).
2. Dissimilation: Diese bildet, wie der Name bereits andeutet, einen Prozess, in dem
Segmente einander unähnlicher gemacht werden. Dissimilationen spielen u. a. in der
historischen Entwicklung des Deutschen eine Rolle (vgl. Aufgabe 5).
In den Beispielen (50), (52) und (53) wurde der Begriff des phonologischen Prozesses
auf alternierende Formen in einem synchronen Sprachzustand angewendet. In (54)
und Aufgabe 5 ist er dagegen auf eine Alternation zwischen Wortformen verschie-
dener historischer Sprachstufen bezogen, d. h. diachron verwendet. Das bedeutet,
›Verwandtschaft‹ zwischen Wortformen kann auch im Sinne etymologischer Relation
interpretiert werden (s. Kap. 8.2).
Der Terminus ›phonologischer Prozess‹ kann zudem zur Beschreibung der
Lautveränderungen benutzt werden, die Kinder im Spracherwerb an der ›korrekten‹
phonologischen Form von Wörtern und Sätzen der Erwachsenensprache vornehmen
(zu dieser Verwendungsweise s. Kap. 7.2.2).
3. Tilgung (Elision): Beispiele für mehrere Tilgungen sind in der Reduktionskette in
(50) enthalten: (a) Schwa-Tilgung und (b) Tilgung stimmhafter Plosive vor silbischen
Nasalen. Zwischen der Schwa-Tilgung und dem Silbischwerden des Nasals besteht
ein Zusammenhang: Der Nasal kann nur silbisch werden, wenn ein Vokal als mög-
licher Silbenträger fehlt. Dieser Zusammenhang ist mit Hilfe einer Festlegung der
Reihenfolge der phonologischen Prozesse ›Tilgung‹ und ›Silbischwerden‹ und einer
entsprechenden Ordnung der phonologischen Regeln beschreibbar (s. Kap. 3.3.4.5).
Tilgung ist ein Prozess, der beim Vergleich standardsprachlicher mit umgangs-
sprachlichen Formen feststellbar ist (siehe (50) oder Paare wie nicht – nich, ist – is,
hast – has usw.).
4. Hinzufügung von Segmenten (Epenthese): Diese bildet quasi das Spiegelbild zur
Tilgung. In der Umgangsprache werden Epenthesen häufig zur Erleichterung der
Artikulation vorgenommen (vgl. die Beispiele in (55) aus Ramers/Vater 1995, 51):
99
3.3
Phonologie
Zwischen einem Nasal und dem folgenden koronalen Plosiv oder Frikativ wird ein
Plosiv eingeschoben, der am gleichen Artikulationsort gebildet wird wie der Nasal.
5. Neutralisierung: Der zwischen Phonemen per definitionem bestehende Kontrast wird
in einem bestimmten Kontext aufgehoben. Ein Beispiel bildet die Auslautverhärtung
von Obstruenten (s. Kap. 3.3.4.1): Der Kontrast zwischen stimmhaften und stimmlosen
Varianten wird im Silbenauslaut (s. Kap. 3.3.4.4) zugunsten der letzteren aufgehoben.
Das Schema ist wie folgt zu interpretieren: A und B bilden Bündel von Merkmalen für
einzelne Segmente (oder Segmentketten). A oder B können auch leer sein, allerdings
nicht beide zugleich. A bildet den Input der Regel, B den Output. Anders ausgedrückt,
stehen in B die Änderungen gegenüber dem Input A. Nach dem Schrägstrich folgt
der Kontext der Regel, die Umgebungsangabe. Der waagerechte Strich markiert die
Position von A. X und Y können beide leer sein, dann liegt eine kontextfreie Regel
vor. Sie können aber auch Variablen für Bündel von Merkmalen für Segmente (oder
Segmentketten) oder für Grenzsymbole bilden. Diese markieren Grenzen phono-
logischer oder morphologischer Einheiten. Die drei gängigsten Symbole sind: # =
Wortgrenze, + = Morphemgrenze und $ = Silbengrenze (als Silbengrenzzeichen kann
auch ein Punkt fungieren). Als Beispiel diene die Auslautverhärtung. Sie kann durch
folgende Regel erfasst werden:
(57) [–son, +kons, +sth] q [–son, +kons, –sth] / ___ $
Im Regelschema (56) ist die Regel (57) wie folgt interpretierbar: Den Input (Variable
A) bildet die Merkmalsspezifikation [–son, +kons, +sth] für stimmhafte Obstruenten,
den Output (Variable B) die Spezifikation [–son, +kons, –sth] für stimmlose Obstru-
enten. Der vorangehenden Kontext (Variable X) ist leer, d. h. für die Regelanwendung
100
3.3
Segmentale Phonologie
Für die in Kap. 3.3.4.3 vorgestellten Typen phonologischer Prozesse können auf der
Grundlage des allgemeinen Regelschemas (56) speziellere Schemata formuliert werden:
Dieses Schema ist Mayerthaler (1974, 45) entnommen. Der griechische Buchstabe F
bildet eine Variable für die Merkmalwerte ›+‹ oder ›–‹ und ›M‹ steht für ein beliebi-
ges phonologisches Merkmal bzw. ein Bündel beliebiger Merkmale. Beispiele für die
progressive Nasalassimilation bilden (50a und c), für die regressive Nasalassimilation
(52) und (53). Die Regel für (52) (wiederholt als 60a) ist in (60b) informell und in
(60c) in formalisierter Form wiedergegeben:
(60) a. unklar ["/Unklaå8] q ["/UNklaå8]
Angabe ["/angA:b´] q ["/aNgA:b´]
b. /n/ q /N/ / ___ /k, g/
c. [+nas, +kor, –hint] q [–kor, +hint] / ___ [–son, + kons, –kont, –kor, +hint]
Die an der Assimilation beteiligten Merkmale ([koronal] und [hinten]) sind fettge-
druckt, die Variable F im Schema (59) ist einmal durch den Minus-Wert belegt (beim
Merkmal [koronal]) und einmal durch den Plus-Wert (beim Merkmal [hinten]). Das
Resultat der Assimilation ist die Übereinstimmung in den Werten dieser Merkmale
zwischen dem Output und dem Folgekontext der Regel. Diese Übereinstimmung wird
durch die Wahl der gleichen Variable F notationell erfasst.
Die Regeln für die progressive Nasalassimilation in (50) (vgl. 61a) sind in (61b
und c) formuliert:
(61) a. Leben: [le:bn`] q [le:bm`], legen: [le:gn`] q [le:gN`]
b. (i) /n/ q /m/ / /b, p/ ___ (ii) /n/ q/N/ / /g, k/ ___
c. [+nas, +kor, +silb, –lab, –hint] q [–kor, Flab, Ghint] /
[–son, + kons, –kont, –kor, Flab, Ghint] ___
Die Regel ist wie folgt zu lesen: Ein silbischer koronaler Nasal passt sich in der
Artikulationsstelle an den vorangehenden Plosiv an. Ist dieser ein Labial ([+lab,
–hint]), so ist der Nasal ebenfalls labial, also /m/. Ist er velar ([–lab, +hint]), so ist
der Nasal ebenfalls velar, also /N/.
101
3.3
Phonologie
102
3.3
Segmentale Phonologie
Wie das Beispiel (50) illustriert hat, stehen phonologische Prozesse im Normal-
fall nicht isoliert, sondern sind miteinander verknüpft. Anders gesagt, die Prozesse
und die sie repräsentierenden Regeln sind teilweise sequentiell geordnet.
3.3.4.5 | Regelordnung
Die Reihenfolge der in die Reduktionsketten in (50) involvierten Prozesse ist nicht
beliebig, sondern liegt fest: Die Schwa-Tilgung ist eine Bedingung sowohl für das
Silbischwerden des Nasals als auch für die progressive Nasalassimilation. Die Assi-
milation wiederum ermöglicht erst den Ausfall des Plosivs, z. B. in [le:m`]; eine Form
wie *[le:n`] für Leben ist nicht möglich. Die Abhängigkeit vom vorangehenden Re-
duktionsschritt gilt dann auch für die folgenden Ableitungsstufen in (50).
Ergibt sich, wie im diskutierten Beispiel, die Reihenfolge der Anwendung der
phonologischen Regeln aus der Struktur der Regeln selbst, so spricht man von inter-
ner Regelordnung. Die Schwa-Tilgungsregel in (65) ist der Assimilationsregel (61c)
notwendigerweise vorgeordnet, da nur durch die Tilgung Nasal und Plosiv (z. B. [bn`]
in Leben) adjazent werden und damit die Kontextbedingung für die Anwendung von
(61c) erst geschaffen wird.
Diese automatische Ordnung ist nicht für alle Regeln gegeben. Ergibt sich die
Reihenfolge nicht bereits aus der Struktur der Regeln selbst, sondern wird – aufgrund
der Daten in einer Sprache – quasi von außen postuliert, so spricht man von externer
Regelordnung.
Typisch für extern geordnete Regeln ist, dass sich verschiedene Sprachen oder
Dialekte in der Ordnung dieser Regeln unterscheiden können. Mayerthaler (1974, 62)
führt folgendes Beispiel an: In zwei alemannischen Dialekten sind die phonologischen
Regeln (a) /o/ q /O/ / __ vor Dental und (b) Plural-Umlaut unterschiedlich geordnet.
Die Tabelle in (68) illustriert die Regelfolge in Dialekt A (zu Dialekt B vgl. Aufgabe 7):
(68) Regelordnung in Dialekt A
Singular Plural
zugrundeliegende Form
(zugrundel. Repräsentation) /bod´/ /bog´/ /bod´/ /bog´/
Ri Pluralbildung (Umlaut) –– –– bPd´ bPg´
Rj o q O vor Dental bOd´ –– –– ––
abgeleitete Form
(phonetische Repräsentation) [bOd´] [bog´] [bPd´] [bPg´]
Die zugrundeliegende Form – in Schrägstrichen – enthält nur die nicht durch Regeln
voraussagbare, idiosynkratische Information über die phonologische Form der Wörter.
Die voraussagbaren Lauteigenschaften werden mit Hilfe geordneter Regeln aus der
zugrundeliegenden Repräsentation abgeleitet. Nach Anwendung der phonologischen
Regeln resultiert die phonetische Repräsentation (Notation in eckigen Klammern).
Diese enthält alle für die konkrete Aussprache der Wörter wesentlichen Informationen.
In (68) werden zunächst durch Umlautung (/o/ q /P/) die Pluralformen gebildet. Dann
erfolgt die Vokalsenkung von /o/ zu /O/. Die Pluralformen unterliegen diesem zweiten
Prozess nicht mehr, da der Input nicht /o/, sondern bereits durch die Umlautregel
abgeleitetes /P/ ist. Das heißt, die Umlautregel verkleinert den Input für die zweite
103
3.4
Phonologie
Regel (Vokalsenkung), da alle Pluralformen diese Regel nicht mehr durchlaufen. Diese
Art der Regelordnung, in der eine Regel den Input einer nachgeordneten verkleinert,
wird als bleeding order bezeichnet. Die eine Regel blutet die andere aus.
Erweitert dagegen eine Regel den Input einer nachgeordneten Regel, so spricht
man von feeding order. Die erste Regel ›füttert‹ die zweite, indem sie deren Anwen-
dungsmöglichkeiten vergrößert.
In der Merkmalsmatrix (69) werden nicht nur Eigenschaften wie Stimmton, Labialität
usw. in Form von binären Merkmalen einzelner Segmente dargestellt, sondern auch
Silbischkeit und Akzent. Diese Art der Repräsentation, wie sie z. B. in Chomsky/
104
3.4
Prosodische Phonologie
Halle (1968) üblich ist, bringt nicht zum Ausdruck, dass letztere Eigenschaften sich
über die Grenzen des einzelnen Segmentes hinaus auf größere Domänen wie Silbe
und Wort erstrecken.
In der nichtlinearen Phonologie wird die gesamte phonologische Information
über die Aussprache eines Wortes oder Satzes einschließlich der prosodischen nicht
in einer Merkmalsmatrix gebündelt, sondern auf mehrere Ebenen (Schichten, tiers)
verteilt. Die schematische Darstellung in (70) verdeutlicht diese Mehrschichtigkeit:
(70) Silbenschicht
Skelettschicht
Tonschicht
Segmentschicht
105
3.4
Phonologie
auf der Segmentschicht bilden Abkürzungen für Bündel segmentaler Merkmale wie
[stimmhaft], [koronal], [hoch] usw. In neueren Ansätzen werden diese Merkmale
nicht mehr als ungeordnete Bündel (s. Kap. 3.3.3), sondern ebenfalls mehrdimen-
sional repräsentiert, und zwar in sogenannten Merkmalbäumen. Einen Überblick
über das Merkmalhierarchiemodell bieten Wiese (1996, Kap. 3.1), Féry (2000, Kap.
4.5) und Hall (2011, Kap. 7). In (72) ist ein Merkmalbaum (nach McCarthy 1988,
105) abgebildet:
(72) son
WURZEL
kons
[sth] …
106
3.4
Prosodische Phonologie
(73) –son
WURZEL +kons
[+sth]
LABIAL
Der Plosiv /b/ ist – wie in (73) dargestellt – nicht für das Merkmal [rund] festgelegt.
Er kann sowohl mit gespreiztem (vor /i:/) als auch mit gerundetem (vor /u:/) oder
neutralem Lippenverschluss (vor /ɑ:/) produziert werden.
Aufgabe 8: Konstruieren sie nach dem Modell in (72) Merkmalbäume für folgende
Phoneme:
(a) /g/, (b) /f/, (c) /S/, (d) /e/, (e) /O/.
Welches Problem ergibt sich bei der Darstellung der Vokale?
Das Merkmalhierarchiemodell ist im Übrigen nicht nur aus phonetischer Sicht trans-
parenter als die klassische Konzeption, es erlaubt auch eine elegantere Darstellung
phonologischer Prozesse (vgl. dazu Wiese 1996, Hall 2011 und Féry 2000).
Ein Element der mehrdimensionalen Repräsentation, sei es auf der prosodischen
(vgl. 70) oder der subsegmentalen Ebene (vgl. 72), wurde bisher noch nicht erläutert,
nämlich die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Schichten. Sie werden als
Assoziationslinien bezeichnet und symbolisieren die Integration der phonologischen
Teilstrukturen auf den einzelnen Schichten zu einer Gesamtrepräsentation (zur Inter-
pretation der Assoziationslinien vgl. Sagey 1988). Eine grundlegende Einschränkung
für die mögliche Anordnung von Assoziationslinien ist das Verbot sich kreuzender
Linien (vgl. Goldsmith 1976), das in (74) schematisch dargestellt ist:
(74) * Schicht A —— X1 —— X2 ——
Schicht B —— Y1 —— Y2 ——
3.4.2 | Silbenstruktur
3.4.2.1 | Grundlagen
Die einfachste Möglichkeit zur Repräsentation der silbischen Strukturierung eines
Wortes in einem nichtlinearen Modell besteht darin, zwei Ebenen zu differenzieren,
Silben- und Segmentschicht. Eine solche flache Struktur bildet (75):
(75) X X Silbenschicht
z I l b ´ Segmentschicht
Ein solches Modell wurde auch tatsächlich vorgeschlagen (vgl. Kahn 1976). Seit
der Arbeit von Clements/Keyser (1983) ist allerdings die Hinzunahme einer dritten
Schicht üblich, der CV-Schicht. Abbildung (76) zeigt diese Erweiterung der Struktur
für das Wort Silbe:
107
3.4
Phonologie
(76) X X Silbenschicht
C V C C V CV-Schicht (Skelettschicht)
z I l b ´ Segmentschicht
Die Segmentschicht ist – wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde – nach unten weiter
aufspaltbar in Merkmalhierarchiebäume, deren oberste Wurzelknoten direkt mit der
CV-Schicht assoziiert sind. Im Folgenden wird die abkürzende Notationsweise in
(76) beibehalten. Das Kürzel C der CV-Schicht ist an engl. consonant angelehnt, das
Symbol V an engl. vowel. Dennoch stehen diese Kürzel nicht einfach für Konsonant
bzw. Vokal. Vielmehr bezeichnen sie unsilbische Segmente (C) und silbische Segmente
(V). Was bedeuten in diesem Zusammenhang ›unsilbisch‹ und ›silbisch‹? Diese Frage
lässt sich am leichtesten mit Blick auf die silbische Gliederung des Artikulationsab-
laufs beantworten. In (77) ist ein solcher Ablauf für das Wort Kappe schematisch
dargestellt (nach Ramers 1998, 78):
(77) Der Artikulationsablauf als Folge von Öffnungs- und Schließvorgängen:
k a p ´
C V C V
Intensitäts- Intensitäts- Intensitäts- Intensitäts-
minimum maximum minimum maximum
Die silbische Gliederung des Redestroms bildet – artikulatorisch betrachtet – eine Folge
von Öffnungs- und Schließvorgängen des Stimmtrakts (Mund- und Rachenraum).
Dabei wird der Mund nicht immer, wie im Beispiel (77), vollständig verschlossen,
sondern in anderen Wörtern mehr oder weniger stark verengt (vgl. Kasse, Kanne,
Karre). Eine einzelne Silbe bildet, bezogen auf die Artikulation, die Spanne von einem
lokalen Öffnungsminimum (bzw. Verengungsmaximum) bis zum nächsten. ›Lokal‹
bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sowohl das vorangehende als auch das
folgende Segment einen höheren Öffnungsgrad aufweist.
Mit einem artikulatorischen Öffnungsminimum korreliert im akustischen Be-
reich ein Minimum der Schallintensität, umgekehrt mit maximaler Öffnung maximale
Intensität. Auditiv entspricht die Intensität der wahrgenommenen Lautstärke. Das
heißt, bei sonst gleichbleibenden Bedingungen ist bei maximal geöffnetem Mund
auch die Lautstärke am höchsten. Der Vokal [A:] weist entsprechend im Vergleich zu
den anderen Segmenten den höchsten Öffnungsgrad, die höchste Intensität und die
höchste Lautstärke auf. Das silbische Element bildet in diesem Sinne das Segment mit
dem höchsten Öffnungsgrad innerhalb der Silbe, den Silbengipfel (›syllable peak‹). In
der CV-Notation wird dieses silbische Segment mit einer V-Position assoziiert, alle
anderen Segmente dagegen mit einer C-Position. Das heißt, jede Silbe enthält genau
ein V-Element auf der Skelettschicht.
108
3.4
Prosodische Phonologie
In der Regel bilden Vokale den Silbengipfel und Konsonanten nicht, aber es
existieren Ausnahmen in zwei Richtungen:
1. Kommen zwei Vokale in einer Silbe vor (Diphthonge), so bildet nur einer den Sil-
bengipfel und der andere ist unsilbisch. In (78) sind die entsprechenden CV-Strukturen
für die Diphthonge [aI8], [aU8] und [OI8] (in heiß, Haus, Heuss) dargestellt:
(78) a. C V C C b. C V C C c. C V C C
h a I s h a U s h O I s
Die Vokale [a] und [O] sind offener als [I] und [U]; deshalb bilden sie jeweils den
Silbengipfel. Die letzteren beiden Segmente werden daher, obwohl sie Vokale sind,
mit einer C-Position assoziiert. Sie besitzen quasi schwächere Vokaleigenschaften
als die vorangehenden offenen Vokale, weil sie über weniger Schallfülle verfügen. In
der Transkription wird der unsilbische Status dieser Vokale durch das diakritische
Zeichen [ 8] unter dem Vokal markiert.
2. ›V‹ ist in folgendem Fall nicht mit einem vokalischen Segment assoziiert: Fehlt in
einer Silbe ein Vokal, so bildet ein sonoranter Konsonant den Silbengipfel. Dies ist
im Deutschen immer dann der Fall, wenn Schwa vor einem Sonoranten ausfällt, z. B.
in den Reduktionsketten in Beispiel (50). Für die jeweils zweiten Silben der Wörter
Leben und Segel ergeben sich bei einer Realisierung ohne Schwa (also: [le:bn`] und
[ze:gl `]) die CV-Strukturen in (79):
(79) a. X b. X
C V C V
b n g l
Da diese Silben keinen Vokal enthalten, bilden die Sonoranten den Silbengipfel. Die
Affinität eines Segments zur Bildung des Silbengipfels hängt offensichtlich von zwei
Faktoren ab: (a) vom Lautkontext innerhalb der Silbe (vgl. 78 und 79) und (b) vom
inhärenten Öffnungsgrad des Segments. Nach dem Grad ihrer Affinität zur Silbengip-
felposition können Segmente in einer Sprache anhand einer Skala geordnet werden,
der Sonoritätsskala (Sonoritätshierarchie).
Sonorität
$ Silbengipfel $
109
3.4
Phonologie
Vom linken Silbenrand steigt die Sonorität zunächst bis zum Gipfel an und fällt dann
wieder zum rechten Rand ab. Diese Darstellung des Sonoritätsprofils sagt mehr aus als
nur die mehr oder weniger starke Affinität einzelner Segmente zur Bildung des Silben-
gipfels. Darüber hinaus wird eine Voraussage gemacht über die mögliche Abfolge von
Segmenten innerhalb der Silbe, über die Phonotaktik der Silbe. Die Sonorität steigt bis
zum Gipfel an und fällt dann wieder ab. Dies bedeutet, dass vom Silbenrand bis zum
Silbengipfel jedes Segment sonorer ist als das vorangehende, und vom Gipfel an jedes
Segment weniger sonor als das vorangehende. Selkirk (1984, 116) erfasst diese phono-
taktische Gesetzmäßigkeit in der ›Sonority Sequencing Generalization (SSG)‹ in (81):
(81) In any syllable, there is a segment constituting a sonority peak that is preceded and/or
followed by a sequence of segments with progressively decreasing sonority values. [In
jeder Silbe bildet ein Segment den Sonoritätsgipfel, dem eine Sequenz von Segmenten
mit progressiv fallenden Sonoritätswerten vorangeht oder folgt; H.R.]
Diese Skala kann die Phonotaktik innerhalb der Silbe im Deutschen relativ genau
prognostizieren. So sind die monosyllabischen Wörter in (83a) wohlgeformt, weil
sie der Sonoritätshierarchie in (82) und der Bedingung (81) entsprechen, die in (83b)
dagegen sind nicht wohlgeformt:
(83) a. Klaus [klaU8s], Preis [pRaI8s], Kerl [kERl], Halm [halm], Kraft [kRaft]
b. *Lkaus, *Rpeis, *Kelr, *Haml, *Kratf
Sonoritätsskalen wie (82) sind in ihren Grundzügen nicht einzelsprachspezifisch, sondern
universal, da das Konzept ›Sonorität‹ – wie bereits erläutert – phonetisch fundiert ist.
Die einzelnen Sprachen machen allerdings in ihren phonotaktischen Regeln einen
unterschiedlichen Gebrauch von der universalen Sonoritätshierarchie. Außerdem
bildet diese Hierarchie in zweierlei Hinsicht nur ein grobes Erklärungsmuster für die
Phonotaktik der Silbe: a) Bestimmte Segmentfolgen sind phonotaktisch zugelassen,
obwohl sie dem Sonoritätsprofil nicht entsprechen. b) Bestimmte Sequenzen sind
phonotaktisch nicht wohlgeformt, obwohl sie der Sonoritätshierarchie entsprechen.
Zunächst zum ersten Fall: Folgen von Segmenten mit gleichem Sonoritätsgrad
sind z. T. zugelassen. Dies betrifft u. a. Sequenzen zweier Plosive, deren zweiter Be-
standteil /t/ ist (vgl. (84)):
(84) Abt [pt], kippt [pt], Magd [kt], Takt [kt]
Außerdem sind im Deutschen Sequenzen aus stimmlosen Frikativen und Plosiven am
Silbenanfang (vgl. 85a) und die umgekehrten Sequenzen am Silbenende möglich (vgl.
85b), obwohl Frikative sonorer sind als Plosive:
110
3.4
Prosodische Phonologie
Bei näherer Betrachtung der Daten in (84) und (85) fällt auf, dass nur Segmente einer
bestimmten Lautklasse außerhalb des Sonoritätsprofils stehen, stimmlose koronale
Obstruenten. Marginale Ausnahmen hierzu bilden lediglich wenige Fremdwörter
(meist Eigennamen), in denen z. B. auch der Velarnasal [N] wortinitial vor einem
Plosiv stehen kann (vgl. z. B. die Sequenzen [Nk] und [Ng] in Nkomo ›Name eines
afrikanischen Politikers‹ und Ngoro-Ngoro-Krater (in Tansania)).
Wiese (1992) beschreibt die Sonderstellung der stimmlosen koronalen Frikative,
indem er sie als extrasilbisch (als Appendix) außerhalb der Kernsilbe positioniert.
Appendices werden in CV-Strukturen markiert, indem die entsprechenden Einheiten
der Skelettschicht nicht mit der Silbenschicht assoziiert werden (vgl. die Strukturen
in (86) für Streit und Gips):
(86) a. X b. X
C C C V C C C V C C
S t R a I t g I p s
Die Segmente /S/ und /s/ bilden keinen Teil der Kernsilbe, die mit ihnen verknüpften
C-Einheiten sind nicht mit der Silbenschicht assoziiert. Eine ähnlich Analyse schlägt
Vennemann (1982) vor, der diese Appendices als Nebensilben betrachtet.
Neben wohlgeformten Silben, die Ausnahmen zur Sonoritätshierarchie bilden,
sind umgekehrt auch bestimmte Sequenzen nicht möglich, obwohl sie dieser Hierar-
chie entsprechen. Im Deutschen sind beispielsweise Folgen aus Nasal + /R/ oder /l/ am
Silbenanfang nicht zugelassen: Dies zeigen unmögliche monosyllabische Wörter wie
*Mrin, *Nlan, *Mlas etc. Möglicherweise hängt diese Restriktion mit Problemen der
Artikulation oder Perzeption dieser Sequenzen am Silbenanfang zusammen. Andere
nicht auf die Sonoritätshierarchie zurückführbare Beschränkungen sind in Korpus
(87) illustriert:
(87) a. Salm – *Saalm – *Saulm Pulk – *Puhlk – *Peilk
Dorf – *Doorf – *Deirf Ding – *Dieng – *Daung
Kern – *Keern – *Keurn
Die Daten in (87) machen deutlich, dass im Deutschen nach Kurzvokalen noch zwei
Konsonanten in der Silbe folgen können, nach Langvokalen oder Diphthongen da-
gegen nur ein Konsonant. Koronale Obstruenten bilden wiederum Ausnahmen zu
dieser Restriktion (vgl. Mond, Magd, Feind etc.). Der Velarnasal [N] verhält sich – was
die Beispiele der letzten Reihe zeigen – in Bezug auf diese Restriktion wie ein Cluster
aus zwei Konsonanten und nicht wie ein einzelner Konsonant.
Beschränkungen wie die in (87) sind nicht mit Bezugnahme auf die Sonoritäts-
hierarchie, sondern nur mit Rekurs auf die Quantitätsstruktur der Silbe beschreibbar.
111
3.4
Phonologie
t S d Z t s p f
cheese German Zaun Pfau
beach bridge Katze Kopf
(89) Langsegmente
a. C C C C b. V C V C
t n i A
fatto penna tief Bahn
›gemacht‹ ›Feder‹
Die italienischen Daten in (89a) sind aus Ternes (1987, 114) entnommen. An den
Strukturen in (88) und (89) ist ablesbar, dass zwischen CV-Schicht und Segmentschicht
keineswegs immer eine 1:1-Beziehung besteht. Vielmehr wird sie in beide Richtungen
aufgebrochen: In (88) entspricht eine Einheit auf der CV-Schicht zwei Einheiten auf
der Segmentschicht, in (89) ist es umgekehrt.
Zunächst ein kurzer Blick auf die Affrikaten in (88). Die klassische Definition
lautet: Affrikaten bilden Kombinationen aus ›Plosiv + homorganem Frikativ‹ (s.
Kap. 3.2.2.3). Das heißt, Affrikaten bilden – rein phonetisch gesehen – Kombinatio-
nen von klar unterscheidbaren Segmenten und keine Einzelsegmente. Daher ist die
Repräsentation in (88) auf der Segmentschicht einleuchtend. Andererseits verhalten
sie sich phonotaktisch gesehen wie eine Einheit, was die Zuweisung einer C-Einheit
auf der CV-Schicht rechtfertigt (zu Argumenten für diese Analyse vgl. Ramers/Vater
1995, Ramers 1998 und Dogil/Jessen 1989).
Die Langsegmente in (89) bilden quasi das Spiegelbild zu den Affrikaten. Sie
sind phonetisch gesehen Einzelsegmente: Während der Produktion dieser Laute fin-
det keine deutlich wahrnehmbare Veränderung der artikulatorischen Eigenschaften
statt. Aus phonotaktischer Sicht dagegen bilden diese Segmente Lautkombinationen.
Langkonsonanten wie in (89a) kommen z. B. im Italienischen und Finnischen
vor, nicht jedoch im Deutschen. Einen zentralen Bestandteil des deutschen Lautsystems
bilden dagegen die Langvokale (siehe 89b). Welche Gründe sprechen dafür, diese als
zwei Einheiten auf der CV-Schicht zu repräsentieren? Eine solche Repräsentation
ermöglicht die einheitliche Formulierung einer phonotaktischen Restriktion für den
Wortauslaut: In dieser Position sind nach Kurzvokalen als Silbengipfeln – abgesehen
von koronalen Obstruenten – noch zwei Konsonanten möglich, nach Langvokalen
und Diphthongen dagegen nur noch ein Konsonant, wie die Korpora (87) (s. oben)
und (90) veranschaulichen:
112
3.4
Prosodische Phonologie
Die Wortgruppen (90a) bis (90c) illustrieren die zugelassenen Sequenzen im Auslaut,
(90d) bis (90 f) die nicht zugelassenen: Nur ein Konsonant kann jeweils Langvokalen
und Diphthongen folgen, maximal zwei dagegen sind nach Kurzvokalen möglich.
Repräsentiert man Langvokale wie in (89b) als zwei Einheiten (V + C) auf der CV-
Schicht, so kann diese Restriktion folgendermaßen formuliert werden:
(91) * V C C C]\
(91) bildet eine negative Wohlgeformtheitsbedingung für wortfinale Silben und einsilbi-
ge Wörter im Deutschen. Die Notation ist wie folgt zu interpretieren: Die schließende
eckige Klammer mit dem Index »\« kennzeichnet die rechte Wortgrenze, also den
Wortauslaut. Nach dem Silbengipfel V sind vor dieser Grenze keine drei C-Einheiten
auf der CV-Schicht zugelassen, d. h. maximal sind nur zwei dieser Einheiten möglich.
Die Abbildungen in (92) stellen die CV-Strukturen der Wörter Saal, Heim, Halm und
des »Unwortes« Saalm dar:
(92) a. X b. X c. X
C V C C C V C C C V C C
z A l h a I m h a l m
d. * X
C V C C C
z A l m
Die CV-Struktur in (92d) enthält drei C-Einheiten nach dem Silbengipfel V und ver-
stößt damit gegen die Restriktion in (91) (zu Ausnahmen vgl. 94).
Wir haben bisher phonotaktische Restriktionen sowohl für den Wort- und
Silbenanlaut als auch für den Auslaut betrachtet. Diese beschränken die maximale
Anzahl der Segmente innerhalb einer Silbe. Auf der Grundlage solcher Beschrän-
kungen entwickelt Wiese (1996, 38) das kanonische Maximalschema für Silben des
Deutschen in (93):
(93) X
C C V C C
Solche Schemata werden auch als templates (Schablonen) bezeichnet. Das ›template‹
in (93) ist so zu deuten: Sowohl vor als auch nach dem Silbengipfel V sind nur zwei
C-Positionen zugelassen. Ausgenommen von dieser Beschränkung sind lediglich
koronale Obstruenten und Obstruentencluster (/t/, /d/, /s/, /S/, /ts/ und /st/), die als
113
3.4
Phonologie
C C V C C C
f R O I n d
Ansatz Reim
(Onset)
Kern Koda
(Nukleus)
X X X X X
k v a l m
Der Silbenknoten ist – anders als im CV-Modell – nicht direkt mit der Skelettschicht
assoziiert, sondern mit Subkonstituenten der Silbe. Letztere liegen nicht auf einer
Ebene, sondern sind hierarchisch strukturiert. Das heißt, die Silbe zerfällt zunächst
in die unmittelbaren Konstituenten Ansatz und Reim. Der Reim wiederum enthält
die beiden Subkonstituenten Kern und Koda.
Die CV-Schicht ist durch eine X-Schicht ersetzt worden. Der Unterschied zwi-
schen V und C braucht nicht mehr auf der Skelettschicht repräsentiert zu werden, weil
die Position des Silbengipfels aufgrund der Konstituentenstruktur festgelegt werden
kann: Den Gipfel (syllable peak) bildet das erste Element im Silbenkern.
Das Konstituentenmodell ist komplexer als das flachere CV-Modell. Daher fragt
sich, wie dieses Mehr an Struktur zu rechtfertigen ist. Gesucht sind also phonologi-
sche Regularitäten, die mit Hilfe des Konstituentenmodells adäquater beschreibbar
sind als im CV-Modell. Im Folgenden werden einige Argumente für die Annahme der
Silbenkonstituenten ›Ansatz‹ und ›Reim‹ erörtert (zu den übrigen Konstituenten vgl.
Vennemann 1986, Eisenberg/Ramers/Vater 1992 und Hall 2011, Kap. 8).
1. Ansatz ( Onset): Innerhalb des Ansatzes bestehen Beschränkungen der Segmentab-
folge, die für Segmente in anderen Silbenpositionen nicht gültig sind. Ein Beispiel
bildet die Restriktion, dass Cluster aus ›Obstruent + Sonorant‹ nicht am gleichen
Artikulationsort gebildet sein dürfen (vgl. *Pmein, *Tnau, *Dlatt usw.). In (96) ist
diese Restriktion formal repräsentiert (nach Ramers 1998, 101):
114
3.4
Prosodische Phonologie
(96) *A
X X
ORT
Die beiden Konsonanten in (96) teilen sich den gleichen Ortsknoten, das heißt, sie
stimmen in der Artikulationsstelle überein (s. Kap. 3.4.1).
2. Reim: Diese Konstituente ist u. a. durch die Bedeutung des Endreims als Mittel der
Poesie begründet. Eine Strophe aus Friedrich Schillers Der Ring des Polykrates, die
Wiese (1996, 45) anführt, mag als Illustrationsbeispiel dienen:
(97) Er stand auf seines Daches Zinnen,
Er schaute mit vergnügten Sinnen
Auf das beherrschte Samos hin.
Dies alles ist mir untertänig,
Begann er zu Ägyptens König,
Gestehe, daß ich glücklich bin.
(Friedrich Schiller: Der Ring des Polykrates)
Der Endreim ist nach folgendem Grundprinzip aufgebaut: Der Silbenreim des letzten
Wortes eines Verses bleibt konstant, während der Ansatz variiert (vgl. Vers 3 und 6: hin
vs. bin). Dieser einfache Reimtyp wird als männlicher Reim bezeichnet. Eine weitere
Möglichkeit besteht darin, dass der vorletzte Silbenreim inklusive der kompletten letzten
Silbe konstant bleibt (vgl. Vers 1, 2, 4 und 5). Die sich reimende Kombination ›Silben-
reim + Silbe‹ wird von Berg (1989) als Superreim bezeichnet. Der Reimtyp selbst wird
weiblicher Reim genannt. Zu weiteren Evidenzen für den Reim vgl. Hall (2011, Kap. 8).
3.4.3 | Akzentstruktur
3.4.3.1 | Was ist Akzent?
In der Matrix (69) für das Wort Silbe (s. Kap. 3.4.1) wird Akzent als Merkmal von
Vokalen dargestellt: Der erste Vokal des Wortes ([I]) ist [+akzentuiert], der zweite
Vokal ([´]) dagegen [–akzentuiert]. Zunächst ist zu klären, in welchen phonetischen
Eigenschaften akzentuierte (betonte) Vokale sich von nicht-akzentuierten (unbeton-
ten) unterscheiden.
›Akzent‹ ist für einen Hörer der auditive Eindruck der Hervorgehobenheit (Pro-
minenz) eines Vokals gegenüber anderen Vokalen in der Äußerung. Das [I] in Silbe
wird im Vergleich zum Schwa-Vokal der zweiten Silbe als betont wahrgenommen.
Folgende phonetische Parameter tragen zu diesem perzeptiven Eindruck bei (vgl. zu
Details Pompino-Marschall 2009 und Hayes 1995):
115
3.4
Phonologie
Letztere Eigenschaft zeigt sich recht deutlich im oben angeführten Beispiel: Zur
Artikulation des betonten Vokals [I] wird die Zunge nach vorne und oben bewegt,
während sie bei der Bildung des unbetonten [´] in der Neutrallage verharrt.
Akzentuiertheit ist allerdings keine inhärente Eigenschaft von Vokalen wie
Zungenhöhe oder Lippenrundung: [I] beispielsweise ist ein Vokal mit den Merkmalen
[+hoch] und [–rund] in allen möglichen Kontexten, im Wort Silbe genauso wie in
Freundin. Das heißt, diese Eigenschaften kommen dem Vokal immer zu. Akzentuiert
ist der Vokal dagegen nur im ersten Wort, nicht im zweiten. Der Akzent ist eine re-
lationale, keine inhärente Eigenschaft: Vokale sind betonter im Vergleich zu anderen
Vokalen im Kontext.
Außerdem bildet Akzentuiertheit keine segmentale, sondern eine supraseg-
mentale (prosodische) Größe: Nicht allein der Vokal wird innerhalb einer Silbe
hervorgehoben, sondern auch die ihn umgebenden Konsonanten. Auch diese können
länger, intensiver, mit höherem Stimmton etc. realisiert werden als die Konsonanten
benachbarter Silben. Akzent ist folglich keine Eigenschaft von Vokalen, sondern von
ganzen Silben.
Die Relationalität des Akzents impliziert einen Vergleich von Silben innerhalb
eines größeren Bereichs (einer Domäne): Ist diese Domäne das einzelne Wort, so reden
wir von Wortakzent, ist der Vergleich auf den ganzen Satz bezogen, von Satzakzent.
Der letztere Typ ist in Beispiel (98) illustriert:
(98) a. Géstern hat STUTTgart gewónnen.
b. Géstern hat Stúttgart geWONnen.
c. GEStern hat Stúttgart gewónnen.
Die Notation in (98) ist wie folgt zu lesen: Das Akzentzeichen auf dem Vokal mar-
kiert die entsprechende Silbe als prominenteste innerhalb des Wortes. Sie trägt den
Wortakzent, z. B. die erste Silbe [gEs] in gestern (vgl. 98a und b). Die Wortakzent-
silbe, die innerhalb des Satzes am prominentesten ist, wird durch Großbuchstaben
gekennzeichnet: Sie trägt den Satzakzent, in (98a) z. B. die Silbe [StUt] des Wortes
Stuttgart. Durch Satzakzentuierung wird das gesamte Wort, zu dem die Akzentsilbe
gehört, bzw. die gesamte Wortgruppe innerhalb des Satzes hervorgehoben; sie steht
im Fokus des Satzes (s. dazu ausführlich Kap. 6.7)
Da der Satzakzent primär auf dem phonetischen Parameter Tonhöhe fußt, wird
dieses Phänomen zum Bereich der Intonation gerechnet. Intonatorische Mittel wer-
den zudem zur Markierung des Satzmodus verwendet (s. Kap. 3.4.1 und Kap. 6.6).
116
3.4
Prosodische Phonologie
Liberman/Prince 1977). Dieses eignet sich besonders gut zur Erfassung der Relatio-
nalität des Akzents. In (99) sind solche metrischen Bäume für die Wörter Weißwein,
Trinker und Weißweintrinker dargestellt:
(99) a. b. c.
s w s w s w
weiß wein trin ker
s w s w
weiß wein trin ker
Im einem metrischen Baum werden jeweils zwei Silben verglichen: Die stärkere er-
hält das Etikett »s« (engl. »stronger than«), die schwächere das Etikett »w« (engl.
»weaker than«). In (99a) ist die erste Silbe weiß stärker, d. h. betonter als die zweite
Silbe wein. In (99b) liegt die gleiche Akzentrelation zwischen den Silben trin und
ker vor. Im Kompositum Weißweintrinker werden in einem zweiten Analyseschritt
die jeweils stärksten Silben der beiden Konstituenten, weiß und trin, verglichen:
Die erste ist prominenter als die zweite und erhält ein weiteres s-Etikett auf einer
höheren Ebene der Baumstruktur. Diese Silbe trägt den Hauptakzent im gesamten
Kompositum. Im metrischen Baum ist dieser Status daran ablesbar, dass die Silbe nur
von s-Knoten dominiert wird. Die Silbe trin trägt einen Nebenakzent: Sie ist stärker
als die Silbe ker, aber schwächer als weiß. Hauptakzente werden in der phoneti-
schen Transkription durch einen hochgestellten Apostroph vor der Silbe markiert,
Nebenakzente durch einen tiefgesetzten; vgl. die Transkription ["vaI 8s vaI 8 n ÆtRINkå]
für Wéißweintrìnker. Als alternative Markierung dienen Akzentzeichen über den
Vokalen, der Akut (´) für den Hauptakzent und der Gravis (`) für den Nebenakzent
(vgl. Wéißweintrìnker). Komposita werden im Deutschen nach einer relativ festen
Regel akzentuiert (zu Details vgl. Wiese 2011, 80 f.):
(100) Kompositaakzent
Die zweite unmittelbare Konstituente eines Kompositums erhält den Hauptakzent, wenn
sie verzweigt, d. h., vereinfacht gesagt, wenn sie selbst ein Kompositum bildet. Ist dies
nicht der Fall, trägt die erste unmittelbare Konstituente den Hauptakzent.
In Beispiel (99c) ist die zweite Konstituente trinker selbst kein Kompositum, daher
erhält die erste Konstituente weißwein den Hauptakzent, der wiederum auf der pro-
minentesten Silbe dieser Konstituente, weiß, realisiert wird.
Der Terminus ›Konstituente‹ wird in Kapitel 2.3.3 ausführlich erläutert. In
diesem Abschnitt wird auch auf die Möglichkeit zur Disambiguierung doppeldeuti-
ger Komposita mit Hilfe des Akzents hingewiesen. Folgendes Beispiel illustriert diese
Möglichkeit: Das Wort Sommerreifenverkauf hat zwei Lesarten, 1) ›Verkauf von
Sommerreifen‹ und 2) ›Reifenverkauf im Sommer‹. In Lesart 1) trägt die erste Silbe
von Sommer den Hauptakzent, in Lesart 2) dagegen die erste Silbe von Reifen. Die
beiden metrischen Bäume in (101) repräsentieren diese unterschiedlichen Akzent-
verhältnisse:
117
3.4
Phonologie
(101) a. b.
s s
s w w w s w
sommer reifen verkauf sommer reifen verkauf
In (101a) bildet die erste unmittelbare Konstituente Sommerreifen selbst ein Kom-
positum, in (101b) die zweite Konstituente Reifenverkauf.
Die Silben in metrischen Bäumen werden nicht zu beliebigen Komplexen
zusammengefasst, sondern zur höheren prosodischen Einheit (metrischer) ›Fuß‹
(Notationssymbol: 8) (vgl. Selkirk 1980 und Uhmann 1991). Der Fuß bildet eine
Einheit, die genau eine betonte (starke) Silbe enthält und darüber hinaus beliebig viele
unbetonte Silben. In (102) ist die Fußstruktur für das Wort Sommerreifen abgebildet:
(102) \
8s 8w
Xs Xw Xs Xw
som mer rei fen
Die s-w-Etiketten sind in (102) als Subskripte den Symbolen für die prosodischen
Einheiten ›Silbe‹ und ›Fuß‹ beigefügt. Das gesamte Kompositum bildet die prosodische
Einheit ›phonologisches Wort‹ (›prosodisches Wort‹) (Symbol: \). (Zur Funktion dieser
Einheit in phonologischen Repräsentationen und Regeln vgl. Wiese 1996, Kap. 3.4).
Der Terminus ›Fuß‹ stammt aus der klassischen Versmetrik, in der verschiedene
Fußtypen differenziert werden. Die vier bekanntesten sind Trochäus, Jambus, Daktylus
und Anapäst. Die ersten beiden sind zweisilbig, die anderen dreisilbig. In (103) sind
Beispiele für diese Versfüße aufgeführt:
(103) a. Trochäus: Xs + Xw b. Jambus: Xw + Xs c. Daktylus: Xs + Xw + Xw
8 8 8
Xs Xw Xw Xs Xs Xw Xw
stutt gart pa ris ka na da
d. Anapäst: Xw + Xw + Xs
Xw Xw Xs
mon go lei
Die betonte Silbe im Fuß wird auch als Kopf bezeichnet: Trochäen und Daktylen
bilden entsprechend kopfinitiale Versfüße, Jamben und Anapäste dagegen kopffinale.
Fußstrukturen wie in (103) verwenden u. a. Goldsmith (1990), Uhmann (1991), Hall
(2011) und Féry (2014). Zur Rolle des Fußes in der Beschreibung phonologischer
118
3.4
Literatur
Prozesse verweise ich auf Nespor/Vogel (1986), Yu (1992), Wiese (1996) und Fuhr-
hop/Peters (2013).
Die Analyse einer Äußerung als Abfolge metrischer Füße spiegelt den rhyth-
mischen Charakter gesprochener Sprache: In regelmäßigen Abständen alternieren
betonte und unbetonte Silben. Zur Repräsentation rhythmischer Strukturen wurde
in der metrischen Phonologie neben dem Baum das metrische Gitter entwickelt (vgl.
Prince 1983, Féry 1986 und Hayes 1995).
Aufgabe 10: Stellen Sie die Akzentstruktur folgender Wörter in metrischen Bäu-
men dar:
(a) Konstanz, (b) Elefant, (c) Universitätscampus, (d) Wintermodenschau, (e)
Abenteuer
Die Idee, dass eine hierarchische Gliederung der segmentalen und prosodischen
Struktur von Äußerungen sinnvoll ist, haben so gut wie alle neueren phonologischen
Theorieansätze gemeinsam. Darüber hinaus hat sie auch die Art der Repräsentation
morphologischer und syntaktischer Strukturen maßgeblich bestimmt (s. Kap. 2 und 4).
Literatur
Grundlegende Literatur
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121
4.1
4 | Syntax
4.1 | Einleitung
Wenn wir sprechen oder etwas schreiben, sind unsere Äußerungen nicht einzelne,
unzusammenhängende Wörter, sondern größere Kombinationen von Wörtern, das
heißt Sätze. Es ist leicht zu sehen, dass die Wörter nicht wahllos zu Sätzen kombiniert
werden können. Denn während etwa Ich höre morgen auf zu rauchen ein grammati-
scher Satz ist, also ein Satz, der den Regeln der deutschen Grammatik entspricht, ist
der Satz Ich zu rauchen morgen aufhöre ungrammatisch, was mit einem Stern vor
dem Satz markiert wird (*Ich zu rauchen morgen aufhöre). Die Regeln, nach denen
Wörter zu grammatischen Sätzen kombiniert werden, sind der zentrale Gegenstand
der Syntax. Um diese Regeln richtig beschreiben zu können, muss man untersuchen,
wie Sätze aufgebaut sind, was für eine Struktur sie haben.
Die zweite Position ist allerdings nicht die einzige Position, in der Verben stehen
können. Wie man an den Sätzen in (2) und (3) unten sieht, können Verben auch in
der ersten Position des Satzes stehen oder in der letzten Position. Da diese Beobach-
tung, dass Verben an bestimmte Positionen im Satz gebunden sind, sehr wichtig ist
für die Beschreibung der Struktur deutscher Sätze, werden die Sätze im Deutschen
formal nach der Verbposition klassifiziert. Sätze wie (1a–b) mit Verbzweitstellung sind
Verbzweitsätze (V2-Sätze), Sätze wie (2a–b) mit Verberststellung sind Verberstsätze
(V1-Sätze) und Sätze wie (3a–b) mit Verbletztstellung sind Verbletztsätze (VL-Sätze).
122
4.2
Topologische Felder
Ist (4a) ein V1-Satz oder ein VL-Satz? Und ist (4b) ein V1-Satz oder ein V2-Satz? Für
die Klassifizierung entscheidend sind hier die beiden finiten Verben hast und werde, von
denen die beiden infiniten Verben gegossen und mitmachen abhängen. Da hast in der
ersten Position steht und werde in der zweiten, ist (4a) ein V1-Satz und (4b) ein V2-Satz.
Eine zweite Komplikation betrifft Sätze wie (5a–b), in denen vor den finiten
Verben hatte und sitzen nicht ein Wort steht, sondern mehrere Wörter:
(5) a. Der Kapitän des dänischen CSC-Rennstalls hatte in diesem Jahr schon zwei Etappen
gewinnen können.
b. An einem einer Schlange nachgebildeten Schreibtisch sitzen die Grafikspezialisten.
Auch wenn vor hatte in (5a) fünf Wörter stehen und vor sitzen in (5b) sechs Wörter,
besetzen hatte und sitzen nicht die sechste oder siebte Position, sondern die zweite.
Warum? Die Wörter vor hatte und sitzen bilden jeweils zusammen syntaktische Einhei-
ten, die auch als Konstituenten bezeichnet werden, und diese Einheiten, die in (6a–b)
mit eckigen Klammern markiert sind, besetzen vor hatte und sitzen die erste Position:
(6) a. [Der Kapitän des dänischen CSC-Rennstalls] hatte in diesem Jahr schon zwei Etappen
gewinnen können.
b. [An einem einer Schlange nachgebildeten Schreibtisch] sitzen die Grafikspezialisten.
Man kann auch nachweisen, dass die Wörter zusammen Konstituenten bilden, und
zwar anhand von Ersetzungen, Umstellungen und syntaktischen Funktionen. Schauen
wir uns das kurz genauer an. Versucht man in (5a) einen Teil der Wörter vor hatte
durch wer zu ersetzen, erhält man ungrammatische Sätze; nur dann, wenn man die
Wörter komplett ersetzt, erhält man einen grammatischen Satz. Auch in (5b) kann
man die Wörter vor sitzen nur komplett durch dort ersetzen.
(7) a. *Wer Kapitän des dänischen CSC-Rennstalls hatte in diesem Jahr schon zwei Etappen
gewinnen können?
b. *Wer des dänischen CSC-Rennstalls hatte in diesem Jahr schon zwei Etappen gewin-
nen können?
c. Wer hatte in diesem Jahr schon zwei Etappen gewinnen können?
Man kann die Wörter auch nur komplett umstellen und nicht getrennt:
(8) a. *Der hatte Kapitän des dänischen CSC-Rennstalls in diesem Jahr schon zwei Etappen
gewinnen können.
b. *Der Kapitän hatte des dänischen CSC-Rennstalls in diesem Jahr schon zwei Etappen
gewinnen können.
c. In diesem Jahr hatte der Kapitän des dänischen CSC-Rennstalls schon zwei Etappen
gewinnen können.
123
4.2
Syntax
Überlegt man nun noch, was für eine syntaktische Funktion die Wörter vor hatte und
sitzen haben, stellt man fest, dass sie auch nur zusammen eine syntaktische Funktion
haben: der Kapitän des dänischen CSC-Rennstalls ist in (5a) das Subjekt und an ei-
nem einer Schlange nachgebildeten Schreibtisch ist in (5b) eine Adverbialbestimmung
(kurz Adverbial).
Für VL-Sätze ist schließlich noch eine dritte Komplikation wichtig, die sich
bei der Klassifizierung von Sätzen wie (9a–b) ergibt, in denen das Verb nicht in der
Verbletztposition zu stehen scheint:
(9) a. … der sich fürchterlich aufregt über die Klausur
b. … ob es wohl regnet morgen
Man muss hier aufpassen: Verbletztposition bedeutet nicht dasselbe wie letzte Po-
sition im Satz. Es gibt hinter der Verbletztposition noch eine weitere Position, die
besetzt sein kann. In dieser Position hinter der Verbletztposition steht in (9a) über
die Klausur und in (9b) morgen. Die Sätze (9a–b) sind also VL-Sätze, auch wenn die
Verben aufregt und regnet nicht in der letzten Position stehen.
Wir haben jetzt mehrere Positionen im Satz ausgemacht, und zwar die Positio-
nen, in denen Verben stehen können, und die Positionen links und rechts von diesen
Verbpositionen. Traditionell wird angenommen, dass das finite Verb in V1- und V2-
Sätzen in der linken Klammer (LK) steht und in VL-Sätzen in der rechten Klammer
(RK). Die Position vor der linken Klammer in V2-Sätzen wird gewöhnlich als Vorfeld
(VF) und die Position hinter der rechten Klammer als Nachfeld (NF) bezeichnet, zu
denen noch das Mittelfeld (MF) als die Position zwischen der linken und rechten
Klammer hinzukommt. Diesen Bezeichnungen liegt die Annahme zugrunde, dass die
Sätze im Deutschen aus mehreren aufeinander folgenden Bereichen bestehen, die mit
einzelnen Wörtern oder Wortfolgen besetzt sind und die auch als topologische Felder
oder Stellungsfelder bezeichnet werden. Wir weichen hier von der traditionellen Rede-
weise ein wenig ab und bezeichnen – da in der linken Klammer von V1- und V2-Sätzen
immer ein finites Verb steht und in der rechten Klammer generell nur Verben (oder
Partikeln wie auf in aufhören) – die linke Klammer in V1- und V2-Sätzen als FIN und
die rechte Klammer als VK (so auch Höhle 1986, Pafel 2011 und Eisenberg 2013).
In der folgenden Übersicht sind in (10) V2-Sätze und in (11) V1-Sätze in Felder
eingeteilt; man beachte, dass in (11) links von FIN kein VF steht.
(10)
VF FIN MF VK NF
Ich habe mich sehr geärgert über das Spiel.
Es regnet!
Bei dem Wetter nehme ich das Auto.
Nun hör endlich auf!
Wen hast du heute getroffen?
124
4.2
Topologische Felder
(11)
FIN MF VK NF
Glauben die denn daran?
Kommt!
Meldest du dich auch an für das Seminar?
Hör endlich auf damit!
In dieser Übersicht fehlen die Felder am linken Satzrand, in denen unter anderem
Konjunktionen und vorangestellte Konstituenten stehen wie in Und den Hund,
wer füttert den im Urlaub? Zu diesen Feldern, die bei der Klassifizierung nach V1, V2
und VL übergangen werden, aber insbesondere für die Beschreibung der Syntax der
gesprochenen Sprache wichtig sind, ist Ausführliches in Pafel (2011) und Wöllstein
(2014) zu finden.
Da in VL-Sätzen die linke Klammer nicht mit einem finiten Verb besetzt ist,
sondern nur mit bestimmten Ausdrücken anderer Art besetzt sein kann (Subjunk-
tionen wie dass und ob, Relativausdrücken wie den und deren Katze, w-Ausdrücken
wie wen und mit welchen Büchern und gewissen anderen), verwenden wir wie Pafel
(2011) COMP als Bezeichnung für dieses Feld, um es von FIN zu unterscheiden. In
infiniten Sätzen kann COMP auch leer sein. Hier eine Übersicht mit verschiedenen
Arten von VL-Sätzen:
(12)
COMP MF VK NF
Ob es wohl regnen wird morgen?
Wenn das mal gut geht mit den beiden!
um nach dem Ball zu suchen
Sofort anhalten!
es morgen zu reparieren
deren Katze ich nicht leiden kann
wen du heute getroffen hast
Wenn man annimmt, dass Sätze aus solchen Feldern bestehen, sollte man gute
Gründe dafür haben. Gute Gründe dafür gibt es in der Tat, und zwar unter anderem
Wortstellungsregularitäten.
(13) a. … mit welchen Büchern man heute Geld verdienen kann
b. *… mit welchen Büchern heute man Geld verdienen kann
c. *… mit welchen Büchern heute Geld man verdienen kann
d. *… mit welchen man Büchern heute Geld verdienen kann
e. *… mit man welchen Büchern heute Geld verdienen kann
Vergleicht man die drei Sätze in (13a–c), so unterscheiden sie sich darin, dass das
Pronomen man in (13a) weiter vorne steht als in (13b–c). Noch weiter vorne vor
Büchern oder welchen kann man allerdings nicht stehen, wie (13d–e) zeigt. Der Grund
dafür ist, dass mit welchen Büchern und man in verschiedenen Feldern stehen müs-
sen. Da mit welchen Büchern in COMP steht und man im Mittelfeld, kann man den
Unterschied zwischen (13a) und (13b–c) so beschreiben, dass man im Mittelfeld am
Anfang stehen muss. In COMP wie in (13d–e) kann man offensichtlich nicht stehen.
125
4.3
Syntax
(14)
COMP MF VK NF
mit welchen Büchern man heute Geld verdienen kann
Anhand der Übersicht oben kann man noch andere Generalisierungen aufstellen, die
außerordentlich nützlich sind, wenn man einen bestimmten Satz als V1-, V2- oder
VL-Satz klassifizieren und in topologische Felder einteilen will:
(15) Einige Generalisierungen zu den topologischen Feldern:
a. Mittelfeld und Nachfeld müssen nie besetzt sein.
b. In allen V1- und V2-Sätzen muss FIN besetzt sein, VK jedoch nicht.
c. Weil infinite Verben nicht in FIN stehen können, sind alle V1- und V2-Sätze finit und
alle infiniten Sätze VL-Sätze.
d. In allen VL-Sätzen muss VK besetzt sein.
e. In allen finiten VL-Sätzen muss neben VK auch COMP besetzt sein, das heißt, alle
finiten VL-Sätze werden durch einen Ausdruck bestimmter Art eingeleitet.
f. Nur V2-Sätze haben ein Vorfeld.
4.3 | Konstituentenstruktur
Wir können jetzt mithilfe der topologischen Felder Sätze in einzelne Abschnitte
einteilen, die unterschiedlich besetzt sein können. So besetzt in dem VL-Satz ob ich
nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre die Subjunktion ob die linke Klammer, die
Wortfolge ich nächste Woche mit dem Rauchen das Mittelfeld und das finite Verb
aufhöre die rechte Klammer. Wir können aber noch nichts darüber sagen, wie die
Wortfolge ich nächste Woche mit dem Rauchen im Mittelfeld aufgebaut ist. Bilden
diese Wörter zusammen eine Konstituente wie die Wörter im Vorfeld von V2-Sätzen
oder bilden sie mehrere Konstituenten? Für diesen Satz scheint diese Frage nicht sehr
belangvoll zu sein, doch es gibt bestimmte Arten von Sätzen, die zeigen, dass die
Bedeutung eines Satzes nicht einfach von der Abfolge der Wörter abhängt, sondern
davon, welche Wörter zusammen Konstituenten bilden. Nehmen wir den folgenden
Satz, der in etwas veränderter Form aus Bader (1996) übernommen ist:
(16) Leider schmeckt ihr selbst gebackenes Brot nicht.
126
4.3
Konstituentenstruktur
Dieser Satz ist ambig, das heißt, er hat mehrere Bedeutungen oder, wie man auch sagt,
mehrere Lesarten. Die beiden Bedeutungen des Satzes kann man so umschreiben:
(17) Leider schmeckt das selbst gebackene Brot von ihr nicht. = Bedeutung 1
Dass der Satz (16) ambig ist, hängt damit zusammen, dass im Deutschen Wortformen
unterschiedlicher Wörter übereinstimmen können. Ersetzt man die Femininumform
ihr in (16) durch Maskulinumformen, erhält man zwei Sätze, die nicht mehr ambig
sind, und zwar zum einen Leider schmeckt sein selbst gebackenes Brot nicht und
zum anderen Leider schmeckt ihm selbst gebackenes Brot nicht.
Der wichtige Punkt für uns ist allerdings, dass der Satz (16) zwei verschiedene
Strukturen hat und dass in der einen Struktur mit der Bedeutung 1 die Wörter ihr und
selbst gebackenes Brot zusammengehören und eine Konstituente bilden und in der
anderen Struktur mit der Bedeutung 2 nicht. Wir können diese zwei unterschiedlichen
Strukturen mit den eckigen Klammern [ ], mit denen wir schon im vorangehenden
Abschnitt Konstituentengrenzen markiert haben, folgendermaßen auseinander
halten:
(19) Leider schmeckt [ihr selbst gebackenes Brot] nicht. = Bedeutung 1
Hinter dem Satz (16) verstecken sich also genau genommen zwei Sätze, die aus un-
terschiedlichen Konstituenten bestehen.
Man kann auch zeigen, dass es diese zwei verschiedenen Strukturen gibt und
sich daraus die verschiedenen Bedeutungen ergeben. Wenn man etwa das Pronomen
das nimmt, kann man in (16) zwei verschiedene Wortfolgen durch dieses Wort erset-
zen, nämlich entweder wie in (21a) ihr selbst gebackenes Brot oder wie in (21b) nur
selbst gebackenes Brot. Diese Ersetzungen machen den Satz eindeutig:
(21) a. Leider schmeckt [das] nicht. = Bedeutung 1
b. Leider schmeckt ihr [das] nicht. = Bedeutung 2
Diesen Effekt kann man so deuten, dass durch das nur eine Konstituente ersetzt werden
kann, nicht aber mehrere Konstituenten. Daraus folgt, dass die Wortfolge ihr selbst
gebackenes Brot nur dann, wenn sie wie in (19) oben zusammen eine Konstituente
bildet, durch das ersetzt werden kann und (21a) nur die Bedeutung 1 haben kann.
Damit haben wir einen ersten Konstituententest:
(22) Ersetzungstest (Substitutionstest):
Wenn die Wortfolge durch ein Wort ersetzt werden kann, deutet das darauf hin, dass
sie eine Konstituente ist.
Ein anderer Test beruht darauf, dass man Konstituenten umstellen kann. Stellt man
in Satz (16) die Wortfolge ihr selbst gebackenes Brot komplett ins Vorfeld um und
leider ins Mittelfeld, hat der Satz nur noch die Bedeutung 1, was man so deuten kann,
dass eine Konstituente umgestellt worden ist. Stellt man ihr oder selbst gebackenes
Brot separat um, haben die Sätze nur noch die Bedeutung 2, weil dann ihr und selbst
gebackenes Brot jeweils für sich eine Konstituente bilden.
127
4.3
Syntax
Der Fragetest, der oft als ein weiterer Test verwendet wird, ist nichts anderes als eine
Kombination aus Ersetzungstest und Umstellungstest, da eine Wortfolge durch ein w-
Wort wie was, wen oder wann ersetzt und dieses w-Wort ins Vorfeld umgestellt wird:
(25) a. [Was] schmeckt nicht? Ihr selbst gebackenes Brot. = Bedeutung 1
b. [Was] schmeckt ihr nicht? Selbst gebackenes Brot. = Bedeutung 2
Der ebenfalls oft verwendete Pronominalisierungstest, bei dem eine Wortfolge durch
ein Pronomen ersetzt wird, fällt unter den Ersetzungstest, weil ein Pronomen ein Wort
ist. Der Ersetzungstest ist besser geeignet als der Pronominalisierungstest, weil es in
vielen Fällen kein passendes Pronomen für die Ersetzung gibt. So kann man zum Bei-
spiel in dem Satz Heute scheint in Leipzig endlich wieder die Sonne die Wortfolge in
Leipzig zwar durch die Wörter hier und wo ersetzen, doch sind diese beiden Wörter
keine Pronomen, sondern Adverbien.
Wichtig zu beachten ist bei der Verwendung dieser Konstituententests, dass sie
nur Hinweise darauf liefern, ob eine bestimmte Wortfolge eine Konstituente ist, und
man sich nicht blind auf sie verlassen sollte. Es kann passieren, dass eine Wortfolge
sich zwar nicht umstellen oder ersetzen lässt, aber dennoch eine Konstituente ist.
So kann man etwa in dem folgenden Satz die Wortfolge über die Schwaben weder
ersetzen noch umstellen:
(26) Die meisten Witze über die Schwaben findet sie nicht sehr komisch.
Dass über die Schwaben dennoch eine Konstituente ist, sieht man, wenn man einen
weiteren Test hinzuzieht:
(27) Koordinationstest:
Wenn die Wortfolge mit einer anderen Wortfolge koordiniert werden kann, deutet das
darauf hin, dass sie eine Konstituente ist.
Dass man die Wortfolge über die Schwaben mit einer anderen Wortfolge wie über
die Bayern koordinieren kann, ist dann ein Indiz dafür, dass über die Schwaben
tatsächlich eine Konstituente ist:
(28) Die meisten Witze [über die Schwaben] und [über die Bayern] findet sie nicht sehr ko-
misch.
Da in (26) aber nicht nur über die Schwaben eine Konstituente ist, sondern unter
anderem auch die meisten Witze über die Schwaben, erhält man eine Struktur, in der
eine kleinere Konstituente Teil einer größeren Konstituente ist, oder, etwas allgemei-
ner formuliert, eine hierarchische Struktur, in der Konstituenten einander über- und
untergeordnet sind.
128
4.3
Konstituentenstruktur
(29) [Die meisten Witze [über die Schwaben]] findet sie nicht sehr komisch.
Damit sind wir wieder bei der Frage vom Anfang dieses Abschnitts: Bildet die Wort-
folge ich nächste Woche mit dem Rauchen in dem Satz ob ich nächste Woche mit
dem Rauchen aufhöre zusammen eine Konstituente? Die Wortfolgen nächste Woche
und mit dem Rauchen können separat ersetzt werden wie in (30a–b), im Mittelfeld
ihre Plätze tauschen wie in (31a) und auch separat ins Nachfeld umgestellt werden
wie in (31b–c).
(30) a. … ob ich dann mit dem Rauchen aufhöre
b. … ob ich nächste Woche damit aufhöre
Das spricht dafür, dass sowohl nächste Woche als auch mit dem Rauchen eine Kon-
stituente ist. Da auch dem Rauchen eine Konstituente ist (man vergleiche mit dem
Rauchen und dem Trinken), enthält das Mittelfeld von ob ich nächste Woche mit
dem Rauchen aufhöre die folgenden drei komplexen Konstituenten:
(32) ob ich [nächste Woche] [mit [dem Rauchen]] aufhöre
Wir können aber noch einen Schritt weiter gehen und überlegen, ob zum Beispiel auch
mit dem Rauchen zusammen mit aufhöre eine Konstituente bildet. Wenn mit dem
Rauchen und aufhöre eine Konstituente bildet, sollte sie mit einer anderen Konsti-
tuente koordinierbar sein. Die folgenden Beispiele deuten darauf hin, dass nicht nur
mit dem Rauchen aufhöre, sondern auch nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre
und ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre Konstituenten sind.
(33) a. … ob ich nächste Woche [mit dem Rauchen aufhöre] und [mit dem Joggen anfange]
b. … ob ich [nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre] und [übernächste Woche mit
dem Joggen anfange]
c. … ob [ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre] und [mein Arzt mich dafür
lobt]
Zusammen mit (32) erhalten wir dann für den Satz ob ich nächste Woche mit dem
Rauchen aufhöre eine sehr komplexe Konstituentenstruktur:
(34) ob [ich [[nächste Woche] [[mit [dem Rauchen]] aufhöre]]]
129
4.4
Syntax
dem Rauchen
130
4.4
Syntaktische Kategorien
Indem man Wörter zu Wortarten zusammenfasst, behauptet man, dass alle Wörter
dieser Wortart eine Menge von charakteristischen Eigenschaften haben. In unserem
Beispiel ist die charakteristische Eigenschaft die syntaktische Position, und das ist
131
4.4
Syntax
eine der wichtigsten Eigenschaften. Damit haben wir allerdings noch keine Defini-
tionen für die Wortarten. Welche Wortarten man für die syntaktische Beschreibung
verwendet, hängt davon ab, nach welchen Eigenschaften man sich bei der Einteilung
richtet; wenn man die Grammatiken des Deutschen durchsieht, stellt man fest, dass
jede Grammatik die Wortarten etwas anders einteilt und etwas andere Eigenschaften
zur Bestimmung dieser Wortarten verwendet (man vergleiche etwa Altmann/Hahne-
mann 2005, Eisenberg et al. 2009, Eisenberg 2013, Gallmann/Sitta 1997, Gallmann
et al. 2013, Heidolph et al. 1981, Helbig/Buscha 2001 und Zifonun et al. 1997). Wir
verwenden hier eine Einteilung, die sich an Zifonun et al. (1997, 23 ff.) orientiert.
Wie kann man erkennen, zu welcher Wortart ein Wort gehört? Kann das Wort
flektiert werden und in unterschiedlichen Formen auftreten, so kommen, wie wir im
Kapitel 2 gesehen haben, nur bestimmte Wortarten in Betracht, nämlich die flektierbaren
Wortarten. Zu welcher dieser Wortarten das jeweilige Wort gehört, hängt davon ab,
was für Flexionsmerkmale die Formen dieses Wortes haben. Bei den nicht-flektierbaren
Wortarten kann man nicht auf solche morphologischen Eigenschaften zurückgreifen,
weil die Wörter dieser Wortarten immer in derselben Form auftreten. Da sich die
nicht-flektierbaren Wörter aber darin unterscheiden, in was für Positionen sie stehen
können und mit was für Konstituenten sie kombiniert werden können, kann man die
nicht-flektierbaren Wörter nach ihren syntaktischen Eigenschaften klassifizieren. So
werden zum Beispiel Präpositionen typischerweise mit einer Konstituente kombiniert,
deren Kasus von der Präposition festgelegt oder, wie man auch sagt, regiert wird.
(39) Präpositionen:
a. mit dem Tisch (mit regiert den Dativ)
b. durch den Tunnel (durch regiert den Akkusativ)
c. jenseits der Grenze (jenseits regiert den Genitiv)
Konjunktionen werden mit mehreren in der Regel gleichartigen Konstituenten kom-
biniert, die auch als Konjunkte bezeichnet werden. Diese Konjunkte können Wörter
sein wie in (40a–b) oder auch komplexere Konstituenten wie in (40c–d).
(40) Konjunktionen:
a. Die meisten [Leipziger] und [Dresdner] sind stolz auf ihre Stadt.
b. Sind sie [für] oder [gegen] die Ganztagsschule?
c. Ich hätte gerne [ein kleines Brot] und [drei Mohnbrötchen].
d. [Sehr vergnügt] und [voller Eifer] machte sich Arno an die Arbeit.
Kombination mit anderen Konstituenten wird auch herangezogen, um zwischen
Determinierern und Pronomen zu unterscheiden. Die traditionelle Redeweise, dass
die Determinierer, zu denen unter anderem auch die Artikel gehören, Begleiter von
Nomen sind und Pronomen Stellvertreter von Nomen, meint nichts anderes, als dass
Determinierer in Kombination mit einem Nomen auftreten, Pronomen jedoch nicht.
(41) Pronomen:
a. Das muss man unbedingt beachten!
b. Einer wird gewinnen.
c. Beim letzten Mal sind alle pünktlich erschienen.
(42) Determinierer (Determinative, Determinatoren, Determinantien):
a. Das Schreiben muss man unbedingt beachten!
b. Ein Kandidat wird gewinnen.
c. Beim letzten Mal sind alle Gäste pünktlich erschienen.
132
4.4
Syntaktische Kategorien
133
4.4
Syntax
(48) Partikeln:
a. Valentine ist ja schon wach.
b. Du bist doch bescheuert!
c. Ob er wohl rechtzeitig kommt?
d. Darüber haben wir sehr gelacht.
Der Übersichtlichkeit halber sind hier alle flektierbaren und nicht-flektierbaren Wortar-
ten, die wir für die syntaktischen Beschreibungen verwenden, mit ihren Abkürzungen
und typischen Eigenschaften noch einmal aufgelistet (wobei wir Interjektionen wie
au und pst übergehen):
(49) Wortart typische Eigenschaft
Verb (V) finit oder infinit
Nomen (N) unterschiedlicher Kasus und Numerus, festes Genus
Adjektiv (A) unterschiedlicher Kasus, Genus und Numerus, oft komparierbar,
stark, schwach und gemischt flektierbar
Pronomen (Pro) unterschiedlicher Kasus, Genus und Numerus, ohne Nomen
Determinierer (D) unterschiedlicher Kasus, Genus und Numerus, mit Nomen
(50) Wortart typische Eigenschaft
Adverb (Adv) kann allein im Vorfeld stehen und ein Adverbial sein
Präposition (P) regiert Kasus
Subjunktion (C) nur in der linken Klammer
Konjunktion (K) mit mehreren Konjunkten
Partikel (Part)
Die Kriterien, die wir für die Einteilung der Wortarten verwenden, sind, wie wir
schon oben festgestellt haben, morphologischer oder syntaktischer Art. Das heißt,
relevant für die Bestimmung der Wortarten ist, wie die Wörter flektiert werden (so-
fern sie flektierbar sind) und in welchen Positionen im Satz und mit welchen anderen
Konstituenten sie zusammen auftreten können. Neben diesen morphologischen und
syntaktischen Kriterien werden oft auch semantische Kriterien verwendet, die sich
auf die Bedeutung der Wörter beziehen und meist zuerst herangezogen werden, um
Wortarten zu bestimmen. So heißt es etwa, dass Nomen Personen oder Dinge und
Verben Handlungen bezeichnen. Diese semantischen Kriterien sind sicherlich leichter
zu handhaben als die oben genannten morphologischen und syntaktischen Kriterien,
doch man sieht an den nicht-flektierbaren Wortarten, dass sie nur bedingt geeignet
sind für die Bestimmung der Wortarten.
Der Grund dafür ist, dass die Subjunktionen, Konjunktionen und Partikeln als
ein großer Teil der nicht-flektierbaren Wörter zu den sogenannten Funktionswörtern
gehören. Anders als die sogenannten Inhaltswörter (oft auch nicht gerade glücklich
lexikalische Wörter genannt), zu denen Nomen, Verben, Adjektive und oft auch
Adverbien und Präpositionen gezählt werden und die aufgrund ihrer spezifischen
Bedeutung etwas bezeichnen können, bezeichnen Funktionswörter nichts. Es gibt
Dinge, die wir als Staubsauger bezeichnen, Ereignisse, die wir als rauchen bezeich-
nen, Zustände, die wir als aufgeregt bezeichnen und Zeiträume, die wir als lange
bezeichnen. Doch es gibt nichts, was wir als obwohl, und oder überaus bezeichnen
könnten (s. auch Kap. 5.2.3).
Mit den oben genannten Wortarten können wir nun für den Satz ob ich nächste
Woche mit dem Rauchen aufhöre die Kategorien bestimmen, zu denen die einfachen
Konstituenten gehören:
134
4.4
Syntaktische Kategorien
135
4.4
Syntax
Damit haben wir die wichtigste Regel für komplexe Konstituenten (zu Köpfen in der
Morphologie s. Kap. 2.3.5):
(54) Kopf:
Jede komplexe Konstituente muss ein Wort enthalten, das der Kopf der komplexen
Konstituente ist und nicht wegfallen kann. Der Kopf einer komplexen Konstituente legt
fest, welche Eigenschaften sie hat.
Man sagt deshalb auch, dass eine komplexe Konstituente eine Projektion oder eine
Erweiterung des Kopfes ist. So, wie morphologische Köpfe in komplexen morpho-
logischen Ausdrücken Wortart, Genus und Flexionsklasse bestimmen, bestimmen
syntaktische Köpfe in komplexen syntaktischen Ausdrücken Phrasenart, mögliche
Positionen im Satz und anderes mehr (vgl. die Einleitung in Corbett/Fraser/McGlashan
1993 und vor allem Zwicky 1985).
Zählt man den gesamten Satz mit, gibt es in unserem Beispielsatz ob ich nächste
Woche mit dem Rauchen aufhöre, wie man an dem Baum in (51) sehen kann, sieben
komplexe Konstituenten. Wir müssen nun für diese Konstituenten überlegen, welches
Wort jeweils der Kopf ist. Beginnen wir mit der größten Konstituenten, dem Satz.
Vergleichen Sie die Sätze in (55) mit denen in (56):
(55) a. Arno weiß, dass sich die Erde um die Sonne dreht.
b. Sie fragt sich, ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre.
c. Dass der Hund schon wieder krank ist, überrascht mich nicht.
d. Ob dieses Problem überhaupt gelöst werden kann, ist fraglich.
(56) a. Seit Valentine laufen kann, ist nichts vor ihr sicher.
b. Obwohl sich die Erde um die Sonne dreht, wird uns nicht schlecht.
Während Sätze, die mit dass und ob eingeleitet werden, Objekte wie in (55a–b) oder
Subjekte wie in (55c–d) sein können, können Sätze, die mit seit oder obwohl einge-
leitet werden, nur Adverbiale wie in (56a–b) sein, aber keine Subjekte oder Objekte.
Welche syntaktische Funktion ein Satz, der von einer Subjunktion eingeleitet wird,
haben kann, hängt also offensichtlich von der Subjunktion ab. Wenn der Kopf einer
komplexen Konstituente unter anderem festlegt, welche syntaktische Funktion diese
Konstituente haben kann, bedeutet das, dass die Subjunktionen die Köpfe der Sätze
sind, die sie einleiten. Als Köpfe entscheiden die Subjunktionen auch darüber, mit
welchen anderen Konstituenten die Sätze kombiniert werden können, die sie einleiten:
(57) a. Arno denkt, dass er später mal Hirnforscher werden wird.
b. *Arno denkt, ob er später mal Hirnforscher werden wird.
Mit dem Verb denken kann offensichtlich nur ein mit dass eingeleiteter Satz kombi-
niert werden, aber nicht ein mit ob eingeleiteter Satz, was man auch so formuliert,
dass denken einen dass-Satz selegiert.
Man kann auch sehr schön an den Subjunktionen demonstrieren, dass das
finite Verb aufhöre der Kopf der Konstituente ich nächste Woche mit dem Rauchen
aufhöre ist. Denn während dass, ob, wenn, seit, obwohl und die meisten anderen
Subjunktionen nur mit einer Konstituente kombiniert werden können, die wie ich
nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre ein finites Verb enthält, können zum Beispiel
statt und um nur mit einer Konstituente kombiniert werden, die ein infinites Verb
enthält, man vergleiche statt in der nächsten Woche mit dem Rauchen aufzuhören.
136
4.4
Syntaktische Kategorien
Da das finite Verb aufhöre der Kopf der Konstituente ich nächste Woche mit
dem Rauchen aufhöre ist, ist es zugleich auch der Kopf der kleineren Konstituenten
nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre und mit dem Rauchen aufhöre. Das kann
man sich am besten anhand eines Baumes klar machen, in dem die Kategorien der
komplexen Konstituenten erstmal nach ihren Köpfen benannt sind:
(58) C
C V
ob
Pro V
ich
N V
A N P V
nächste Woche aufhöre
P N
mit
D N
dem Rauchen
In diesem Baum gibt es eine ununterbrochene Projektion von dem Verb aufhöre bis
zur komplexen Konstituente ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre, deren
Kopf aufhöre ist.
Beispiele wie die folgenden, in denen das Adjektiv frische und der Determinierer
den wegfallen können, aber nicht die beiden Nomen Milch und Löwen, sprechen
dafür, dass die beiden Nomen Woche und Rauchen die Köpfe von nächste Woche
und dem Rauchen sind:
(59) a. Ich trinke gerne [frische Milch].
b. *Ich trinke gerne [frische].
c. Ich trinke gerne [Milch].
(60) a. Vor [den Löwen] fürchtet Arno sich nicht mehr.
b. *Vor den fürchtet Arno sich nicht mehr.
c. Vor [Löwen] fürchtet Arno sich nicht mehr.
Dass in komplexen Konstituenten wie mit dem Rauchen die Präposition mit der
Kopf ist und nicht das Nomen Rauchen, erkennt man daran, dass das Verb aufhören
nur mit einer Konstituente kombiniert werden kann, die mit enthält, und nicht mit
Konstituenten, die auf oder in oder eine andere Präposition enthalten, man vergleiche
Ich höre nächste Woche mit dem Rauchen auf, *Ich höre nächste Woche auf dem
Rauchen auf und *Ich höre nächste Woche in dem Rauchen auf. So, wie ob eine
Konstituente selegiert, die ein finites Verb als Kopf enthält, selegiert aufhören eine
Konstituente, die die Präposition mit als Kopf enthält.
Wie man auch gut an dem Baum in (58) sehen kann, enden die verschiedenen
Projektionen in einem bestimmten Knoten. So endet zum Beispiel die Projektion von
aufhöre in dem Knoten, der die Schwester von ob ist. Diese Knoten, die eine Projektion
abschließen und für eine maximale Konstituente stehen, werden mit einer besonderen
Bezeichnung versehen, die mit einem P wie Phrase endet. Die Schwester von ob ist
entsprechend eine VP, eine Verbalphrase. Neben Verbalphrasen gibt es natürlich auch
137
4.4
Syntax
Mit diesen Annahmen kann man den Baum in (58) sehr einfach vervollständigen:
(62) CP
C VP
ob
Pro V’
ich
NP V’
A N PP V
nächste Woche aufhöre
P NP
mit
D N
dem Rauchen
138
4.5
Eingebettete Sätze
Q Ordnen Sie jede komplexe Konstituente einer phrasalen Kategorie zu. Beachten Sie
dabei, dass jede komplexe Konstituente einen Kopf hat, der ihre Kategorie festlegt.
Dabei gelten für die Bäume, mit denen man die Phrasenstruktur beschreibt, bestimm-
te Bedingungen, die auch für die morphologischen Bäume gelten, die in Kapitel 2
zu finden sind:
Q Linien beginnen und enden in Knoten, jeder Knoten steht für eine Konstituente.
Q Knoten, von denen nur eine Linie ausgeht, sind nicht-verzweigende Knoten, und
Knoten, von denen mehrere Linien ausgehen, verzweigende Knoten. Durch eine
Linie wird angezeigt, dass eine Konstituente in einer anderen Konstituente ent-
halten ist.
Q Ein Knoten ist mit höchstens einem Knoten direkt über ihm verbunden (ein Knoten
kann nicht mehr als eine Mutter haben).
Q Jeder Knoten hat eine Bezeichnung, die der Name einer Kategorie ist.
Q Die Linien sollen sich nicht überkreuzen.
Nach der Bedingung (61c) oben gibt es in den syntaktischen Strukturen keine nicht-
verzweigenden Knoten. Die verzweigenden Knoten sind immer binär verzweigend,
das heißt, es gehen zwei Linien von ihnen aus.
Aufgabe 2: Überlegen Sie, ob der Baum oben für den Satz ob ich nächste Woche
mit dem Rauchen aufhöre all diese Bedingungen erfüllt.
139
4.5
Syntax
Man bezeichnet Sätze, die in einer anderen Konstituente enthalten sind, als eingebettete
Sätze (Nebensätze) und Sätze, die nicht in einer anderen Konstituente enthalten sind,
als selbstständige Sätze (Hauptsätze). Da es auch vorkommt, dass wie in (63d) ein
eingebetteter Satz in einem anderen eingebetteten Satz steht, ist es sinnvoll, zusätzlich
zwischen untergeordneten und übergeordneten Sätzen zu unterscheiden. In (63d) sind
sowohl der obwohl-Satz als auch der wenn-Satz eingebettet, doch der obwohl-Satz
ist dem wenn-Satz übergeordnet. Man darf deshalb übergeordnete Sätze, die auch
Matrixsätze genannt werden, nicht mit Hauptsätzen gleichsetzen.
(64) [S1 [S2 obwohl ich eine teure Schuhcreme benutze [S3 wenn ich meine Schuhe putze]]
sehen sie spätestens nach einer Stunde wieder dreckig aus]
S1 = obwohl ich eine teure Schuhcreme benutze, wenn ich meine Schuhe putze, sehen
sie spätestens nach einer Stunde wieder dreckig aus = selbstständiger Satz, Matrixsatz
von S2
S2 = obwohl ich eine teure Schuhcreme benutze, wenn ich meine Schuhe putze = in S1
eingebetteter Satz, Matrixsatz von S3
S3 = wenn ich meine Schuhe putze = in S2 eingebetteter Satz
Es ist wirklich wichtig, dass man sich klar macht, dass die untergeordneten Sätze
Bestandteile der übergeordneten Sätze sind. In der Literatur ist eine Methode zu fin-
den, nach der man die übergeordneten Sätze erhält, wenn man die untergeordneten
Sätze wegstreicht. Dabei wird jedoch übersehen, dass ein untergeordneter Satz Teil
des übergeordneten Satzes ist und deshalb gerade nicht weggestrichen werden darf.
In (63c) zum Beispiel ist nicht lügt der Hauptsatz, sondern Wer das behauptet, lügt.
Alles andere macht keinen Sinn.
Doch es gibt, wie wir oben im Abschnitt über die topologischen Felder gesehen haben,
einen strikten Zusammenhang zwischen der Position des Verbs und den Wörtern und
Phrasen, die eingebettete Sätze einleiten: Steht am Anfang des eingebetteten Satzes eine
Subjunktion wie obwohl in (67a), ein w-Wort wie wo in (67b) oder eine Relativphrase
wie mit dem in (67c), ist der eingebettete Satz ein VL-Satz. Auch die infiniten Sätze
140
4.5
Eingebettete Sätze
wie schon wieder im Lotto zu verlieren in (67d), die nicht von einem Ausdruck in
der linken Klammer eingeleitet werden, sind immer VL-Sätze, weil ja infinite Verben
nicht in der linken Klammer stehen können. Man kann somit, wenn man die einge-
betteten Sätze nach ihrer Form klassifiziert, V1-, V2-, VL und die Art der Besetzung
der linken Klammer als Unterscheidungskriterium heranziehen. Es ergibt sich dann
folgendes Bild für die formale Klassifizierung der eingebetteten Sätze:
(68) eingebettete Sätze
w-Sätze: Die w-Sätze werden durch w-Wörter wie wer, was, wie, wann oder durch
w-Phrasen eingeleitet, die ein w-Wort enthalten.
(70) a. Es ist mir schleierhaft [wer dieses Problem lösen könnte].
b. Ich frage mich [mit welchen Leuten Karl überhaupt gesprochen hat].
c. Es ist unglaublich [wie viel Geld man damit verdienen kann].
Ein besonderes Problem für die syntaktische Beschreibung stellen die so genannten
freien Relativsätze wie in (72) dar, bei denen es anders als bei den nicht-freien Rela-
tivsätzen scheinbar kein Bezugswort gibt. Sie sind nicht immer klar von den w-Sätzen
zu unterscheiden, weil sich die Relativwörter in freien Relativsätzen von der Form
her nicht von w-Wörtern unterscheiden.
(72) a. [Wer in Plagwitz wohnt] wird nicht oft besucht.
b. [Wo ein Regenbogen beginnt] kann man Gold finden.
141
4.5
Syntax
das Wort am Anfang des Relativsatzes nicht durch eine komplexe Phrase ersetzbar
ist, ist der betreffende Satz ein freier Relativsatz.
(73) a. *Welcher Leipziger in Plagwitz wohnt, wird nicht oft besucht.
b. *An welcher Stelle ein Regenbogen beginnt, kann man Gold finden.
Das Relativpronomen hat darüber hinaus normalerweise den Kasus, der im Matrix-
satz gefordert wird:
(74) a. Wer in Plagwitz wohnt, wird nicht oft besucht.
b. *Wer in Plagwitz wohnt, mag ich.
In (74a) hat wer mit dem Nominativ den richtigen Kasus, da im Matrixsatz wird den
Nominativ fordert. Doch in (74b) hat wer mit dem Nominativ den falschen Kasus,
da mag im Matrixsatz nicht Nominativ, sondern Akkusativ fordert.
Infinite Sätze: Es gibt nicht nur eingebettete VL-Sätze, die ein finites Verb enthalten,
sondern auch eingebettete VL-Sätze, die nur ein infinites Verb enthalten; diese infiniten
Sätze werden anders als die finiten Sätze nicht immer durch besondere einleitende
Ausdrücke markiert. Wir klassifizieren hier Sätze wie um sich ein Eis zu kaufen als
Subjunktionalsätze, weil sie von einer Subjunktion eingeleitet werden, und zählen zu
den eingebetteten infiniten Sätzen nur die Sätze, die uneingeleitet sind.
Es ist oft nicht einfach herauszufinden, ob es sich bei einer bestimmten Wort-
folge um einen solchen infiniten Satz handelt oder nicht. Nehmen wir die Wortfolge
die Kakteen zu gießen in den folgenden Beispielen:
(75) a. … weil er immer die Kakteen zu gießen vergisst
b. … weil er immer die Kakteen zu gießen pflegt
Wenn wir diese Wortfolge ins Nachfeld oder innerhalb des Mittelfelds nach vorne
umstellen, ergeben sich deutliche Unterschiede (dazu ausführlich Bech 1983):
(76) a. … weil er immer vergisst die Kakteen zu gießen
b. *… weil er immer pflegt die Kakteen zu gießen
c. … weil er die Kakteen zu gießen immer vergisst
d. *… weil er die Kakteen zu gießen immer pflegt
Mithilfe der topologischen Felder kann man diesen Unterschied so beschreiben, dass zu
gießen in (75a) mit die Kakteen im Mittelfeld steht, in (75b) jedoch mit pflegt in RK.
(77)
COMP MF VK NF
weil er immer die Kakteen zu gießen vergisst
weil er immer die Kakteen zu gießen pflegt
In der Phrasenstruktur bildet zu gießen in (75a) mit die Kakteen einen infiniten Satz,
in (75b) jedoch nicht.
(78) a. [S1 weil er immer [S2 die Kakteen zu gießen] vergisst]
b. [S1 weil er immer die Kakteen zu gießen pflegt]
142
4.5
Eingebettete Sätze
Es mag befremdlich sein, dass entsprechend auch anzurufen in weil ich vergessen habe
anzurufen einen Satz bildet, doch es gibt viele andere Beispiele wie etwa Komm! oder
Stimmt, die nur aus einem Verb bestehen und dennoch ohne Befremden als Sätze
klassifiziert werden.
Man kann herausfinden, wo der ob-Satz steht, indem man durch Umformungen
dafür sorgt, dass auch VK besetzt ist. Denn dann erkennt man, ob der ob-Satz vor
oder hinter VK steht. So zeigt sich, wenn man aus dem V2-Satz (79) einen VL-Satz
macht, dass der ob-Satz im Nachfeld steht. Denn er steht hinter dem Verb weiß,
das VK bildet:
(80) a. … da ich nicht weiß, ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre
b. *… da ich nicht, ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre, weiß
Dasselbe Bild ergibt sich, wenn man statt einfacher Tempusformen wie weiß zusam-
mengesetzte Tempusformen wie habe gewusst verwendet, die nicht nur FIN, sondern
auch VK besetzen. So zeigen die beiden Sätze (81b–c), dass der w-Satz was in dem
Kasten ist auch in (81a) das Nachfeld besetzt:
(81) a. Valentine guckt, was in dem Kasten ist.
b. Valentine hat geguckt, was in dem Kasten ist.
c. *Valentine hat, was in dem Kasten ist, geguckt.
Dabei ist wichtig zu beachten, dass in komplexen Sätzen, in denen Sätze eingebettet
sind, diese eingebetteten Sätze einerseits komplett in einem Feld des übergeordneten
Satzes stehen, andererseits selbst aus einzelnen Feldern bestehen. So steht zum Beispiel
in (81a) der untergeordnete VL-Satz was in dem Kasten ist im Nachfeld des überge-
ordneten V2-Satzes Valentine guckt, was in dem Kasten ist, in den er eingebettet ist.
(82)
VF1 FIN1 MF1 VK1 NF1
Valentine guckt was in dem Kasten ist
143
4.5
Syntax
(ii) Gleich morgens fährt die Artdirektorin mit einem Berater zum Kunden, um
mit ihm genau zu besprechen, welche Informationen in der Selbstdarstellung
präsentiert werden sollen.
(iii) Die Gefahr, dass man durch Regen nass wird, wird zum Risiko, das man
eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt.
Manchmal genügt es aber nicht zu wissen, dass ein eingebetteter Satz im Nachfeld
eines anderen Satzes steht, weil es mehrere Nachfelder gibt, in denen er stehen könnte.
Nehmen wir den Satz Der Trainer sieht, dass ich trainiere, obwohl es neblig ist. Die
eine Lesart dieses Satzes besagt, dass der Trainer trotz des Nebels sieht, dass ich trai-
niere, während nach der anderen Lesart der Trainer sieht, dass ich trotz des Nebels
trainiere. Das ist offenbar nicht dasselbe. Man kann durch einige Umstellungen zeigen,
dass diese Mehrdeutigkeit auf zwei unterschiedliche Strukturen zurückzuführen ist.
(83) a. Obwohl es neblig ist, sieht der Trainer, dass ich trainiere.
b. Der Trainer sieht, obwohl es neblig ist, dass ich trainiere.
c. Dass ich trainiere, sieht der Trainer, obwohl es neblig ist.
d. Dass ich trainiere, obwohl es neblig ist, sieht der Trainer.
Die drei Sätze (83a–c), in denen entweder der obwohl-Satz oder der dass-Satz se-
parat umgestellt ist, haben nur die eine Lesart, nach der mich der Trainer trotz des
Nebels trainieren sieht, während der Satz (83d), in dem der obwohl-Satz zusammen
mit dem dass-Satz umgestellt ist, nur die andere Lesart hat, nach der ich trotz des
Nebels trainiere. Entsprechend bilden in der einen Lesart der dass-Satz und der
obwohl-Satz jeweils für sich eine Konstituente wie in (84a), während in der anderen
Lesart der obwohl-Satz Teil des dass-Satzes ist wie in (84b).
(84) a. Der Trainer sieht [dass ich trainiere] [obwohl es neblig ist].
b. Der Trainer sieht [dass ich trainiere [obwohl es neblig ist]].
In (84a) stehen der dass-Satz und der obwohl-Satz gemeinsam im Nachfeld des
Hauptsatzes, in (84b) hingegen steht der obwohl-Satz im Nachfeld des dass-Satzes.
Eine andere Möglichkeit, die beiden Strukturen zu unterscheiden, ist die Er-
setzung des obwohl-Satzes durch ein Adverb wie dennoch, das eine vergleichbare
Bedeutung hat. In der einen Lesart, in der der obwohl-Satz wie der dass-Satz zum
Hauptsatz gehört, steht dennoch im Hauptsatz, in der anderen Lesart, in der der
obwohl-Satz zum dass-Satz gehört, steht dennoch im dass-Satz.
(85) a. Der Trainer sieht dennoch, dass ich trainiere.
b. Der Trainer sieht, dass ich dennoch trainiere.
144
4.6
Zur Struktur von infiniten Sätzen, w-Sätzen und Relativsätzen
Die Wortfolge die Kakteen zu gießen kann in (86a), aber nicht in (86c) im Nachfeld
stehen und die Wortfolge die zu gießen kann in (86b), aber nicht in (86d) eine Rela-
tivphrase bilden. Wie ist dieser Unterschied zu deuten? Wenn die Kakteen zu gießen
bei vergessen eine CP ist, aber bei pflegen eine VP, kann dieser Unterschied so gedeutet
werden, dass CPs im Nachfeld stehen und Relativphrasen bilden können, VPs jedoch
nicht. Klassifiziert man die Kakteen zu gießen einheitlich als VP, bleibt der Unterschied
zwischen (86a–b) einerseits und (86c–d) andererseits rätselhaft.
Wir haben somit Sätze, die zwar CPs sind, aber anders als Subjunktionalsätze,
w-Sätze und Relativsätze nicht durch besondere Ausdrücke eingeleitet werden, sondern
uneingeleitet sind. Das scheint unvereinbar zu sein: Wenn ein Satz eine CP ist, dann
sollte diese CP nach der X’-Theorie auch einen Kopf haben, also ein Wort, das diesen
Satz einleitet. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist, dass die infiniten Sätze nur schein-
bar uneingeleitet sind. Tatsächlich steht wie in Subjunktionalsätzen am Satzanfang
eine Subjunktion. Diese Subjunktion ist aber anders als die anderen Subjunktionen
unsichtbar oder, wie man etwas genauer sagt, phonologisch leer.
(87) CP
C VP
NP V
zu gießen
D N
die Kakteen
Solche leeren Subjunktionen mögen auf den ersten Blick wie ein bloßer Trick aus-
sehen, der die Annahme, dass infinite Sätze CPs sind, rettet. Doch sie treten auch
noch in anderen VL-Sätzen auf, und zwar in w-Sätzen und Relativsätzen. In den
folgenden Beispielen werden der w-Satz und der Relativsatz offensichtlich von einer
Phrase eingeleitet:
145
4.6
Syntax
(88) a. Ich schau mal schnell nach, [PP auf welchem Gleis] der Zug ankommt.
b. der Dozent, [NP dessen Zigaretten] grauenhaft stinken
Die beiden Phrasen auf welchem Gleis und dessen Zigaretten scheiden als Köpfe aus.
Köpfe sind X-Kategorien wie C, P oder N, aber keine XP-Kategorien wie PP und NP.
Da w-Sätze und Relativsätze im Nachfeld stehen können, sind sie sicherlich keine
VPs, so dass auch ankommt und stinken als Köpfe ausscheiden. Was könnte dann
der Kopf des w-Satzes und des Relativsatzes sein? Eine leere Subjunktion, die rechts
mit einer VP und dann links mit einer w-Phrase oder Relativphrase kombiniert ist:
(89) CP
PP C'
P NP C VP
auf
D N NP V
welchem Gleis ankommt
D N
der Zug
(90) CP
NP C’
Pro N C VP
dessen Zigaretten
Adv V
grauenhaft stinken
Hinsichtlich der Konstituentenstruktur von VL-Sätzen ergibt sich so ein sehr einfaches
und einheitliches Bild. Alle VL-Sätze, ob finit oder infinit, sind CPs. In Subjunktional-
sätzen, die von einer sichtbaren Subjunktion wie dass, ob oder nachdem eingeleitet
werden, und in infiniten Sätzen steht der Kopf der CP, also C, am linken Rand der
CP. Das heißt, in Subjunktionalsätzen und infiniten Sätzen steht in der CP links von
C keine Konstituente. In w-Sätzen und Relativsätzen hingegen steht in der CP links
von C eine Konstituente, und zwar in w-Sätzen ein w-Wort oder eine w-Phrase und
in Relativsätzen ein Relativwort oder eine Relativphrase. Da rechts von C immer
ein Verb oder eine VP steht, können wir somit bei den VL-Sätzen die folgenden
Satzschemata unterscheiden:
(91) Subjunktionalsätze, infinite Sätze: [CP C [ … V]]
w-Sätze, Relativsätze: [CP … [C’ C [ … V]]]
146
4.7
Zur Struktur von V1- und V2-Sätzen
Als Konjunkte müssen die beiden Wortfolgen Arno ein Eis und Valentine einen Keks
Konstituenten sein. Doch nach allem, was wir über Konstituenten wissen, können sie
keine Konstituenten sein, da es keine wie auch immer geartete syntaktische Beziehung
zwischen den Teilen gibt. Beide Teile sind unabhängig voneinander und können auch
nicht zusammen im Vorfeld stehen (*Arno ein Eis will gerade nicht).
Des Rätsels Lösung ist, dass die beiden Konjunkte Arno ein Eis und Valentine
einen Keks mehr sind, als sie zu sein scheinen, nämlich VPs, denen der Kopf fehlt.
Arno, ein Eis, Valentine und einen Keks hängen von diesem fehlenden Kopf, den wir
als t notieren, ab, bekommen Kasus von ihm (Nominativ und Akkusativ) und stehen
in einer syntaktischen Relation zu ihm (Subjekt und Objekt).
(93) Gerade will weder [VP Arno ein Eis t] noch [VP Valentine einen Keks t].
Der Kopf, der den beiden VPs hier fehlt, ist offensichtlich das finite Verb will, das in
der V2-Position steht. Dieses finite Verb fehlt in den VPs, weil es in die V2-Position
umgestellt oder bewegt worden ist, weshalb man auch von V2-Bewegung spricht.
In der generativen Syntax werden solche Bewegungen, die Wörter oder Phrasen
umstellen und so die syntaktische Struktur verändern, seit Chomsky (1957) traditionell
Transformationen genannt. Oft wird angenommen, dass es im Deutschen neben der
V2-Bewegung auch andere Arten von Bewegungen gibt, und zwar Bewegung ins Vor-
feld (Topikalisierung und w-Bewegung), Bewegung im Mittelfeld (Scrambling) und
Bewegung ins Nachfeld (Extraposition). Genaueres zu Topikalisierung, w-Bewegung
und Scrambling ist unter anderem in der oben genannten Literatur und in Webelhuth
(1992) zu finden, während für alle möglichen Arten von Bewegungen ins Nachfeld
Altmann (1981) einschlägig ist.
Neben Koordinationen wie in (92) gibt es noch andere Argumente dafür, dass
die Verbletztstellung die grundlegende ist und die Verberst- und Verbzweitstellung
daraus abgeleitet sind. Zum einen gibt es eine Reihe von Verben, die eine Art V1- und
V2-Phobie haben (so Sternefeld 2009) und nur in der VL-Position stehen können.
Zu diesen Verben gehören neben den infiniten Verben und den Partikelverben (bei
denen nur der zweite Teil bewegt werden kann) auch viele rückgebildete Verben wie
kopfrechnen, generalüberholen und zweckentfremden.
147
4.7
Syntax
In einem zweiten Schritt müssen wir aber noch klären, in welcher Position das finite
Verb landet. Wir haben im Abschnitt über die topologischen Felder festgestellt, dass
die finiten Verben in V1- und V2-Sätzen nicht in der linken Klammer stehen, weil sie
Verben sind, sondern weil sie finit sind. Wenn die linke Klammer in V2- Sätzen eine
spezielle Position für finite Verben ist, ist es nahe liegend, dass es auch in der Phrasen-
struktur der V1- und V2-Sätze eine spezielle Kategorie gibt, die von den finiten Verben
gebildet wird. In den Beschreibungen der deutschen Syntax herrscht leider keine Einig-
keit darüber, wie diese Kategorie am besten bezeichnet werden sollte; vorgeschlagen
worden sind unter anderem I (wie englisch ›inflection‹), T (wie englisch ›tense‹) oder
auch F (wie ›funktional‹ oder ›finit‹). Wir schließen uns hier Haider (1993, 2010) an und
nennen sie F, was auch zu der Felderbezeichnung FIN passt. Da die finiten Verben in
V1- und V2-Sätzen die Köpfe der Sätze sind, sind V1- und V2-Sätze entsprechend FPs.
Wenn man von wenigen Ausnahmen absieht, wird das Vorfeld in V2-Sätzen
wie die linke Klammer durch Bewegung besetzt, das heißt durch Umstellung einer
148
4.8
Argumentstruktur
Konstituente aus dem Mittelfeld oder dem Nachfeld. Das gilt auch für das Subjekt im
Deutschen, weshalb das Deutsche entgegen dem ersten Anschein keine SVO-Sprache
ist, sondern eine SOV-Sprache. Die beiden V2-Sätze Arno isst gerne Eis und Eis isst
Arno gerne haben entsprechend die folgende Struktur, in der die beiden Indizes 1
und 2 dazu dienen, die beiden Bewegungen in die linke Klammer und ins Vorfeld
auseinanderzuhalten:
(98)
a. [FP Arno2 [F’ isst1 [VP t2 gerne Eis t1 ]]]
Damit können wir auch bei den V1- und V2-Sätzen zwei Satzschemata ansetzen (K
steht für ‚Konstituente‘):
(99) V1-Sätze: [FP F [VP ... ]]
V2-Sätze: [FP K [F’ F [VP ... ]]]
In V2-Sätzen ist die Position vor F, das Vorfeld, besetzt, in V1-Sätzen nicht; in F steht
aber in jedem Fall ein finites Verb.
4.8 | Argumentstruktur
4.8.1 | Argumente und ihre syntaktischen Realisierungen
Wie wir schon in Kapitel 2 ausgeführt haben, haben die verschiedenen Wörter einer
Sprache eine Reihe von Eigenschaften, die man nicht vollständig vorhersagen kann
und deshalb auch idiosynkratische Eigenschaften nennt. Zu diesen idiosynkratischen
Eigenschaften gehört bei vielen Wörtern auch die sogenannte Valenz, die die Kom-
binationsmöglichkeiten eines Wortes bestimmt. Die Valenz ist ein zentraler Begriff
der Dependenzgrammatik (grundlegend dazu Tesnière 1959, zum Deutschen Helbig
1992, Eroms 2000 und viele andere), spielt aber auch in jeder anderen Grammatik
eine wichtige Rolle, wenn auch nicht immer unter diesem Namen.
So wird etwa das Verb vorstellen obligatorisch mit einer Konstituente im Nomi-
nativ, einer Konstituente im Akkusativ und fakultativ mit einer Konstituente im Dativ
kombiniert (wir übergehen hier Beispiele wie Wessen Name mit A beginnt, muss sich
zuerst vorstellen, in denen vorstellen mit einem freien Relativsatz kombiniert ist):
(100) a. … weil die Rektorin ihr den neuen Dekan vorstellt
b. *… weil ihr den neuen Dekan vorstellt
c. *… weil die Rektorin ihr vorstellt
d. … weil die Rektorin den neuen Dekan vorstellt
Das formuliert man auch so, dass vorstellen drei Stellen zu besetzen hat, wobei
zwei Stellen immer besetzt sein müssen und eine Stelle auch unbesetzt bleiben kann.
Auch wenn vorstellen wie in (100d) nur mit zwei NPs vorkommt, wird der Satz so
149
4.8
Syntax
verstanden, als sei auch die dritte Stelle besetzt. Zu einer Situation, die man als vor-
stellen bezeichnet, gehören mindestens drei Personen, und zwar erstens jemand, der
vorstellt, zweitens jemand, dem vorgestellt wird, und drittens jemand, der vorgestellt
wird (es kann allerdings auch etwas vorgestellt werden wie in Die Rektorin hat den
neuen Studiengang vorgestellt).
Da nicht aus generellen Regeln folgt, mit welchen Konstituenten vorstellen
kombiniert werden kann, muss es eine Möglichkeit geben, diese Eigenschaften einzeln
festzuhalten, und Lexikoneinträge sind, wie wir schon im Kapitel 2 gesehen haben,
eine solche Möglichkeit. Lexikoneinträgen liegt ja die Vorstellung zugrunde, dass es
für jedes Wort einer Sprache einen Eintrag im Lexikon gibt, in dem alle besonderen
Eigenschaften dieses Wortes beschrieben sind. Zu diesen besonderen Eigenschaften
gehört bei Verben wie vorstellen neben der phonologischen und orthographischen
Form, der Wortart und der Flexionsklasse unter anderem auch, wie viele Stellen zu
besetzen sind und wie diese Stellen besetzt werden können, also kurz gesagt die Valenz.
Die Wörter, die eine Valenz haben, sind typischerweise Verben wie vorstellen, doch
auch Adjektive wie behilflich und Nomen wie Befreiung können mehrstellig sein (ein
uns bei der Lösung des Problems behilflicher Hiwi, die Befreiung der Geiseln durch
das Einsatzkommando).
Da die Anzahl der Stellen Teil der Semantik eines Wortes ist, Teil seiner Be-
deutung, doch die Art der Stellenbesetzung zur syntaktischen Charakteristik eines
Wortes gehört, ist es nützlich, im Lexikoneintrag eine entsprechende Zweiteilung
vorzunehmen und einerseits die Argumente anzugeben und andererseits die Katego-
rien, die diese Argumente syntaktisch realisieren. Beide Teile zusammen bilden die
Argumentstruktur. In der Argumentstruktur unten für vorstellen sind die Argumente
in der zweiten Zeile notiert und die Kategorien, die diese Argumente realisieren kön-
nen, in der ersten Zeile, wobei statt der NPs auch Nomen oder Pronomen auftreten
können (Karl stellt sich ihr vor). Die runden Klammern zeigen an, dass ein Argument
nicht unbedingt realisiert werden muss.
(101) NPNom1, (NPDat2), NPAkk3
VORSTELL(x1, x2, x3)
Man beachte, dass in der Argumentstruktur eines Wortes wirklich nur die nichtvor-
hersagbaren Kombinationseigenschaften festgehalten werden. Dass beim Passiv von
vorstellen wie in Nun wurde der neue Rektor vorgestellt die erste Argumentstelle
(derjenige, der vorstellt) nicht besetzt sein muss, ist keine besondere Eigenschaft von
vorstellen, sondern eine generelle Eigenschaft des Passivs. Diese Eigenschaft wird
deshalb auch nicht im Lexikoneintrag von vorstellen festgehalten, sondern in der
Regel, nach der das Passiv gebildet wird.
Die Kategorien, die in der Argumentstruktur eines Wortes stehen, werden von
dem jeweiligen Wort selegiert und als Komplemente oder Ergänzungen bezeichnet,
um sie von den Adjunkten, die auch Modifizierer, Angaben oder Supplemente genannt
werden und nicht selegiert werden, abzugrenzen. In (100a) sind entsprechend die
Rektorin, ihr und den neuen Dekan Komplemente von vorstellt. Da Adjunkte nicht
von einem anderen Wort im Satz abhängen wie Komplemente, sind sie, sofern es
keine semantischen Unverträglichkeiten gibt, mehr oder weniger beliebig hinzufügbar,
man vergleiche weil die Rektorin ihr wahrscheinlich morgen sofort in ihrem Büro
den neuen Dekan vorstellt, obwohl sie eigentlich keine Zeit hat.
150
4.8
Argumentstruktur
Neben den runden Klammern benötigt man noch andere Markierungen für
die Fälle, in denen ein Argument durch verschiedenartige Kategorien realisiert wer-
den kann:
(102) a. … ob Arno die Ursache herausfindet
b. *… ob Arno herausfindet
c. *… ob die Antwort herausfindet
d. … ob Arno herausfindet, dass die Erde keine Scheibe ist
e. … ob Arno herausfindet, ob es morgen im Kindergarten Frühstück gibt
f. … ob Arno herausfindet, wie viele Fahrräder ich habe
g. *… ob Arno herausfindet, Kartoffeln mit dem Messer zu schneiden
Wie man sieht, hat das Verb herausfinden obligatorisch zwei Argumente. Das eine
Argument ist eine NP im Nominativ, doch das andere Argument kann eine NP im
Akkusativ, ein dass-Satz, ein ob-Satz oder ein w-Satz sein. Das kann man mit ge-
schweiften Klammern so notieren (auch hier gilt natürlich wieder, dass statt der NPs
auch Nomen oder Pronomen auftreten können):
(103) NPNom1, {NPAkk2, CPdass2, CPob2, CPw2}
HERAUSFIND(x1, x2)
Zweigeteilte Argumentstrukturen bewähren sich, wie Höhle (1978) zeigt, besonders
in schwierigeren Fällen, in denen sich die Argumente und die Komplemente nicht
1:1 entsprechen und es entweder mehr Komplemente als Argumente oder umgedreht
mehr Argumente als Komplemente gibt. Hier sind solche Fälle:
(104) a. Gleich wird es schneien.
b. *Gleich wird der Himmel schneien.
c. Karl fasste schnell zu.
d. *Karl fasste den Fisch schnell zu.
Das Pronomen es ist in (104a) zwar ein obligatorisches Komplement von schneien,
da schneien mit es kombiniert werden muss (*Schneit?), doch es realisiert kein
Argument. Das ist unter anderem daran zu erkennen, dass es wie in (104b) gezeigt
nicht durch ein anderes Nomen oder eine NP ersetzbar ist. Wir haben mit schneien
also einen Fall, in dem es ein Komplement gibt, aber kein Argument. Bei zufassen in
(104c) ist es umgekehrt. Zwar bezeichnet zufassen eine Handlung, bei der jemand
nach etwas fasst, doch nur das eine Argument kann realisiert werden, wie (104d)
zeigt. Bei zufassen gibt es zwei Argumente, aber nur ein Komplement.
(105) a. es1
SCHNEI()
b. NPNom1
ZUFASS(x1, x2)
Aufgabe 5: Ermitteln Sie anhand der folgenden Sätze die Argumentstruktur für
aufhören. Überlegen Sie zuerst, wie viele Argumente aufhören hat und ob die
Argumente in diesen Sätzen immer realisiert sind, und dann, durch welche Kon-
stituenten die Argumente in diesen Sätzen realisiert sind.
(i) Ich höre gleich auf.
(ii) Du sollst mit dem Krach aufhören!
(iii) *Du sollst auf dem Krach aufhören!
151
4.8
Syntax
Diese beiden Sätze enthalten bis auf das Verb dieselben Ausdrücke und haben dieselbe
Struktur. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen den beiden Sätzen, denn man kann
zwar aus (106a), aber nicht aus (106b) eine Aufforderung bilden (Jackendoff 1972).
(107) a. Nimm einen Joghurt aus dem Kühlschrank!
b. *Bekomm einen Joghurt aus dem Kühlschrank!
Wie kann man das erklären? Da sich die Sätze nur darin unterscheiden, dass in dem
einen Satz nimmt das finite Verb ist und in dem anderen Satz bekommt, muss die
Erklärung bei diesen Verben zu finden sein, und zwar nicht in ihrer Form, sondern
in ihrer Bedeutung, ihrer Semantik. Die Verben nehmen und bekommen beschreiben
Situationen, in denen etwas den Platz wechselt. So wechselt in (106) ein Joghurt vom
Kühlschrank zu Arno. Doch Arno sorgt nur bei nehmen dafür, dass der Joghurt bei
ihm landet; bei bekommen hat er nichts damit zu tun, dass er nun einen Joghurt hat.
Ob jemand dafür verantwortlich ist, dass etwas den Besitzer wechselt, kann einen
großen Unterschied machen, man denke etwa an Kiep hat das Geld genommen und
Kiep hat das Geld bekommen und die möglichen strafrechtlichen Konsequenzen. Wir
haben somit eine Erklärung dafür, warum (107a) grammatisch ist, aber (107b) nicht:
Wenn jemand etwas verursachen soll, dann kann man ihn auch dazu auffordern, doch
wenn jemand nur der Nutznießer von etwas sein soll, geht das nicht.
Um diesen Unterschied zu erfassen, kann man auf die semantischen Rollen aus
Kapitel 2 zurückgreifen, die auch thematische Rollen genannt werden. Die Idee ist,
dass man die Argumente danach klassifizieren kann, welche Rolle die Teilnehmer, die
den Argumenten entsprechen, in der vom Satz beschriebenen Situation spielen. Wenn
Arno von Valentine geärgert wird, spielt er eine andere Rolle, als wenn er Valentine
ärgert, und entsprechend hat Arno in den beiden Sätzen Arno wird gerade von Va-
lentine geärgert und Arno ärgert gerade Valentine auch nicht dieselbe semantische
Rolle, obwohl Arno in beiden Sätzen ein Argument von ärgern ist. Welche Arten von
semantischen Rollen es insgesamt gibt und wie man die einzelnen Rollen zufrieden-
152
4.8
Argumentstruktur
stellend beschreiben kann, darüber gibt es leider keinen Konsens, und entsprechend
schwierig ist es oft zu entscheiden, welche Rolle ein bestimmtes Argument hat (man
vergleiche dazu die Einleitung von Dowty 1991 und Primus 2012). Wir verwenden
diese Rollen:
(108) Agens: Das Agens macht etwas oder verursacht etwas wie Arno in Arno nimmt sich
einen Joghurt oder von Valentine in Arno wird von Valentine geärgert.
Thema: Mit dem Thema passiert etwas durch die Handlung, es ist betroffen von der
Handlung, wechselt seinen Platz oder seinen Zustand wie ein Brot in Valentine isst ein
Brot, Valentine in Arno hat Valentine geweckt oder ich in Ich gehe jetzt. Manchmal
wird statt Thema auch Patiens verwendet.
Experiencer: Der belebte Experiencer ist sich etwas bewusst, empfindet etwas wie ich
in Ich hasse dich oder mich in Das beunruhigt mich sehr.
Quelle: Von der Quelle bewegt sich etwas weg wie aus dem Schrank in Valentine holt
einen Pullover aus dem Schrank.
Ziel: Zum Ziel bewegt sich etwas hin wie Erlangen in Endlich erreichte Clemens Erlan-
gen.
Rezipient: Der belebte Rezipient erhält etwas wie Axel in Axel hat eine Reise in die
Karibik gewonnen.
Instrument: Das Instrument wird benutzt, um eine Handlung zu vollziehen wie mit der
Schere in Valentine hat das Papier mit der Schere zerschnitten oder dieser Schlüssel in
Dieser Schlüssel wird die Tür öffnen.
Possessor: Der Possessor besitzt etwas, ihm ist etwas zugehörig, er hat Teile wie ich in
Ich habe drei Fahrräder oder dieses Kapitel in Dieses Kapitel enthält leider noch viele
Fehler.
Welche Rollen die Argumente jeweils haben, ist in der Argumentstruktur festgehalten,
wobei zu beachten ist, dass ein Argument durchaus mehrere Rollen spielen kann.
So ist das eine Argument von nehmen ein Agens, das eine Handlung in Gang bringt,
doch darüber hinaus auch ein Rezipient, der etwas erhält.
(109) a. NPNom1, NPAkk2, (PP3)
NEHM(x1, x2, x3)
x1: Agens, Rezipient, x2: Thema, x3: Quelle
b. NPNom1, NPAkk2, (PP3)
BEKOMM(x1, x2, x3)
x1: Rezipient, x2: Thema, x3: Quelle
Im Lexikoneintrag eines Wortes ist also nicht nur angegeben, mit wie viel Argumenten
das Wort erscheint und welche Form diese Argumente haben, sondern auch, welche
Rollen die Argumente haben.
153
4.9
Syntax
In allen drei Sätzen ist jeden Tag eine NP, doch die Funktion dieser NP ist in den drei
Sätzen nicht dieselbe. In (110a) ist sie ein Akkusativobjekt, in (110b) ein Adverbial
und in (110c) ein Attribut.
Umgekehrt gilt auch, dass die Konstituenten, die eine bestimmte Funktion ha-
ben, nicht unbedingt dieselbe Form haben müssen und unterschiedlich strukturierte
Konstituenten durchaus dieselbe Funktion haben können.
(111) a. Arno verspricht eine pünktliche Bezahlung.
b. Arno verspricht, pünktlich zu zahlen.
c. Arno verspricht, dass er pünktlich zahlen wird.
(112) a. Ich rasiere mich nach dem Frühstück.
b. Ich rasiere mich jeden Tag.
c. Ich rasiere mich so gut wie nie.
d. Ich rasiere mich, bevor ich frühstücke.
Die Sätze in (111) enthalten nach üblicher Auffassung alle ein Akkusativobjekt,
dieses Objekt hat aber die Form einer Nominalphrase, eines infiniten Satzes oder
eines Subjunktionalsatzes. Und die Sätze in (112) enthalten alle ein Adverbial, das
154
4.9
Syntaktische Funktionen
Die Verben bezichtigen und entheben werden hier mit einem Pronomen und zwei NPs
kombiniert. Das Pronomen ist das Subjekt, die NP im Akkusativ ist das eine Objekt
und die NP im Genitiv ist das andere Objekt. Wie man an (114c–d) sieht, kann im
Mittelfeld das Akkusativobjekt nicht hinter dem Genitivobjekt stehen, und das gilt
für alle Verben vom Typ bezichtigen und entheben. Dass tatsächlich die syntaktische
Funktion entscheidend ist und nicht die syntaktische Kategorie, zeigt (115):
(115) a. Sie werden den Präsidenten eines Tages aller Ämter entheben.
b. Sie werden eines Tages den Präsidenten aller Ämter entheben.
Auch bei bezichtigen und entheben kann eine NP im Genitiv vor einer NP im Akku-
sativ stehen, doch dann muss die NP ein Adverbial sein wie hier eines Tages.
b) Wenn das Mittelfeld ein kausales Adverbial wie wegen der Radarfalle und ein
modales Adverbial wie langsam enthält, so muss das modale Adverbial hinter dem
kausalen Adverbial stehen. Auch vor temporalen Adverbialen wie heute und gerade
kann langsam nicht stehen. Die Abfolge modales Adverbial vor lokalem Adverbial
hingegen ist nicht ausgeschlossen.
155
4.9
Syntax
Um festzustellen, ob ein bestimmter Satz Subjekt ist, kann man versuchen, den Satz
wie in (118) vorgeführt durch es zu ersetzen. Kann es im Vorfeld stehen wie in (118b),
ist der durch es ersetzte Satz ein Subjekt, andernfalls nicht. Der dass-Satz in (118a)
ist also ein Subjekt, doch der dass-Satz in (118c) nicht.
(118) a. Dass es regnet, ärgert mich.
b. Es ärgert mich.
c. Dass es regnet, glaube ich nicht.
d. *Es glaube ich nicht.
Objekt: Es ist schon aufgrund der freien Relativsätze sinnvoll, nicht nur Nomen,
Pronomen und NPs, sondern auch die verschiedenartigen Sätze, die durch Nomen,
Pronomen oder NPs ersetzt werden können, als Objekte zu bezeichnen. So ist der
freie Relativsatz was auf den Tisch kommt in Du isst, was auf den Tisch kommt!
ein Akkusativobjekt. Oft wird statt von Akkusativ- und Dativobjekten von direkten
und indirekten Objekten gesprochen, doch ist dann nicht immer klar, ob die Dati-
vobjekte von Verben wie helfen oder vertrauen, die nur ein Objekt haben, direkte
oder indirekte Objekte sind.
156
4.9
Syntaktische Funktionen
(119) Akkusativobjekte:
a. Karin lernt italienische Vokabeln.
b. Dass man es ohne Krawatte zu nichts bringt, muss Clemens noch lernen.
c. Ob man Kartoffeln mit dem Messer zerschneiden darf, weiß ich nicht.
d. Arno fragt sich, wo die Buntstifte sind.
e. Meine Zähne zu putzen, vergesse ich leider ziemlich oft.
f. Ich denke, Arno hat jetzt erstmal genug Bücher.
g. Ich trage, was alle tragen.
(120) Dativobjekte:
a. Diesem Kerl kann man wirklich kein Geheimnis anvertrauen.
b. Wem so etwas glückt, gebührt unsere Anerkennung.
(121) Genitivobjekte:
a. Die Firma muss sich noch dringend des Sondermülls entledigen.
b. Diese Hausarbeit bedarf noch einer sorgfältigen Überarbeitung.
(122) Präpositionalobjekte:
a. Arno freut sich sehr über diesen tollen Bagger.
b. Ich werde mich schon noch daran gewöhnen.
c. Sie wundern sich sicher, dass es so viele Arten von Objekten gibt.
d. Wir werden Sie sofort informieren, ob es klappt.
e. Informier mich doch bitte, wann du dran bist!
f. Ich freue mich, endlich wieder mit dem Fahrrad fahren zu können.
Wenn man die beiden Sätze (119c) und (122d) vergleicht, stößt man auf ein Problem:
Wie findet man heraus, welche Funktion der ob-Satz hat? Auch hier hilft Ersetzen.
Die Sätze, die Akkusativobjekte sind, sind wie die Subjektsätze durch Pronomen
ersetzbar, während die Sätze, die Präpositionalobjekte sind, durch Adverbien wie
darüber, davon und darauf ersetzbar sind, also durch Adverbien, die eine Präposi-
tion enthalten.
(123) a. Ich weiß das auch nicht.
b. *Wir werden Sie das sofort informieren.
c. Wir werden Sie darüber sofort informieren.
Das ist kein Zufall. Verben, die ein Präpositionalobjekt haben, verlangen als Kom-
plement, wenn man von den Sätzen absieht, eine Konstituente, die eine bestimmte
Präposition enthält; informieren zum Beispiel verlangt eine Konstituente, die die
Präposition über enthält. Das kann eine PP wie über den aktuellen Spielstand sein
oder auch ein Adverb wie darüber in (123c).
Damit haben wir auch eine Faustregel für die Unterscheidung zwischen PPs,
die Präpositionalobjekte sind, und PPs, die Adverbiale sind. Bei einem Präpositio-
nalobjekt legt das Verb die Präposition fest, die keine Bedeutung mehr hat (über
in Wir informieren Sie über den aktuellen Spielstand zum Beispiel hat keine lokale
oder sonstige Bedeutung). Die PP kann deshalb auch nur durch ein Adverb mit
dieser Präposition erfragt werden (Worüber informieren wir uns? Über den aktuel-
len Spielstand). Bei einem Adverbial hingegen können typischerweise verschiedene
Präpositionen auftreten, die eine bestimmte Bedeutung haben (wie in Ich gehe über
den Hof, in den Keller, vor die Tür, hinters Haus), weshalb auch nicht unbedingt
eine Präposition in der entsprechenden Frage auftauchen muss (Wohin gehst du?
Vor die Tür).
157
4.9
Syntax
Prädikat: Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen davon, was unter dem Prädikat
eines Satzes zu verstehen ist; wir folgen hier einer engen syntaktischen Auffassung,
nach der nur Verben als Prädikate fungieren können. Man kann das etwas genauer
so formulieren, dass alle finiten und infiniten Verben eines Satzes zusammen das
Prädikat dieses Satzes bilden. Je nachdem, ob es sich um ein Verb handelt oder um
mehrere, ist das Prädikat einfach (einteilig) oder komplex (mehrteilig).
(124) Einfache Prädikate:
a. Karl schnarcht.
b. Bruno ist wirklich gemein.
c. ohne den Apfel zu essen
d. Meldest du dich auch für das Seminar an?
(125) Komplexe Prädikate:
a. Ich bin gestern nach Halle gefahren.
b. Ob das wohl gut gehen wird?
c. Vielleicht solltest du mal wieder Urlaub machen.
d. Ich gehe gleich einkaufen.
e. Valentine scheint endlich zu schlafen.
f. Angemeldet habe ich mich schon.
Anders als manchmal zu lesen ist, unterscheiden sich Adverbiale und Objekte nicht
darin, dass Adverbiale fakultativ sind und Objekte obligatorisch. So sind das Adverbial
und das Akkusativobjekt in (127a) beide fakultativ und in (127b) beide obligatorisch.
(127) a. Arno isst gerade ein Stück Kuchen.
b. Tilman verbringt den Urlaub in Ungarn.
Prädikativ: Bei den drei Kopulaverben sein, werden und bleiben und anderen Ver-
ben gibt es neben dem Subjekt noch eine andere Konstituente, die auf das Subjekt
bezogen ist und die Funktion eines Prädikativs hat; vereinfacht gesagt bezeichnen
solche Prädikative Eigenschaften des Subjekts. So wird zum Beispiel derjenigen, die in
(128a) mit Valentine gemeint ist, eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben, nämlich
die Eigenschaft, schrecklich müde zu sein. Neben Prädikativen, die auf das Subjekt
bezogen sind, gibt es auch bei Verben wie nennen, machen und finden Prädikative,
die auf ein Objekt bezogen sind.
158
4.9
Syntaktische Funktionen
Attribut: Die Konstituenten, die Attribute sind, sind in der Regel auf ein Nomen
bezogen. So ist zum Beispiel in der NP das Pferd meines Bruders das Genitivattribut
meines Bruders auf das Nomen Pferd bezogen. Vereinfacht gesagt trägt ein Attribut
dazu bei, was die Phrase, in der es steht, bezeichnet; die NP die heutige Fahrt nach
Dresden in (129b) zum Beispiel bezeichnet nicht irgendeine Fahrt, sondern eine Fahrt,
die heute stattfindet und nach Dresden führt. Man sieht an der folgenden Liste von
Beispielen, dass sehr viele verschiedene Arten von Konstituenten als Attribute auf-
treten können (unberücksichtigt bleiben hier die engen Appositionen wie Sachsen in
das Bundesland Sachsen oder Bier in eine Flasche Bier).
Wenn man all die syntaktischen Kategorien durchgeht und prüft, ob sie eine syntakti-
sche Funktion haben können oder nicht, stellt man fest, dass nur Wörter und Phrasen
eine syntaktische Funktion haben können, aber die Zwischenkategorien wie etwa
N’ nicht. Allerdings haben nicht immer alle Phrasen und Wörter in einem Satz eine
syntaktische Funktion. VPs zum Beispiel oder auch Präpositionen haben generell keine
syntaktische Funktion. (Man beachte, dass wir Ausdrücke wie schnell in Ich gehe
schnell in den Keller oben als Adverbien und nicht als Adjektive klassifiziert haben.)
(130) Subjekt Objekt Adverbial Attribut Prädikativ
NNom, ProNom, NPNom
NAkk, ProAkk, NPAkk
NDat, ProDat, NPDat
NGen, ProGen, NPGen
A, AP
PP
Adv, AdvP
V1-Satz
V2-Satz
159
4.9
Syntax
Aufgabe 7: Zeichnen Sie für den folgenden Satz einen Phrasenstrukturbaum und
geben Sie alle syntaktischen Funktionen an:
Der verdiente Sieg über den Tabellennachbarn aus Berlin weckte neue Hoffnungen
auf den Klassenerhalt.
Überprüfen Sie, ob wirklich alle Konstituenten mit einer syntaktischen Funktion
Wörter oder Phrasen sind und alle Attribute in einer NP stehen.
160
4.9
Literatur
Die kursiv markierten PPs in diesen Sätzen sind Komplemente, und zwar in (132a–b)
Komplemente von Verben und in (132c–d) Komplemente von Nomen. Das erkennt
man unter anderem daran, dass die Präpositionen der PPs von den Verben und den
Nomen bestimmt werden (*Ich weise ihn mal an den Fehler hin, *der leider vergeb-
liche Appell auf ihre Vernunft). Da die PPs in (132c–d) zumindest nach traditioneller
Vorstellung Attribute sind, haben wir hier also Attribute, die Komplemente sind. Dass
auch Attribute und nicht nur Subjekte, Objekte und Prädikative Komplemente sein
können, ermöglicht eine sehr schöne Generalisierung für eingebettete Sätze:
(133) Komplementsätze:
Eingebettete V2-Sätze, dass-Sätze, ob-Sätze, w-Sätze und infinite Sätze sind immer
Komplemente.
Die Frage, ob auch Adverbiale Komplemente sein können, ist schwieriger zu beant-
worten, wie man gut bei Eisenberg (2013, 299 ff.) nachlesen kann. Es gibt eine ganze
Reihe von Fällen, die man so deuten kann, dass eine PP, die das Komplement eines
Verbs ist, nicht als Präpositionsobjekt, sondern als Adverbial fungiert:
(134) a. Arno reißt den Stecker aus der Steckdose.
b. Stell doch mal bitte die Milch auf den Tisch!
Die PPs bei Verben wie reißen und stellen, die einen Ortswechsel bezeichnen, haben
einerseits Eigenschaften, wie wir sie bei Präpositionalobjekten finden, andererseits
aber auch Eigenschaften, die für Adverbiale charakteristisch sind. So werden die
beiden PPs aus der Steckdose und auf den Tisch von reißen und stellen obligatorisch
verlangt (*Arno reißt den Stecker, *Stell doch mal bitte die Milch!) und besetzen wie
Präpositionalobjekte eine Argumentstelle. Doch anders als bei Präpositionalobjekten
sind die Präpositionen der PPs, aus und auf, durch andere Präpositionen ersetzbar (von
der Wand reißen, in den Schrank stellen) und beide Präpositionen haben auch eine
klare lokale Bedeutung. Diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Eigenschaften
sind miteinander vereinbar, wenn wir annehmen, dass nicht nur Subjekte, Objekte,
Prädikative und Attribute Komplemente sein können, sondern auch Adverbiale. Dann
handelt es sich bei den beiden PPs aus der Steckdose und auf den Tisch in (134) um
Adverbiale, die untypischerweise Komplemente sind und nicht Adjunkte. Dass diese
Annahme nicht unplausibel ist, zeigen Verben wie wohnen und verbringen, die sich
ebenfalls mit Komplementen verbinden, die als Adverbiale fungieren und nicht als
Objekte; man vergleiche (127b).
Literatur
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Jochen Geilfuß-Wolfgang
163
5.1
5 | Semantik
5.1 | Einleitung
In den vorangegangenen drei Kapiteln haben wir die Form sprachlicher Zeichen
beschrieben. In diesem Kapitel wenden wir uns ihrem Inhalt zu. Die Semantik ist
das Teilgebiet der Linguistik, das sich mit der Bedeutung von sprachlichen Aus-
drücken beschäftigt. Die Semantik ist allerdings nicht das einzige Teilgebiet, das
sich mit der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke befasst. Neben der Semantik spielt
die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke auch in der Pragmatik eine zentrale Rolle.
Die Arbeitsteilung zwischen Semantik und Pragmatik wird in Kapitel 5.2.5 genauer
besprochen (s. auch Kap. 6).
Im Gegensatz zur Phonologie, Morphologie und Syntax ist der Gegenstands-
bereich der Semantik etwas schwerer zu fassen. Laute können wir akustisch und ar-
tikulatorisch bestimmen und Wörter und Sätze zumindest aufnehmen oder schriftlich
festhalten und in Korpora sammeln. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke lässt
sich dagegen nicht ohne weiteres messen oder aufschreiben. Deshalb bleibt nur ein
indirekter Zugang zur Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken.
Eine wichtige Quelle, die Aufschluss über die Bedeutung von sprachlichen
Ausdrücken gibt, sind psycholinguistische Experimente, Versprecher und Aphasien.
Eine zweite mindestens ebenso wichtige Quelle sind die Intuitionen von Mutter-
sprachlern, die sprachliche Ausdrücke normalerweise problemlos verstehen und
korrekt gebrauchen. Muttersprachler kennen nicht nur die Bedeutungen einfacher
und komplexer sprachlicher Ausdrücke, sondern auch die Beziehungen, die zwischen
den Bedeutungen einzelner Ausdrücke bestehen. Außerdem haben sie meist keinerlei
Probleme, neue Sätze, die sie noch nie vorher gehört haben, zu verstehen. Da wir
aufgrund unserer morphologischen und syntaktischen Kompetenz in der Lage sind,
neue Wörter und Sätze zu produzieren, müssen wir auch über eine entsprechende
semantische Kompetenz verfügen, die (neuen) Bedeutungen dieser Wörter und Sätze
zu berechnen und zu bewerten.
164
5.2
Was ist Bedeutung?
Im Gegensatz zu den Ektern verfügen wir glücklicherweise nicht nur über zwei Wör-
ter. Noch viel wichtiger ist aber die Tatsache, dass wir diese Wörter produktiv zu
immer neuen Sätzen mit neuen Bedeutungen verbinden können. Fast niemand dürfte
den folgenden Satz in (1) kennen und trotzdem wird wohl kaum jemand Probleme
haben, ihn zu verstehen.
(1) In Berlin hat gestern wieder ein rosa Elefant harmlose Passanten vorsätzlich beleidigt.
Wie bei vielen anderen neuen Sätzen auch, wissen wir auf Anhieb, was mit diesem Satz
gemeint ist. Für das Verstehen dieses Satzes spielt es keine Rolle, ob der damit beschrie-
bene Sachverhalt den Tatsachen entspricht oder nicht. Da rosa Elefanten nicht unbedingt
zu den Dingen gehören, die wir in Berlin oder anderswo auf der Straße erwarten, und
da wir zudem davon ausgehen können, dass Elefanten nicht zu den Lebewesen gehören,
die andere Lebewesen vorsätzlich beleidigen, ist es sogar sehr unwahrscheinlich, dass
Satz (1) einen mit unseren Erfahrungen übereinstimmenden Sachverhalt ausdrückt.
Um einen (neuen) Satz oder neu gebildete Wörter zu verstehen, genügt es nicht,
die wörtlichen Bedeutungen seiner Einzelteile aufzulisten. Wichtig für die Interpreta-
tion ist auch die Art der Verknüpfung der einzelnen Wörter. Dies kann man sich an
folgendem einfachen Beispiel verdeutlichen: Obwohl die beiden Sätze Sabine wurde
von Stefan gesehen und Stefan wurde von Sabine gesehen genau dieselben Wörter
enthalten, bedeuten sie nicht dasselbe. Beide Sätze beschreiben zwei völlig verschiedene
Situationen. Die Interpretation von komplexen Wörtern und Sätzen muss demnach
nicht nur die Bedeutung der einzelnen Wörter (und Wortteile) berücksichtigen, sondern
auch die strukturellen (morphosyntaktischen) Relationen, die zwischen den einzelnen
Wörtern (und Wortteilen) bestehen (vgl. Frege 1923).
Die oben verwendete Methode des Umschreibens, auch Paraphrasieren genannt,
ist ein praktisches Hilfsmittel, um sich und anderen die Bedeutung von Wörtern und
Sätzen mithilfe von anderen Wörtern und Sätzen zu verdeutlichen. Wer zum Beispiel
nicht weiß, was ein Fopper und was besummen ist, der kann sich dies von Ford
Prefect wie folgt erklären lassen.
»Ganz einfach, ein Fopper hat mich mitgenommen?« »Ein Fopper?« […] »Foppers sind
Kinder reicher Leute, die nichts zu tun haben. Sie zischen in der Gegend rum und suchen
nach Planeten, die noch keine interstellaren Verbindungen haben und besummen sie.«
»Besummen sie?« […] »Sie suchen sich eine abgelegene Gegend […], dann landen sie
direkt vor den Augen eines nichtsahnenden Trottels, dem niemand jemals glauben wird,
stolzieren mit albernen Antennen auf dem Kopf vor ihm auf und ab und machen piep
piep.« (Aus: Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis)
165
5.2
Semantik
auftragen«. Unter streichen ist nun folgende Umschreibung zu finden: »Mithilfe eines
Pinsels o.Ä. mit einem Anstrich versehen; anstreichen«. Diese Paraphrase verweist uns
wiederum auf das Verb anstreichen, dessen Umschreibung uns allerdings auch nicht
viel weiterhilft: »Farbe auf etw. streichen«. Zum anderen liefern Paraphrasen eine
nur unzureichende Umschreibung der Bedeutung oder gewisser Bedeutungsaspekte
eines sprachlichen Ausdrucks. Um die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke genau zu
bestimmen, bedarf es der Formulierung präziser wissenschaftlicher Theorien mithilfe
formaler Modelle, die im Idealfall auch experimentell überprüfbar sind.
166
5.2
Was ist Bedeutung?
167
5.2
Semantik
Der letzte Punkt betrifft das schwierige Feld der semantischen Abweichung
oder Anomalie.
(8) a. Der kleine Toaster besuchte seine elektrischen Freunde im Badezimmer.
b. Die Demokratie trinkt torlos italienische Pizzas.
c. Die Zeitung liegt auf dem Tisch und hat angerufen.
d. Peter ist der Vater seiner eigenen Mutter.
Satz (8a) ist wie Satz (1) etwas seltsam, weil er mit unserem Wissen über die Welt,
in der wir leben, nicht übereinstimmt. Wir können allerdings die Bedeutung von
beiden Sätzen problemlos verstehen, und beide Sätze können durchaus sinnvoll sein,
wenn sie in einem geeigneten Kontext (zum Beispiel in einem Märchen oder einem
Zeichentrickfilm) geäußert werden. Man kann sich durchaus eine Welt vorstellen, in
der diese Sätze sinnvoll sind. In (8b) ist dies nicht mehr so einfach möglich, weshalb
der Grad der semantischen Abweichung in (8b) größer zu sein scheint als in (8a). Das
Verb trinken ist nicht kompatibel mit den anderen Konstituenten des Satzes (Subjekt,
Objekt und Adverb), so dass nur noch eine metaphorische Interpretation möglich
scheint. In (8c) liegt ein sog. Zeugma-Effekt vor. Die beiden Sätze die Zeitung liegt
auf dem Tisch und die Zeitung hat angerufen sind für sich genommen in Ordnung.
In jedem Satz bezeichnet die Nominalphrase die Zeitung ein anderes Objekt (ein
Stück bedrucktes Papier oder eine Person aus der Redaktion). Die Nominalphrase
die Zeitung kann allerdings nicht gleichzeitig zwei verschiedene Dinge bezeichnen,
wie in (8c) zu sehen ist. In Satz (8d) liegt nicht nur eine semantische Abweichung vor,
dieser Satz ist notwendigerweise falsch. Die Bedeutung von Vater und Mutter ist so
beschaffen, dass Satz (8d) unweigerlich zu einem Widerspruch führt.
Semantisch anomale Sätze sollten von syntaktisch ungrammatischen Sätzen wie
das Mädchen spielen Fußball gut unterschieden werden, auch wenn die Grenzen nicht
immer eindeutig und theorieabhängig sind. Ein ungrammatischer Satz kann durch Um-
stellen der Wörter und Veränderung der Flexionselemente zu einem grammatikalisch
korrekten Satz verbessert werden (das Mädchen spielt gut Fußball). Dabei hat sich
die Bedeutung des Satzes nicht verändert. Semantische Anomalien können dagegen
nur durch das Austauschen von einem oder mehreren Wörtern (oder Morphemen)
beseitigt werden. Die syntaktische Struktur des Satzes ist hiervon nicht betroffen, die
Bedeutung wird dadurch jedoch verändert.
Aufgabe 1:
a. Geben Sie eine möglichst präzise Paraphrase der Bedeutung von Satz (1).
b. Welche Relationen bestehen zwischen den folgenden Sätzen?
(i) Den Ball kaufte der Trainer vom Präsidenten. Den Ball verkaufte der Präsident
dem Trainer.
(ii) Wilhelm Tell tötete Geßler. Geßler lebt.
(iii) Wilhelm Tell tötete Geßler. Geßler ist gestorben.
c. Beschreiben Sie die Ambiguität in den folgenden Sätzen.
(i) Maria sammelt alte Bücher und Zeitschriften.
(ii) Dort drüben ist eine Bank.
(iii) Der Industrielle bestach den Politiker mit der Villa am Stadtrand.
168
5.2
Was ist Bedeutung?
Sätze stehen im Mittelpunkt vieler Semantiktheorien, weil sie die kleinsten unabhängi-
gen Informationseinheiten bilden, mit denen wir kommunizieren und sprachlich han-
deln. In der Satzsemantik geht es im Wesentlichen um die Frage, wie die Bedeutung der
Einzelteile in die Bedeutung des komplexen Ausdrucks eingeht. Eine weitere wichtige
Frage ist, was die Bedeutung verschiedener Satztypen wie Aussagesatz oder Fragesatz
ist. Mit Ausnahme einiger Fälle wie der schon erwähnten idiomatischen Ausdrücke in
(7a,b) kann die Bedeutung komplexer Ausdrücke systematisch aus den Bedeutungen
der einzelnen Teile und der Art der Zusammenfügung berechnet werden. Die Inter-
pretation von Sätzen orientiert sich demnach an der syntaktischen Struktur dieser
Sätze. In der Semantik nennt man dies das Kompositionalitätsprinzip (s. Kap. 5.4.2).
Darüber hinaus befasst sich die Semantik auch mit der Bedeutung von noch
größeren sprachlichen Einheiten wie Diskursen und Texten. Eines der zentralen
Themen der Textsemantik oder Diskurssemantik ist die semantische Kohärenz von
Texten oder Diskursen (vgl. Averintseva-Klisch 2013).
(11) a. Eine Frau kam in das Zimmer. Die Frau erzählte viele lustige Geschichten.
b. Die Frau kam in das Zimmer. Eine Frau erzählte viele lustige Geschichten.
c. Der Mörder wurde gefasst. Das Messer/Klopapier fand die Polizei im Schrank.
Die Beispiele in (11a) und (11b) zeigen, dass es gewisse Regeln für die Verwendung
von definiten und indefiniten NPn gibt. Nur in (11a), nicht aber in (11b), können
sich die beiden Ausdrücke eine Frau und die Frau auf dieselbe Person beziehen. Eine
definite NP kann sich also auf eine vorher erwähnte indefinite NP beziehen, aber nicht
169
5.2
Semantik
umgekehrt. Mit definiten NPn wird normalerweise auf etwas Bezug genommen, das im
Gespräch oder Text schon erwähnt wurde, das zum gemeinsamen Hintergrundwissen
gehört oder das sich im Kontext eindeutig identifizieren lässt (s. auch Kap. 5.3.1). Um
den korrekten Bezug herzustellen, ist manchmal eine gewisse ›Anreicherung‹ nötig.
(11c) zeigt, dass wir die definite NP das Messer als das Messer, mit dem der Mörder
sein Opfer tötete, in den Textzusammenhang integrieren können. Die Integration von
das Klopapier bereitet uns im Gegensatz dazu größere Probleme, da Klopapier kein
typisches Mordinstrument ist. Dies zeigt, dass solche Schlussfolgerungen sehr stark
von unserem Wissen über die Welt abhängen. Die ›Anreicherung‹ geschieht mithilfe
von sog. Skripts und Frames (s. Kap. 5.3.2). Mit diesem Beispiel bewegen wir uns
schon im Grenzgebiet zur Pragmatik (s. Kap. 5.2.5, 6.3.4 und 6.7).
Auch auf der Ebene von Texten kann es zu Ambiguitäten kommen. (12a) ist ein
Beispiel für einen mehrdeutigen Text(ausschnitt). Ohne zusätzliches Hintergrundwis-
sen können wir nicht entscheiden, ob sich das Pronomen sie auf Maria oder auf Susi
bezieht. Im Gegensatz dazu ist (12b) nicht ambig, da der kleine Textabschnitt alle
nötigen Informationen bereithält, die einen eindeutigen Bezug auf Maria ermöglichen.
(12) a. Maria hat gestern mit Susi geredet. Jetzt ist auch sie überzeugt, dass es wahr ist.
b. Maria hat gestern Susi bestohlen. Jetzt wird sie von der Polizei gesucht.
Das Schema in (13) gibt einen Überblick über das Zusammenspiel der Semantik mit
den in Kapitel 2 bis 4 vorgestellten Teilgebieten der Linguistik, wobei man einschrän-
kend hinzufügen muss, dass sich die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen der
Semantik nicht immer eindeutig bestimmen lassen.
(13) Satz (Syntax) q Satzbedeutung (Satzsemantik, 5.4)
Wort und Wortbedeutung und
(Morphologie) q (Lexikalische Semantik, 5.3)
Morphem Morphembedeutung
Phonem (Phonologie) q keine Bedeutung, bedeutungsunterscheidend
Die Semantik steht damit in einem direkten Zusammenhang mit der Morphologie
und der Syntax. Phoneme tragen zwar keine Bedeutung, trotzdem gibt es auch eine
Verbindung zwischen der Phonologie und der Semantik. Die Akzentzuweisung in
einem Satz hat durchaus semantische Konsequenzen, wie der Unterschied zwischen
(14a) und (14b) zeigt (vgl. Musan 2010). Dasselbe gilt für die Zuweisung des Wort-
akzents, wie der Unterschied zwischen ÜBERziehen und überZIEHen zeigt (s. auch
Kap. 3.3.1 und 3.4.3.2).
(14) a. Ursula hat nur ein GRÜNES Hemd.
b. Ursula hat nur ein grünes HEMD.
Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen lexikalischer (begrifflicher
oder autosemantischer) Bedeutung und grammatischer (synkategorematischer oder
synsemantischer) Bedeutung. Sog. Inhaltswörter (Autosemantika) wie Substantive,
Adjektive oder Verben haben eine eigenständige lexikalische Bedeutung, die wir in-
tuitiv normalerweise gut erfassen können. Im Gegensatz dazu ist es sehr schwer, die
grammatische Bedeutung von sog. Funktionswörtern (Synsemantika) wie Artikeln,
Konjunktionen oder Modalverben anzugeben (s. auch Kap. 4.4.1). Zu den Ausdrü-
cken mit grammatischer Bedeutung gehören auch die Derivations- und Flexionsaffixe.
Die Bedeutung von Tisch oder grün ist noch einfach anzugeben. Was aber der, kein,
wollen, oder, nicht, be- oder das Pluralsuffix -s bedeuten, lässt sich nicht so einfach
170
5.2
Was ist Bedeutung?
sagen. Dies bedeutet aber nicht, dass Funktionswörter keine (wörtliche) Bedeutung
haben. Im Gegensatz zu den Inhaltswörtern haben Funktionswörter jedoch eine
Bedeutung, die erst im syntaktischen Kontext Sinn ergibt. In diese Richtung zielt
auch Freges (1884) Feststellung: »Es ist also die Unvorstellbarkeit des Inhaltes eines
Wortes kein Grund, ihm jede Bedeutung abzusprechen […] Man muss aber immer
einen vollständigen Satz ins Auge fassen. Nur in ihm haben die Wörter eigentlich
eine Bedeutung.« Die Analyse von Funktionswörtern ist ein zentrales Thema in der
Satzsemantik.
Die Bedeutung von Inhaltswörtern ist demgegenüber ein wesentlicher Teil der
lexikalischen Semantik. Im Gegensatz zu Inhaltswörtern bilden die Funktionswörter
eine relativ kleine, geschlossene Klasse. Geschlossen bedeutet, dass keine oder nur
sehr wenige neue Ausdrücke hinzukommen können. Inhaltswörter bilden dagegen
große, offene Klassen. Die Abgrenzung zwischen Funktions- und Inhaltswörtern und
geschlossenen und offenen Klassen ist allerdings nicht immer ganz klar. Präpositionen
sind beispielsweise ein Grenzfall (siehe auch die Diskussion der Affixoide in Kap. 2.6.1).
Auch wenn die Grenzen zwischen Funktions- und Inhaltswörtern nicht immer eindeutig
zu bestimmen sind und dies aufgrund von Grammatikalisierungsprozessen auch nicht
sein können, gibt es doch genügend grammatische Unterschiede zwischen den jeweils
eindeutigen Fällen, die diese Unterscheidung rechtfertigen. In dieses Bild passt auch,
dass bei bestimmten Aphasien (Broca-Aphasie) unter anderem die Funktionsausdrücke
verlorengehen, wohingegen die Inhaltswörter weitgehend intakt bleiben.
Zwei weitere zentrale Aspekte sind Bedeutungserwerb und Bedeutungswan-
del. Zum einen kann sich die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken im Laufe der
Zeit ändern. In der Semantik gibt es genauso wie in den anderen Teildisziplinen eine
diachrone und eine synchrone Betrachtungsweise. Zum anderen müssen die Bedeu-
tungen von einfachen sprachlichen Ausdrücken und die Mechanismen, wie sich die
Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ermitteln lässt, auch gelernt werden. Wandel
und Erwerb von Bedeutungen werden in den Kapiteln 7 und 8 näher besprochen (zum
Bedeutungswandel vgl. auch Fritz 1998 und Eckardt 2011).
Aufgabe 2:
a. Warum ist das Pronomen sie nur im Nebensatz des ersten Satzes ambig?
(i) Die Kinder haben die Schiffe gesehen, als sie durch den Hafen fuhren.
(ii) Maria hat die Schiffe gesehen, als sie durch den Hafen fuhr.
b. Beschreiben Sie mithilfe der in Kapitel 2.5.4 vorgestellten Grundrelationen die
Bedeutung folgender Ausdrücke: Hausschuh, Fußballschuh, Lederschuh, Roll-
schuh, Kinderschuh
5.2.4 | Bedeutungstheorien
Die drei wichtigsten Antworten, die auf die komplizierte Frage, was die Bedeutung
sprachlicher Ausdrücke ist, gegeben wurden, lassen sich stark vereinfacht wie folgt
zusammenfassen. Die erste, realistische Antwort besagt, dass die Bedeutung sprachli-
cher Zeichen in ihrer Beziehung zu Dingen in der Welt liegt (vgl. Wittgenstein 1922,
Carnap 1947 und Montague 1974). Die zweite, kognitivistische Antwort geht davon
aus, dass die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens in seiner Zuordnung zu men-
171
5.2
Semantik
/kats´/
(Zeichen) (Referent)
172
5.2
Was ist Bedeutung?
über Sachverhalte in der Welt informieren können. In jeder Sprache gibt es Ausdrücke,
die es uns ermöglichen, direkt auf Gegenstände oder Ereignisse in der Welt hinzuwei-
sen. Im Deutschen haben wir deiktische Ausdrücke wie das, dort oder jetzt und sog.
definite Deskriptionen wie die Frau mit den grünen Haaren, das Fußballspiel heute
Nachmittag und die Katze rechts unten in (15), mit denen wir Dinge in konkreten Si-
tuationen identifizieren können. Es muss allerdings vor einer allzu naiven realistischen
Sichtweise gewarnt werden, denn wir haben schon in Beispiel (1) gesehen, dass wir
nicht nur über Sachverhalte reden können, die unserer persönlichen Alltagserfahrung
entsprechen. Es bereitet uns keine Probleme, uns eine Welt vorzustellen, in der rosa
Elefanten Passanten vorsätzlich beleidigen und wir können auch über Ereignisse
reden, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, die in der Zukunft stattfinden
werden oder über fiktive Ereignisse und Dinge, die es möglicherweise nie geben wird.
Darüber hinaus können wir auch über weniger konkrete Dinge wie psychische
Zustände, Hoffnungen, Träume oder Wünsche reden. Die schwierige Frage nach
dem ontologischen Status dieser verschiedenartigen Dinge können und müssen wir
hier nicht beantworten. Was wir allerdings im Rahmen einer realistischen Bedeu-
tungstheorie voraussetzen müssen, ist eine systematische Übereinstimmung zwischen
Sprache und der Außenwelt, die allen Sprechern gleichermaßen zugänglich ist (wobei
die Wahrnehmung der Außenwelt durchaus durch das Funktionieren unseres Wahr-
nehmungsapparats beeinflusst sein kann), so dass sich jederzeit ein Zusammenhang
zwischen einer sprachlichen Äußerung und dem damit mitgeteilten (darin enthaltenen)
Sachverhalt herstellen lässt. Betrachten wir hierzu ein einfaches Beispiel.
(16) Die Blume steht auf dem Tisch.
Es dürfte keine Schwierigkeiten bereiten, mit Satz (16) eine Situation wie die in (17a)
dargestellte in Verbindung zu bringen, wobei wir den in Satz (16) beschriebenen Sach-
verhalt natürlich auch in einer anderen Form präsentieren könnten (zum Beispiel als
Photografie oder als Farbgemälde). Wir könnten die Situation auch von der anderen
Seite zeigen, einen anderen Tisch, eine andere Vase oder eine andere Blume nehmen
und einen oder mehrere Hocker hinzufügen, wie in (17b). In beiden Fällen beschreibt
Satz (16) die Situation korrekt.
(17) a. b.
Dies zeigt, dass wir über eine ziemlich produktive und komplexe Fähigkeit verfügen,
Zusammenhänge zwischen Sätzen und den damit beschriebenen Sachverhalten oder
Situationen herzustellen, die nicht darauf reduziert werden kann, dass wir uns jeweils
nur daran erinnern, welcher Satz welchen Sachverhalt beschreibt. Diese Fähigkeit
steht im Zentrum der realistischen Sichtweise auf die Bedeutung.
Nach der kognitivistischen Sichtweise führt eine erfolgreiche Kommunikation
dazu, dass der Hörer auf der Grundlage des Gesagten ungefähr dieselben mentalen
Repräsentationen erzeugen kann, wie die Sprecherin. Es werden also unter anderem
173
5.2
Semantik
die mentalen Zustände von Sprecherin und Hörer aneinander angeglichen. Die kogni-
tivistische Sichtweise setzt demnach voraus, dass beide über ein mehr oder weniger
ähnliches konzeptuelles Wissen verfügen, das sich mit sprachlichen Ausdrücken sys-
tematisch aktivieren lässt. Sprachliche Ausdrücke sind mit Konzepten verknüpft, die
im Langzeitgedächtnis abgespeichert sind und Informationen über die Welt enthalten.
Wenn wir einen bestimmten Ausdruck äußern, dann aktivieren wir automatisch die
damit verbundenen Konzepte. Wenn wir Satz (16) verstehen, dann haben wir eine ent-
sprechende mentale Repräsentation erzeugt. Welche Form mentale Repräsentationen
haben und wie Konzepte repräsentiert werden, ist allerdings alles andere als einfach zu
beantworten (vgl. Fodor 1994, Murphy 2002). Wir verfügen über allgemeines katego-
riales Wissen, das im Großen und Ganzen innerhalb einer Sprachgemeinschaft geteilt
wird, und über individuell-episodisches Wissen. Für die Bedeutung eines sprachlichen
Ausdrucks ist das kategoriale Wissen relevant, das allen Menschen gleichermaßen
zugänglich ist, wobei allerdings nicht genau klar ist, welche Aspekte unseres teilweise
sehr umfangreichen kategorialen Wissens die Bedeutung eines Ausdrucks ausmachen.
Nehmen wir zum Beispiel den Ausdruck Auto. Wenn wir anfangen würden,
all unser Wissen über Autos, ihr Aussehen, ihre Funktion, ihren Gebrauch und ihren
sozialen Status und über typische Autofahrsituationen aufzuschreiben, dann wären
wir mit Sicherheit einige Zeit beschäftigt. Es ist nicht sehr plausibel, dass wir jedes
Mal unser gesamtes Autowissen aktivieren, wenn wir das Wort Auto benutzen. Se-
mantische Theorien gehen deshalb davon aus, dass nur bestimmte sehr allgemeine
und kontextunabhängige Konzepte Teil der Bedeutung eines Ausdrucks sind. Dies
bedeutet, dass ein sprachlicher Ausdruck oft nur mit einem Teil des entsprechenden
Konzepts verknüpft ist, so dass seine Bedeutung auch nur ein Teil des Konzepts direkt
abdeckt. Dieser Teil eines Konzepts wird die wörtliche oder lexikalische Bedeutung
oder auch die Kernbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks genannt. Andere Teile
eines Konzepts werden je nach Kontext und Situation zusätzlich aktiviert. Diese Teile
eines Konzepts, die wir weiter oben etwas pauschal unter dem Begriff Weltwissen
zusammengefasst haben, werden enzyklopädisches Wissen genannt. Das Verhältnis
zwischen wörtlicher Bedeutung und enzyklopädischem Wissen ist in (18) illustriert:
(18)
lexikalische Bedeutung
enzyklopädisches Wissen
Für die Aktivierung zusätzlichen enzyklopädischen Wissens stehen uns äußerst effektive
Mechanismen der Bedeutungsanreicherung zur Verfügung (s. auch Kap. 5.2.5). Ein
erstes Beispiel haben wir in (11c) kennengelernt, wo es uns keinerlei Probleme bereitete,
das Messer als Mordinstrument situativ zu verankern. Wir haben schon erwähnt, dass
zwischen wörtlicher Bedeutung und enzyklopädischem Wissen keine klare Trennlinie
gezogen werden kann. Zudem ist die Interaktion dieser beiden Wissensbereiche alles
andere als einfach (vgl. Lakoff 1987 und Taylor 1989).
Es ist nicht sehr plausibel anzunehmen, dass alle Aspekte der Bedeutung von
sprachlichen Ausdrücken individuell realisiert sind. Die Bedeutung als Ganzes, zu der
sehr oft auch spezifisches Expertenwissen gehört, kann nicht individuell erfasst werden,
sondern wird von der ganzen Sprachgemeinschaft bestimmt. So muss man zum Beispiel
nicht wissen, dass Wasser H2O ist, um die Bedeutung des Ausdrucks Wasser zu kennen.
174
5.2
Was ist Bedeutung?
Die Gebärdensprachen von gehörlosen Menschen deuten darauf hin, dass Konven-
tionalität die grundlegendere Eigenschaft ist. Ungefähr die Hälfte aller sprachlichen
Zeichen einer Gebärdensprache, zu denen Gebärden, Mundbild und Mimik gehören,
hat ikonische oder semi-ikonische Eigenschaften. Demnach ist das Verhältnis zwischen
einer Gebärde und ihrem Inhalt nicht immer völlig arbiträr. Trotzdem kann man diese
Gebärden nicht einfach durch ähnliche Gebärden ersetzen, da die Bedeutung von
Gebärden auch in Gebärdensprachen konventionell festgelegt ist. Zudem verlieren
viele Gebärden im Laufe der Zeit ihren ikonischen Charakter (vgl. Steinbach 2007).
175
5.2
Semantik
176
5.2
Was ist Bedeutung?
von Fußballschuh (in der salienten Lesart) nicht das Material, aus dem der Schuh
gemacht ist. Dies ergibt sich nicht allein aus der Bedeutung der Teile Fußball und
Schuh, sondern auch aus unserem enzyklopädischen Wissen (s. auch Kap. 2.5.4).
(21) Peter hat neue Hausschuhe/Fußballschuhe/Lederschuhe/Damenschuhe.
Extreme Beispiele für die Sprecherbedeutung sind Ironien und Tautologien. Im Fall
der Ironie kann die Sprecherbedeutung sogar das Gegenteil der Äußerungsbedeutung
sein. Äußern wir Satz (23b), nachdem jemand alle Gläser runtergeworfen hat, wollen
wir ihn oder sie damit sicher nicht loben.
Das Schema in (24) gibt noch einmal einen vereinfachten Überblick über die
einzelnen Ebenen der Bedeutung und deren Zuordnung zu Semantik und Pragmatik.
Stark vereinfacht können wir als Faustregel festhalten, dass sich die Semantik mit der
Satzbedeutung und der Äußerungsbedeutung beschäftigt. Die Äußerungsbedeutung und
die intendierte Sprecherbedeutung sind Gegenstand der Pragmatik. Der propositionale
Gehalt einer Äußerung (die Äußerungsbedeutung) wird demnach von Semantik und
Pragmatik bestimmt. Die Trennung zwischen Semantik und Pragmatik ist also nicht
einfach (vgl. Carston 2004, Borg 2004, Recanati 2005 und Bach 2005). Eine möglichst
klare Trennung zwischen den beiden Disziplinen hat allerdings den Vorteil, dass sich
das umfangreiche Gebiet der sprachlichen Bedeutung in zwei Bereiche unterteilen lässt,
die man zunächst getrennt untersuchen kann (s. auch Kap. 6.3.4).
177
5.3
Semantik
(24)
Sprecherbedeutung
Ironie, Indirektheit,
Pragmatik Tropen etc.
Kontext
Äußerungsbedeutung Situation
Weltwissen
Referenzbestimmung, Disambi-
Semantik guierung, Deixis, Anreicherung etc.
Satzbedeutung
Die nächsten beiden Abschnitte geben einen Überblick über die zwei großen Teilge-
biete der Semantik. In Kapitel 5.3 werden zuerst einige wichtige Aspekte der lexikali-
schen Semantik diskutiert. Die Satzsemantik wird in Kapitel 5.4 in Grundzügen vorge-
stellt.
Aufgabe 3:
a. Erläutern Sie den Bedeutungsunterschied zwischen den Adjektiven grau und
groß anhand der folgenden Beispiele.
(i) Da drüben läuft etwas Graues. Es ist eine Maus/ein Elefant.
(ii) Da drüben läuft etwas Großes. Es ist eine Maus/ein Elefant.
b. Beschreiben Sie die wörtliche Bedeutung der folgenden beiden Sätze.
(i) Gestern traf ich hier Maria.
(ii) Keine Angst, du wirst nicht sterben.
Mit den beiden Ausdrücken die Bundeskanzlerin und die Parteivorsitzende der CDU
beziehen wir uns im Jahr 2006 auf dieselbe Person, nämlich auf Angela Merkel.
Die Parteivorsitzende der CDU war allerdings nicht immer auch Bundeskanzlerin.
Dass beide Ausdrücke momentan dieselbe Person bezeichnen, ist also keine seman-
tische Notwendigkeit. Zudem bezeichnen wir dieselbe Person Angela Merkel auf
zwei völlig verschiedene Arten. Die Bundeskanzlerin und die Parteivorsitzende der
178
5.3
Lexikalische Semantik
CDU beziehen sich auf zwei völlig verschiedene politische Funktionen. Obwohl die
beiden Ausdrücke im Frühjahr 2006 zufällig dieselbe Person bezeichnen, haben sie
nicht denselben Sinn.
Deshalb lassen sich zwei Ausdrücke, die sich auf dieselbe Person beziehen, nicht
in jedem Kontext füreinander ersetzen. Dies kann man sich gut anhand des folgen-
den Beispiels verdeutlichen. Während Satz (25) für Leute, die nicht wissen, dass die
Bundeskanzlerin und die Parteivorsitzende der CDU momentan dieselbe Person sind,
durchaus eine sinnvolle Aussage sein kann, ist Satz (26) selbst für diese Menschen
bedeutungslos. Solche Sätze werden Tautologien genannt und haben höchstens einen
pragmatischen Informationswert (s. Kap. 6.3).
(26) Die Bundeskanzlerin ist die Bundeskanzlerin.
Ein weiterer Punkt ist, dass es sprachliche Ausdrücke wie Einhorn gibt, die sich auf
kein Ding in unserer Welt beziehen. Würden wir nun die Bedeutung eines Ausdrucks
über die Dinge in der Welt, die er bezeichnet, definieren, dann hätte der Ausdruck
Einhorn in unserer Welt keinen Sinn. Dies läuft aber unseren Intuitionen zuwider, da
wir die Bedeutung von Einhorn und ähnlichen Ausdrücken durchaus umschreiben
können. Ein Einhorn ist zum Beispiel ein elegantes weißes pferdeähnliches Phanta-
siewesen mit einem spitzen Horn auf der Stirn.
Wir tun also gut daran, den Inhalt eines sprachlichen Zeichens von den Dingen
in der Welt, die es bezeichnet, zu trennen. Die Relation zwischen einem sprachlichen
Ausdruck und der Welt wird Denotation genannt. Die Menge der Dinge, auf die
man mit einem sprachlichen Ausdruck Bezug nehmen kann, wird Extension (oder
Denotat) genannt und der begriffliche Inhalt Intension (vgl. Carnap 1947). Die In-
tension eines Ausdrucks ist die deskriptive Bedeutung, die nicht direkt an die Dinge
in der Welt gebunden ist. Die Extension eines Ausdrucks sind die außersprachlichen
Dinge in der Welt, die mit diesem Ausdruck bezeichnet werden können. (27) ist das
klassische Beispiel von Frege für zwei Ausdrücke mit der gleichen Extension, aber
unterschiedlichen Intensionen (vgl. Frege 1892). Frege selbst verwendete den Begriff
Bedeutung für Extension und Sinn für Intension.
(27) Der Morgenstern ist der Abendstern.
Die Wörter Morgenstern und Abendstern beziehen sich beide auf denselben Pla-
neten, die Venus. Sie tun dies allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Morgen-
stern bezieht sich auf die Venus am Morgenhimmel, Abendstern hingegen auf die
Venus am Abendhimmel. Dass beide Ausdrücke denselben Planeten bezeichnen,
war lange unbekannt und folgt nicht aus ihrer Intension, sondern aus dem Aufbau
unseres Sonnensystems. Zwei sprachliche Ausdrücke mit gleicher Extension, aber
mit verschiedener Intension sind also nicht bedeutungsgleich, weil sie nur bezüglich
eines Aspekts der Bedeutung übereinstimmen, und können nicht in jedem Kontext
füreinander ersetzt werden.
Die Intension eines Ausdrucks charakterisiert die Dinge, die zu seiner Exten-
sion gehören. Zur Extension von Hund gehören alle Lebewesen, die zur Spezies der
Hunde gehören. Was man sich unter der Intension eines Ausdrucks genau vorzustellen
hat, ist nicht einfach zu beantworten (s. 5.3.3 und 5.3.4). Nehmen wir, wie am Ende
von Abschnitt 5.2.4 erwähnt, an, dass nicht die gesamte Bedeutung eines Ausdrucks
individuell erfasst werden kann, dann müssen wir davon ausgehen, dass es neben
179
5.3
Semantik
In einem Gespräch beziehen wir uns mit Ausdrücken wie alle, einige oder die meisten
selten auf die Gesamtheit aller Dinge in unserer aktuellen oder in allen möglichen
Welten. Die Extension eines sprachlichen Ausdrucks kann auf kleinere kontextuell
relevante Teilmengen beschränkt werden (sog. Diskursdomänen oder Diskurswel-
ten).
Der Unterschied zwischen der Intension und der Extension eines Ausdrucks zeigt
sich auch in opaken oder intensionalen Kontexten. Wenn die Ausdrücke Bundeskanz-
lerin und Parteivorsitzende der CDU momentan dieselbe Person bezeichnen (dieselbe
Extension haben) und Peter nur weiß, dass Angela Merkel die Bundeskanzlerin ist,
dann folgt daraus nicht notwendigerweise, dass Peter auch weiß, dass Angela Merkel
die Parteivorsitzende der CDU ist. Satz (30a) impliziert nicht Satz (30b) und wird
auch nicht von diesem impliziert.
(30) a. Peter weiß, dass Angela Merkel die Bundeskanzlerin ist.
b. Peter weiß, dass Angela Merkel die Parteivorsitzende der CDU ist.
180
5.3
Lexikalische Semantik
Wenn eine Sprecherin mit einem Ausdruck auf ein oder mehrere Individuen oder
Objekte aus der Extensionsmenge Bezug nimmt, referiert sie auf diese Individuen
oder diese Objekte. Die Referenz ist die Relation zwischen einem Ausdruck und In-
dividuen oder Objekten, die eine Sprecherin in einer bestimmten Situation etabliert.
Die Referenten sind die Individuen oder Objekte, die wir mit einem referierenden
Ausdruck in einer bestimmten Situation bezeichnen. Die typischen Ausdrücke, mit
denen wir auf Individuen und Objekte in der Welt referieren, sind Nominalphrasen.
Mit einer definiten Nominalphrase referieren wir auf ein bestimmtes Individuum oder
Objekt aus der Extension des Nomens. Das bedeutet, dass wir streng genommen die
lexikalische Semantik verlassen (s. auch Kap. 6.2).
(32) Der Hund (mit der schwarzen Schnauze) bellt.
Mit der definiten NP der Hund können wir auf einen bestimmten Hund, über den
entweder schon gesprochen wurde, oder der sich im Kontext anderweitig identifizie-
ren lässt (z. B. durch Zeigen) referieren und mit der NP der Hund mit der schwarzen
Schnauze kann man in einem Kontext, der mehrere Hunde enthält, einen bestimmten
Hund eindeutig identifizieren, wenn es in diesem Kontext nur einen Hund mit einer
schwarzen Schnauze gibt. Die Referenz ist Teil der Äußerungsbedeutung. Nominal-
phrasen haben einen bestimmten Referenzbereich. Worauf mit einer Nominalphrase
letztlich referiert wird, kann aber erst im Kontext bestimmt werden. Beispiel (33) und
die Beispiele in (11), die wir im Zusammenhang mit der Text- und Diskurssemantik
diskutiert haben, zeigen, dass es für (in-)definite NPn unterschiedliche Gebrauchs-
bedingungen gibt.
(33) Gestern stand ein Hund vor unserem Haus. Keiner weiß, woher der Hund kam.
Im Gegensatz zu definiten NPn sind indefinite NPn wie ein Hund nicht referentiell.
Indefinite NPn führen neue Referenten in einen Diskurs ein (sog. Diskursreferenten).
Auf diese Diskursreferenten können wir im Fortgang des Diskurses wieder mit de-
finiten NPn referieren. In manchen Kontexten sind indefinite NPn ambig zwischen
einer spezifischen und unspezifischen Lesart. Die spezifische Lesart von einem Italiener
in (34a) besagt, dass es einen bestimmten Italiener gibt (z. B. Luigi), mit dem Udo
zusammenziehen möchte. In der unspezifischen Lesart möchte Udo zwar mit einem
Italiener zusammenziehen. Er weiß aber (noch) nicht mit welchem Italiener.
(34) a. Udo möchte mit einem Italiener zusammenziehen.
b. Der Hund hat vier Beine und bellt.
c. Der Hund rennt um die Ecke.
Mit NPn können wir auch auf Arten referieren. In (34b) referieren wir mit dem
Ausdruck der Hund nicht auf einen bestimmten Hund, sondern auf die Spezies
Hund (sog. generic oder kind reference). Es ist eine charakteristische Eigenschaft
von Hunden, vier Beine zu haben und zu bellen (s. auch Kap. 5.3.4). Im Gegensatz
181
5.3
Semantik
dazu ist es keine charakteristische Eigenschaft von Hunden, um die Ecke zu rennen,
so dass wir in (34c) nicht auf die Art, sondern auf ein bestimmtes Exemplar dieser
Art referieren (Objektreferenz). Generische Referenz ist im Deutschen auch mithilfe
von indefiniten NPn wie ein Hund und artikellosen Plural-NPn wie Hunde möglich.
Es wurde schon erwähnt, dass man nicht nur über tatsächlich existierende
Individuen und Dinge reden kann. Dies bedeutet, dass wir auch auf Arten wie in
(34b), auf nicht mehr existente Individuen und Objekte wie in (35a), auf Eigenschaf-
ten von Individuen und Objekten wie in (35b) oder auf mentale Bilder wie in (35c)
referieren können.
(35) a. Unser erster Hund war extrem bissig.
b. Dieses Braun habe ich noch bei keinem Hund gesehen.
c. Peters Traumhund hat wuscheliges lila Fell mit weißen Punkten und heißt Milka.
Damit die Referenz gelingt, muss auch der Hörer in der Lage sein, das entsprechende
Objekt zu identifizieren. Dafür muss die Sprecherin einen geeigneten Ausdruck wählen,
der es dem Hörer ermöglicht, in einem bestimmten Kontext das entsprechende Objekt
eindeutig zu bestimmen. Der schon erwähnte Satz mit dem Mörder und Messer in
(11) ist ein Beispiel, in dem zusätzliches enzyklopädisches Wissen die Identifikation
eines Objekts (hier des Messers) ermöglicht. Eine besonders interessante Art, auf ein
Objekt zu referieren, sind Metonymien. Wir können auf die Bücher eines berühmten
Autors mit dessen Namen referieren oder in einem Krankenhaus auf einen Patienten
mit dessen Krankheit bzw. seinem kranken Organ (vgl. Nunberg 1995).
(36) a. Klaus Mann müssen wir erst wieder bestellen.
b. Der Blinddarm von Zimmer 20 hat schon wieder geklingelt.
In Bezug auf das semiotische Dreieck in (15) können wir zusammenfassend festhalten,
dass die Intension der Inhalt eines sprachlichen Zeichens ist. Die Extension enthält die
Dinge in der Welt, die wir mit diesem sprachlichen Zeichen bezeichnen können. Die
Referenz ist die Relation, die eine Sprecherin in einer bestimmten Situation zwischen
einem sprachlichen Ausdruck und einem oder mehreren Elementen aus der Extensi-
onsmenge etabliert. Referenz und Denotation sind zwei unterschiedliche Aspekte der
gestrichelten Linie in (15). Die Denotation ist Teil der wörtlichen Bedeutung eines
sprachlichen Ausdrucks, wohingegen die Referenz zur Äußerungsbedeutung gehört.
Aufgabe 4:
a. Erklären Sie mit Hilfe der Begriffe Intension und Extension, warum die folgenden
Sätze merkwürdig sind, wenn sie im Jahr 2001 geäußert wurden.
(i) Hans Eichel hat gestern den Finanzminister der BRD getroffen.
(ii) Der König von Frankreich trifft heute Bundeskanzler Schröder.
b. Erklären Sie mit Hilfe der Begriffe Intension und Extension den Unterschied
zwischen (i) und (ii): (i) Michael findet einen goldenen Ferrari Diesel.
(ii) Michael sucht einen goldenen Ferrari Diesel.
c. Ersetzen Sie die unterstrichenen NPn durch alternative sprachliche Ausdrücke,
die die Referenz nicht ändern.
(i) Maria wohnt in der größten Stadt Hessens. (ii) Heute ist der Tag der Arbeit.
(iii) Er ist der Torhüter der deutschen Nationalmannschaft.
182
5.3
Lexikalische Semantik
Echt synonyme Ausdrücke sind allerdings schwer zu finden. Beispiel (31) zeigt, dass
Ausdrücke mit ähnlicher Bedeutung sehr oft verschiedene Konnotationen haben. Zählt
man diese konnotativen Merkmale eines Ausdrucks auch zu seiner Bedeutung, dann
lassen sich die wenigsten Ausdrücke mit ähnlicher Bedeutung füreinander ersetzen, ohne
dass sich die Bedeutung des komplexen Ausdrucks, der sie enthält, ändert. Es kann
durchaus einen Unterschied machen, ob wir eine uniformierte Person einen Polizisten
oder einen Bullen nennen. Neben diesen konnotativen Bedeutungsunterschieden gibt
es oft auch regionale, soziale oder stilistische Unterschiede. Eine etwas schwächere
Definition von Synonymie, die diese zusätzlichen Bedeutungsaspekte nicht berück-
sichtigt, wird partielle Synonymie genannt. Dass es so schwer ist, echte Synonyme zu
183
5.3
Semantik
finden, ist kein Zufall. Echte Synonyme sind ein überflüssiger Luxus, die die in unserem
Lexikon gespeicherte Menge von Wörtern nur unnötig vergrößern. Sprachen haben
eine generelle Tendenz, Synonyme zu vermeiden. In Kapitel 2.4.3 haben wir schon das
Phänomen der lexikalischen Blockierung diskutiert. Die relevanten Beispiele sind in
(39) wiederholt. Die Anwendung einer Wortbildungsregel kann blockiert sein, wenn
sie ein Wort erzeugt, für das es schon ein synonymes Wort in unserem Lexikon gibt.
Stehler kann nicht gebildet werden, weil das Lexikon schon das Wort Dieb enthält
und Kocher kann nur eine Nomen-instrumenti-Lesart (etwas, mit dem gekocht wird)
erhalten, weil die Nomen-agentis-Lesart (jemand, der kocht) von Koch blockiert wird.
(39) a. *Stehler, Dieb b. Kocher, Koch
184
5.3
Lexikalische Semantik
zwei Antonyme aber einen bestimmten Bereich nicht vollständig auf. In dieser Hinsicht
gleichen sie heteronymen Ausdrücken. Die antonymen Ausdrücke heiß und kalt sind
die relativen Endpunkte auf einer Skala, die durch die Temperatur festgelegt wird.
Dazwischen kann es noch zahlreiche weitere Zustände geben, für die wir weitere
Ausdrücke haben. Im Fall von heiß und kalt gibt es noch Wörter wie kühl, lauwarm
oder warm. Weitere Beispiele sind groß und klein oder traurig und fröhlich. Zur
Bedeutung von antonymen Ausdrücken gehört immer eine Skala, die sie bezüglich
einer bestimmten Dimension ordnet.
(42) Zwei Ausdrücke A und B sind antonym, wenn
sie miteinander inkompatibel sind und die durch A B
A und B benannten Begriffe die Endpunkte einer
Skala bilden.
Eine interessante Beobachtung ist, dass es zwischen antonymen Wörtern eine gewis-
se Asymmetrie gibt. In bestimmten Kontexten wie in (43) kann nur eines von zwei
antonymen Wörtern verwendet werden. Das neutrale oder unmarkierte Wort reprä-
sentiert die Skala als Ganzes. Darüber hinaus gibt es Ausdrücke, die den Endpunkt
von verschiedenen Skalen bilden können. Alt ist zum Beispiel ein Antonym zu neu
und zu jung.
(43) a. Wie groß/alt/schwer bist du? vs. *Wie klein/jung/leicht bist du?
b. Die Größe vs. *Die Kleine/*Kleinheit
Bisher haben wir nur ›horizontale‹ semantische Relationen besprochen. Im Gegensatz
dazu führen die Relationen der Hyponymie und Hyperonymie eine ›vertikale‹ hier-
archische Ordnung zwischen den Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke ein. Blume
ist ein Hyperonym von Rose und Rose ein Hyponym von Blume, weil Blume ein
Oberbegriff zu Rose ist. Rose lässt sich immer durch Blume ersetzen, weil jede Rose
eine Blume ist. Blume lässt sich dagegen nicht durch Rose ersetzen, da nicht jede
Blume eine Rose ist.
(44) Ein Ausdruck A ist ein Hyperonym eines Ausdrucks B,
wenn alles, was unter den durch B benannten Begriff B C
fällt, auch unter den durch A benannten Begriff fällt, A
aber nicht umgekehrt.
Mithilfe der semantischen Relationen lassen sich ganze Wortfelder strukturieren, wobei
die Hyponym-Relation eine hierarchische Ordnung einführt (vgl. Lutzeier 1981/1993).
Unter das Hyperonym Pflanze fallen zahlreiche Hyponyme wie zum Beispiel Blume,
Baum oder Busch. Diese Hyponyme sind selbst wieder Hyperonyme von anderen
Ausdrücken. So sind zum Beispiel Rose, Nelke, Tulpe oder Iris Hyponyme des Hyper-
onyms Blume. Die Hyponyme eines Hyperonyms werden Kohyponyme genannt. Zwei
Kohyponyme sind inkompatibel. In unserer Grafik in (44) sind B und C Kohyponyme
des Hyperonyms A. Die Hyperonymie ist die lexikalische Entsprechung der Implika-
tion. Jeder Satz, der zum Beispiel das Hyponym Rose enthält, impliziert den Satz, in
dem dieses Hyponym durch das entsprechende Hyperonym Blume ersetzt wird. Ein
der Hyponymie ähnlicher Fall ist die Meronymie. Hier liegt eine Teil-von-Beziehung
vor. Mund und Nase sind Teile des Kopfes. Allerdings lässt sich ein meronymer
Ausdruck in einem Satz im Gegensatz zu einem hyponymen Ausdruck nicht ohne
weiteres durch das entsprechende Gegenstück ersetzen. Wenn jemand einen roten
185
5.3
Semantik
Mund hat, dann hat sie oder er noch lange keinen roten Kopf und umgekehrt. Wenn
aber jemand rote Rosen kauft, dann kauft sie oder er auch rote Blumen.
Manche Ausdrücke implizieren andere Ausdrücke, ohne dass zwischen ihnen
eine der oben genannten Relation besteht. Töten impliziert zum Beispiel sterben und
kaufen verkaufen. In (45) ist die Implikation mit dem Pfeil ›q‹ dargestellt. Im ersten
Paar ist das mit sterben beschriebene Ereignis ein Teil des mit töten beschriebenen
Ereignisses. Das zweite Paar beschreibt dieselbe Situation aus zwei verschiedenen
Perspektiven. Die entsprechende Relation wird Konversion genannt und oft als ein
besonderer Fall unter die Antonymie subsumiert.
(45) a. Wilhelm Tell hat Geßler getötet. q Geßler ist gestorben.
b. Jörg kauft einen neuen Polo Diesel beim VW-Händler. q Der VW-Händler verkauft
Jörg einen neuen Polo Diesel.
Semantische Relationen setzen lexikalische Ausdrücke in Beziehung zueinander,
so dass sich durch die Beziehungen zwischen den Bedeutungen einzelner Wörter
ganze Wortfelder bestimmen lassen. In Paraphrasen verwenden wir unter anderem
semantisch verwandte Ausdrücke und geben die semantische Relation an, in der sie
zu dem zu umschreibenden Ausdruck stehen. Die unterschiedlichen semantischen
Relationen erzeugen ein äußerst komplexes Netzwerk von sprachlichen Ausdrücken
und organisieren so unser mentales Lexikon (s. Kap. 2.1.4). Es gibt genügend Evidenz
aus der Psycho- und Neurolinguistik, die darauf hindeutet, dass semantische Rela-
tionen eine psychologische Realität besitzen (vgl. Aitchinson 1987, Schwarz 1992a).
So werden bei einem bestimmten Versprechertyp wie in den Beispielen (46a, b) vor
allem antonyme und inkompatible Ausdrücke vertauscht und es kann passieren,
dass semantisch verwandte Idiome wie in (46c) zusammengeworfen werden. Wörter
werden auch schneller erkannt, wenn vorher schon ein Wort erwähnt wurde, das in
einer bestimmten semantischen Relation zu dem zu erkennenden Wort steht. Zudem
verwenden Aphasiker sehr oft inkompatible, hyperonyme oder hyponyme Ausdrücke
statt des richtigen Ausdrucks (also zum Beispiel Stuhl statt Tisch). Die Beispiele in
(46) sind aus Keller und Leuninger (1993).
(46) a. Die Abende sind schon kurz < lang
b. Gib doch mal die Dose mit den Möhren < Erbsen
c. Er hat mir Honig in die Augen geschmiert < Sand in die Augen streuen und
< Honig um den Bart schmieren
Psycholinguistische Befunde zeigen, dass vor allem die symmetrischen semantischen Rela-
tionen, also die Relationen zwischen gleichwertigen Ausdrücken, eine wichtige Rolle bei
der Organisation des mentalen Lexikons übernehmen. Die asymmetrische Relation der
Hyponymie scheint dagegen nicht so wichtig zu sein. Die paradigmatischen semantischen
Relationen bestehen zwischen Ausdrücken, die zur selben Wortart gehören. Daneben
spielen aber auch noch semantische Relationen, die Wörter verschiedener Wortarten
verbinden, eine wichtige Rolle. Manche Ausdrücke können aufgrund gemeinsamer
semantischer Merkmale in Gruppen zusammengefasst werden (wie zum Beispiel Vo-
gel, fliegen und Flügel oder Nacht, schwarz oder dunkel). Wieder andere lassen sich
aufgrund unseres enzyklopädischen Wissens mithilfe sog. Frames oder Scripts klassi-
fizieren. Frames enthalten Informationen, die wir typischerweise mit einem Objekt in
Verbindung bringen, wohingegen Scripts typische Informationen über Situationstypen
wie ›ins Restaurant gehen‹ oder ›einen Arzt besuchen‹ enthalten (vgl. Taylor 1989).
186
5.3
Lexikalische Semantik
187
5.3
Semantik
Ein Merkmal ist dann relevant, wenn sich damit ein Bedeutungsunterschied zwischen
zwei Ausdrücken erfassen lässt. Die Namen der Merkmale sollten uns zunächst nicht
irritieren. [± MENSCHLICH] steht nicht für den natürlichsprachlichen Ausdruck
menschlich. Um diesbezüglich Verwirrung zu vermeiden, schreiben wir die semanti-
schen Merkmale in Großbuchstaben. Semantische Merkmale sind zunächst einmal
Hilfsmittel, um die Bedeutung von Ausdrücken in elementare Bestandteile zu zerlegen.
Welche Merkmale am Ende übrig bleiben, wird sich nach einer vollständigen Analyse
aller Ausdrücke einer Sprache herausstellen.
Die Merkmalssemantik wird unserer semantischen Fähigkeit gerecht, die Be-
deutung von vielen sprachlichen Ausdrücken relativ problemlos in Teilbedeutungen
zu zerlegen und sie liefert die Kriterien für die Bestimmung der Extension. Zudem
erleichtert sie die Beschreibung von zentralen Bedeutungsbestandteilen von Ausdrü-
cken und von Bedeutungsunterschieden zwischen Ausdrücken. Die Bedeutung des
Ausdrucks Katze unterscheidet sich zum Beispiel von der Bedeutung von Kater in der
Spezifizierung des Merkmals [±WEIBLICH]. Ein Mädchen ist im Gegensatz zu einer
Frau [–ERWACHSEN] und ein Fluss im Gegensatz zu einem See [+FLIESSEND].
Dieses Verfahren lässt sich auch auf ganze Wortfelder anwenden. Die einzelnen
Ausdrücke eines Wortfelds haben mindestens ein Merkmal gemeinsam. Hinsichtlich
weiterer Merkmale unterscheiden sie sich teilweise, wobei sich jeder Ausdruck in
mindestens einem Merkmal von den anderen Ausdrücken unterscheidet. (49) ist eine
(unvollständige) Analyse der Bezeichnungen für Universitätsangehörige.
(49) Komponentenanalyse der Universitätsangehörigen
Mithilfe der Merkmalssemantik können wir auch ableiten, warum es keine ver-
heirateten Junggesellen gibt. Semantische Unverträglichkeit ist zumindest teilweise
Unverträglichkeit der semantischen Merkmale. Dasselbe gilt für semantische Abwei-
chungen (s. Kap. 5.2.2). (50b) ist deshalb seltsam, weil das Objekt des Verbs trinken
als [+FLÜSSIG] spezifiziert sein muss, ein Tisch aber als [–FLÜSSIG] spezifiziert ist.
Beispiele wie ein toter Vogel oder ein falscher Freund zeigen allerdings, dass sich diese
Erklärung nicht ohne weiteres auf alle Beispiele übertragen lässt.
(50) a. *ein verheirateter Junggeselle
b. *Susi trinkt den Tisch
Ein weiterer Punkt ist, dass sich die im vorherigen Abschnitt diskutierten semanti-
schen Relationen mithilfe semantischer Merkmale definieren lassen. So enthalten
188
5.3
Lexikalische Semantik
synonyme Ausdrücke genau dieselben semantischen Merkmale, die zudem alle gleich
spezifiziert sind. Heteronyme wie die Universitätsangehörigen in (49) teilen sich min-
destens ein gleich spezifiziertes Merkmal. In der Spezifizierung der anderen Merkmale
unterscheidet sich jeder Ausdruck in mindestens einem Merkmal von den anderen.
Bei komplementären Ausdrücken führt die binäre Spezifizierung eines Merkmals
zu einer Zweiteilung einer Menge von Objekten. Komplementäre Ausdrücke sind
gute Kandidaten für semantische Merkmale. Ihre Bedeutung scheint nur durch ein
einziges Merkmal bestimmt zu sein. Einer von zwei komplementären Ausdrücken
lässt sich direkt durch den negativen, der andere durch den positiven Wert eines
Merkmals bestimmen. Männlich ist demnach [–WEIBLICH] und weiblich [+WEIB-
LICH]. Antonymien können wir mithilfe relativer Merkmale wie [±MINIMAL]
und [±MAXIMAL] oder [ÜBER/UNTER DER NORM] beschreiben. Hyponyme
enthalten schließlich alle entsprechend spezifizierten Merkmale ihres Hyperonyms
und darüber hinaus noch ein oder einige weitere Merkmale. Ein Rabe enthält zum
Beispiel dieselben Merkmale wie Vogel, hat aber darüber hinaus noch das Merkmal
[+SCHWARZ], durch das er sich von den meisten anderen Vögeln unterscheidet. Ein
Hyponym können wir demnach immer über sein Hyperonym und die zusätzlichen
Merkmale definieren, ein Verfahren, das auch in Paraphrasen oft Anwendung findet.
Ein weiteres fruchtbares Anwendungsgebiet der lexikalischen Dekomposition ist die
semantische Analyse von Verben (s. Kap. 5.4.1).
Die klassische Merkmalssemantik ist also durchaus ein hilfreiches Instrument
bei der Beschreibung der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken. Im Vergleich mit
der Phonologie tun sich allerdings einige gravierende Mängel auf (vgl. auch Kempson
1977). Im Unterschied zur Phonologie ist in der Semantik weder eine vollständige
Komponentenanalyse aller Ausdrücke einer Sprache mithilfe eines überschaubaren In-
ventars an Merkmalen noch eine unabhängige psychologische oder neurophysiologische
Begründung der semantischen Merkmale gelungen. Bisher gibt es keine befriedigende
Analyse der Bedeutung aller Ausdrücke einer Sprache mithilfe einer endlichen Menge
universeller semantischer Merkmale. Es ist nach wie vor unklar, welche und wie viele
Merkmale wir hierzu benötigen und ob diese Merkmale nicht wiederum in weitere ele-
mentare Einheiten zerlegt werden können. Dasselbe gilt für eine mögliche psychologische
oder neurophysiologische Begründung von Merkmalen. Die meisten phonologischen
Merkmale können phonetisch (artikulatorisch) definiert werden. Im Gegensatz dazu
ist der psychologische oder neurophysiologische Status von semantischen Merkmalen
nach wie vor unklar. Außerdem haben psycholinguistische Experimente bisher keine
zwingende Evidenz für die Annahme geliefert, dass sich Bedeutungen in elementare
semantische Merkmale zerlegen lassen. Sie zeigen aber, dass wir in der Lage sind,
semantische Bezüge zwischen unterschiedlichen Wörtern auf der Grundlage unseres
enzyklopädischen Wissens zu etablieren (zum Beispiel durch unser Wissen über typische
Situationen). Diese Bezüge lassen sich nun aber sehr wahrscheinlich nicht nur mithilfe
binärer semantischer Merkmale erklären. Es gibt also Bedeutungsaspekte, die eine
Merkmalssemantik nicht ohne weiteres erfassen kann (vgl. Aitchison 1987).
Bei näherer Betrachtung stellt sich zudem schnell heraus, dass es zahlreiche
Abhängigkeiten zwischen verschiedenen semantischen Merkmalen gibt. So wird es
kein Merkmalsbündel geben, in dem [+VERHEIRATET] und [–BELEBT] vorkommt.
Dahinter versteckt sich die allgemeinere Frage, wie unzulässige Merkmalsbündel
prinzipiell ausgeschlossen werden können und ob es entsprechende Redundanzregeln
189
5.3
Semantik
gibt, mit denen sich diese Abhängigkeiten formulieren lassen. Vor ein anderes Problem
stellen uns relationale Merkmale. Ein Fluss unterscheidet sich von einem Bach durch
das Merkmal [±GROSS]. Im Gegensatz zu absoluten Merkmalen wie [±WEIBLICH]
können wir die Größe eines Gegenstands nicht absolut bestimmen, sondern immer
nur relativ zu einem Objekt. Ein grauer Elefant ist ein Lebewesen, das grau ist und
ein Elefant ist. Ein kleiner Elefant ist dagegen kein Lebewesen, das klein ist und ein
Elefant ist. (51) illustriert denselben Sachverhalt. Nur in (51a) implizieren die ersten
beiden Sätze den dritten.
(51) a. Da läuft etwas Graues. Es ist ein Elefant. q Es ist ein grauer Elefant.
b. Da läuft etwas Großes. Es ist ein Elefant. /q Es ist ein großer Elefant.
Ein anderes Problem ist, dass wir nicht ausschließen können, dass die Bedeutung eines
Ausdrucks letztlich nur über ein Merkmal eindeutig bestimmt werden kann, das extra
dafür eingeführt wird. Das Erklärende und das Erklärte würden in diesem Fall zusam-
menfallen und wir könnten die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht mehr unab-
hängig bestimmen. Die Merkmalssemantik ist vor allem für die Analyse der Bedeutung
von bestimmten Inhaltswörtern geeignet. Daneben gibt es allerdings noch eine ganze
Reihe anderer Wörter wie zum Beispiel Funktionswörter, Präpositionen, deiktische
Ausdrücke, Eigennamen oder Farbadjektive, bei denen uns diese Art der semantischen
Analyse nicht weiterhilft. Der gravierendste Einwand gegen die klassische Merkmals-
semantik ist aber, dass viele natürlichsprachliche Ausdrücke sich durch eine gewisse
Unschärfe oder Vagheit auszeichnen (vgl. Pinkal 1991). Im Gegensatz zu Junggeselle
lässt sich die Bedeutung vieler sprachlicher Ausdrücke nicht mithilfe einer Liste von
semantischen Merkmalen eindeutig bestimmen. Das Wort Haustier bezeichnet zum
Beispiel eine sehr heterogene Klasse von Tieren, die mehr oder weniger typische
Vertreter enthält. Diese vagen Kandidaten sind das Thema des nächsten Abschnitts.
Aufgabe 5:
a. Nehmen Sie jeweils zwei Ausdrücke aus der folgenden Menge und bestimmen
Sie die Sinnrelation, die zwischen ihnen besteht: Briefmarke, Fahrzeug, reich, Haus,
Postwertzeichen, Cabrio, Dackel, arm, Dach, Dalmatiner.
b. Ordnen Sie die folgenden Ausdrücke mithilfe der Hyponym-Relation: Öltanker,
Kleinwagen, Flugzeug, Sportflieger, Schiff, Auto, Bus, Motorrad, Geländewagen,
LKW, Fähre, S-Bahn, Sportwagen, Fahrzeug, Jagdbomber, Verkehrsmittel, Passa-
gierflugzeug, Segelboot, ICE, Bagger, Transportflugzeug und Kombi.
c. Analysieren Sie das folgende Wortfeld mithilfe von semantischen Merkmalen:
Fluss, See, Bach, Teich, Kanal, Meer, Tümpel.
5.3.4 | Prototypen
Die klassische Merkmalssemantik geht davon aus, dass sich die wörtliche Bedeutung
eines sprachlichen Ausdrucks durch eine begrenzte Anzahl distinktiver Merkmale
klar bestimmen lässt. Dies bedeutet, dass alle Merkmale auf alle Elemente in der
Extension gleichermaßen zutreffen. Entweder gehört ein Element eindeutig in die
Menge der mit einem Ausdruck bezeichneten Dinge oder nicht. Es gibt nun al-
lerdings viele sprachliche Ausdrücke, auf die dies nicht zutrifft. Wir können zum
190
5.3
Lexikalische Semantik
Beispiel einerseits von einem seltsamen Hund oder von einem komischen Stuhl
sprechen. Andererseits können wir einen Schäferhund als typischen Hund bezeich-
nen. Die Sprache stellt uns Mittel zur Verfügung (z.B. sog. Heckenausdrücke wie
typisch oder seltsam), die Zugehörigkeit eines Gegenstands oder Lebewesens zu
der mit einem bestimmten Ausdruck bezeichneten Gruppe graduell zu erfassen.
Die Grenzen zwischen den Bedeutungen von verschiedenen Ausdrücken schei-
nen fließend zu sein. Dies hat schon Erdmann (1901) in der Einleitung zu seinem
Buch ›Die Bedeutung des Wortes‹ festgehalten: »Die Grenzen der Wortbedeutung
sind verwaschen, verschwommen, zerfließend. Treffender […] wird meines Er-
achtens der Sachverhalt gekennzeichnet, wenn man […] von einem Grenzgebiet,
das einen Kern einschließt, [redet].« In den meisten Fällen ist es nicht möglich,
eine begrenzte Anzahl von notwendigen und hinreichenden semantischen Merkmalen
anzugeben, die die Bedeutung eines Ausdrucks exakt festlegen (vgl. Smith/Medin
1981).
Nehmen wir einmal an, zur Bedeutung von Hund gehören unter anderem die
in (52) dargestellten Merkmale. Nehmen wir außerdem an, dass der arme Hasso
aufgrund eines bedauerlichen Unfalls nur noch drei Beine hat, vor lauter Frust
nicht mehr bellen mag und auch die Lust am Schwanzwedeln verloren hat. Ist
Hasso dann kein Hund mehr? Die meisten Menschen würden Hasso nach wie vor
mit dem Ausdruck Hund bezeichnen (sie würden ihn vielleicht einen armen Hund
nennen), obwohl in diesem Fall gewisse semantische Merkmale von Hund nicht
mehr erfüllt sind.
(52) Hund = [+VIERBEINIG, +BELLEND, +SCHWANZWEDELND, …]
Ein ähnliches Problem ergibt sich bei der Bestimmung der Bedeutung von Stuhl. Was
sind die notwendigen semantischen Merkmale, die die Bedeutung dieses Ausdrucks
festlegen? Können wir auf Grundlage dieser Merkmale die Sitzgelegenheiten in (53)
eindeutig in Stühle und Nicht-Stühle (zum Beispiel Sessel oder Hocker) einteilen? Psy-
cholinguistische Experimente haben gezeigt, dass Sprecher übereinstimmend typische
Vertreter mit dem entsprechenden Ausdruck benennen. Bei untypischen Vertretern
gibt es dagegen große Unterschiede bei der Benennung. In unserem Beispiel sind die
typischen Vertreter wohl das zweite und das vierte Objekt.
(53)
Dies zeigt, dass die konzeptuellen Repräsentationen, mit denen sprachliche Aus-
drücke verbunden sind, meistens keine klaren Grenzen haben. Damit lassen sich
aber auch die Bedeutungen von sprachlichen Ausdrücken nicht klar bestimmen.
Ein bekanntes Beispiel ist die Bedeutung des Wortes Spiel (vgl. Wittgenstein 1953).
Spiele können alleine, zu zweit oder in größeren Gruppen gespielt werden. Spiele
können mit Bewegung, mit Phantasie, mit Glück oder mit Intelligenz zu tun ha-
ben. Manche Spiele haben Gewinner, andere nicht. Manche werden von Kindern
gespielt und manche von Erwachsenen. Bei manchen Spielen kann man viel Geld
gewinnen und verlieren, bei anderen wiederum nicht. Die Tätigkeiten, die wir
mit dem Wort Spiel bezeichnen, haben so heterogene Eigenschaften, dass es wohl
191
5.3
Semantik
unmöglich ist, auch nur ein einziges semantisches Merkmal zu bestimmen, das
sich alle Spiele teilen. Was hier vorliegt, ist vielmehr ein Netz von wechselseitigen
Ähnlichkeiten, wobei manche Spiele mehr Ähnlichkeiten mit anderen aufweisen
und andere weniger. Wittgenstein spricht in diesem Fall von Familienähnlichkei-
ten.
Das Stuhlbeispiel in (53) unterscheidet sich vom Spielbeispiel ein klein
wenig, weil es in diesem Fall möglich ist, einen typischen Vertreter der Kategorie
STUHL zu bestimmen. Wir haben also nicht ein Netz von Ähnlichkeiten, sondern
eher einen Kreis mit einem Zentrum (oder Kernbereich) mit zentralen Instanzen
und unscharfen Rändern. Diese zentrale(n) Instanz(en) nennt man Prototyp (vgl.
Rosch 1973/1975, Kleiber 1993 und Taylor 1989). Prototypen repräsentieren die
Standardbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks. In den peripheren Bereichen sind
die weniger typischen Vertreter angesiedelt, die auch noch von dem entsprechenden
Ausdruck erfasst werden. Hier sind die Übergänge zu den Bedeutungen von benach-
barten Ausdrücken graduell. Die konzeptuelle Unschärfe von Kategorien führt dazu,
dass auch die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken unscharf wird. Wir können
nicht immer eindeutig bestimmen, ob eine Sitzgelegenheit ein Stuhl, ein Hocker oder
ein Sessel ist oder ob ein bestimmtes Gefäß eine Tasse, eine Schale oder ein Becher
ist. Bei der Herausbildung von Prototypen spielen verschiedene Kriterien wie Häu-
figkeiten, gesellschaftliche Relevanz oder das enzyklopädische Wissen eine Rolle.
Prototypen ermöglichen uns eine ökonomische Organisation unseres konzeptuellen
Wissens. Wir müssen nicht jedes uns bekannte Lebewesen oder jeden Gegenstand,
das oder den wir mit einem Ausdruck bezeichnen können, einzeln abspeichern, da wir
neue Lebewesen oder Gegenstände jeweils mit einem Prototypen abgleichen können.
Dies ermöglicht es uns auch, einen dreibeinigen, nicht bellenden Hund wie Hasso als
Hund zu bezeichnen. Ein typischer Vertreter für einen Vogel ist in Mitteleuropa die
Amsel, weniger typische sind Pinguin oder Strauß.
Das Konzept der Prototypen ist auf viele verschiedene Bereiche angewandt
worden, wie zum Beispiel auf die Bedeutung von Farbadjektiven oder von Verben.
Prototypen sind zudem experimentell untersucht worden (vgl. Rosch 1973 und La-
bov 1973). Was genau man sich unter einem Prototypen vorzustellen hat, lässt sich
dagegen nicht so einfach sagen. Betrachten wir dazu die konzeptuelle Hierarchie, die
in (54) anhand von Fahrzeugkategorien illustriert ist.
(54) MOTORRAD CABRIO
FAHRZEUG AUTO COUPÉ
LASTKRAFTWAGEN KOMBI
192
5.3
Lexikalische Semantik
erwerb eine zentrale Rolle. Die übergeordneten Kategorien (die Hyperonyme), die wie
FAHRZEUG größere Klassen umfassen, sind weitgehend funktional bestimmt. FAHR-
ZEUG umfasst sehr heterogene Kategorien wie AUTO, SCHIFF oder FLUGZEUG. Je
abstrakter die Kategorie, desto weniger spielen sensorische Eigenschaften eine Rolle.
Dementsprechend unterscheiden sich die Prototypen auf den verschiedenen Ebenen.
Unter den Prototypen der Basiskategorien kann man sich noch konkrete Exemplare
vorstellen. Dies gilt allerdings nicht für die übergeordneten Ebenen. Die Kategorie
FAHRZEUG umfasst eine heterogene Klasse von Objekten, die sich nur noch wenig
sensorische Eigenschaften teilen. Bei den Vertretern funktional bestimmter Kategorien
gibt es kein bestes Exemplar, sondern eine Familienähnlichkeit. Prototypen scheinen
hier abstraktere Informationseinheiten zu sein, die neben sensorischen Informationen
vor allem auch funktionale Informationen enthalten.
An dieser Stelle kommen wieder die semantischen Merkmale ins Spiel. Es ist
nicht unplausibel anzunehmen, dass semantische Merkmale bei der Bestimmung von
Prototypen eine entscheidende Rolle spielen. Sensorische und funktionale Informa-
tionen können in Form von Merkmalen einen Prototypen bestimmen. Im Gegensatz
zur klassischen Merkmalssemantik sind Bedeutungen in der Prototypensemantik
allerdings keine begrenzte Liste von distinktiven Merkmalen. Es sind verschiedene
Möglichkeiten vorstellbar, semantische Merkmale in die Prototypentheorie zu inte-
grieren. Man könnte Merkmale entsprechend ihrer Relevanz graduieren, Mengen von
unterschiedlich relevanten Merkmalen definieren oder einen Kern von Merkmalen
ausmachen, von denen wiederum eine bestimmte Anzahl erfüllt sein muss. Die ver-
schiedenen Strategien können bei unterschiedlichen Arten von Kategorien relevant
zu sein. Unter Prototypen kann man sich also auch ein Verfahren vorstellen, mit dem
sich der Grad der Typikalität eines Objekts ermitteln lässt (vgl. auch Blutner 1995
und Smith/Medin 1981).
Satz (55a) klingt seltsam, obwohl die beiden Teilsätze in (55b) und (55c) für sich
genommen in Ordnung sind. Wir können mit dem Wort Zeitung verschiedenartige
Dinge bezeichnen. In (55b) meinen wir ein Stück Papier, das mit Texten bedruckt ist.
In (55c) meinen wir dagegen eine Person aus der Redaktion oder dem Vertrieb. Weitere
mögliche Bedeutungen sind die Informationen, die in einer Zeitung stehen, die Firma,
in der die Zeitung hergestellt wird oder das Gebäude, in dem die Redaktion arbeitet.
Im Unterschied zu Hund oder Auto ist nun aber keine dieser Bedeutungsvarianten
die typische Bedeutung von Zeitung. Die Zeitung in (55c) ist nicht weniger typisch
als die Zeitung in (55b). Es handelt sich vielmehr um verschiedene gleichwertige kon-
193
5.3
Semantik
Die Semantik interessiert sich vor allem für diese systematischen Mehrdeutigkeiten
(vgl. Nunberg 1979 und Bierwisch 1983). Homonyme Ausdrücke sind semantisch
betrachtet zwei verschiedene Wörter, die zweimal im (mentalen) Lexikon aufgelistet
werden. Polyseme Ausdrücke haben dagegen nur einen Eintrag im (mentalen) Le-
xikon. Die verschiedenen Bedeutungen eines polysemen Ausdrucks gehen auf eine
einheitliche abstrakte Grundbedeutung zurück. Diese Grundbedeutung wird mithilfe
unseres konzeptuellen Wissens weiter spezifiziert, so dass eine konkrete Bedeutung
entsteht. Erst wenn wir die unterspezifizierte Bedeutung weiter spezifiziert haben,
können wir eine konkrete Menge von Objekten als Extension eines polysemen Aus-
drucks festlegen. Dies können Gebäude, Personen, Institutionen oder anderes sein.
Die zugrundeliegende Bedeutung von Schule könnte stark vereinfacht folgendermaßen
aussehen: der Zweck einer Schule sind Lehr- und Lernprozesse. Wörter wie Schule
haben demnach eine unterspezifizierte wörtliche Bedeutung, die wir in der ersten
Zeile in (57) notiert haben. Unser konzeptuelles Wissen stellt uns nun verschiedene
allgemeine Konzepte zur Verfügung, die nicht nur für Schulen gelten. Dazu gehören
die Konzepte INSTITUTION, PERSON oder GEBÄUDE. Dies entspricht unserem
Wissen über die Welt, dass es für bestimmte Zwecke spezielle Institutionen, Personen
oder Gebäude gibt. Mit diesen Konzepten können wir unterspezifizierte Ausdrücke
wie Schule, Kirche oder Oper je nach Kontext weiter spezifizieren. Die wörtliche Be-
deutung eines polysemen Ausdrucks wird also mithilfe unseres konzeptuellen Wissens
194
5.3
Lexikalische Semantik
Dieses Vorgehen ermöglicht uns eine relativ klare Trennung zwischen wörtlicher
Bedeutung und konzeptuell spezifizierten Bedeutungsvarianten. Die einzelnen Be-
deutungsvarianten eines polysemen Ausdrucks haben verschiedene Intensionen und
Extensionen (Gebäude, Personen, Institutionen), gehen aber alle auf eine gemeinsame
Grundbedeutung zurück. Für die einzelnen Bedeutungsvarianten kann es dann wieder
prototypische Vertreter geben (zum Beispiel ein prototypisches Schulgebäude oder ein
prototypisches Zeitungsexemplar). Dies bedeutet, dass sich bei polysemen Ausdrücken
hinter der Ebene der Prototypen eine weitere semantische Ebene der Unterspezifikation
verbirgt, die es uns ermöglicht, die systematische Mehrdeutigkeit dieser Ausdrücke
zu erklären. Satz (55a) zeigt außerdem, dass ein polysemer Ausdruck nicht gleich-
zeitig zwei unterschiedliche Spezifizierungen erlaubt (Zeugma-Effekt). Abschließend
sei noch darauf hingewiesen, dass sich das Konzept der Polysemie auch auf andere
Ausdrücke wie z. B. Präpositionen übertragen lässt. Im Fall der Präpositionen muss
die räumliche Relation genauer spezifiziert werden.
(58) a. Die Bücher sind im Regal.
b. Die Holzwürmer sind im Regal.
Aufgabe 6:
a. Nennen Sie jeweils typische und untypische Vertreter für die folgenden Konzepte:
VATER, FAHRZEUG, KRANKHEIT, GEMÜSE.
b. Überprüfen Sie anhand verschiedener Haustiere, welche der folgenden Eigen-
schaften prototypisch sind.
(i) Ein Haustier lebt in der Wohnung.
(ii) Mit einem Haustier kann man spielen.
(iii) Ein Haustier frisst andere Tiere.
(iv) Haustiere sind ungefährlich.
(v) Haustiere werden nicht gegessen.
(vi) Haustiere sind eingesperrt.
(vii) Haustiere haben einen Namen.
(viii) Haustiere sind Säugetiere.
(ix) Haustiere werden gefüttert.
c. Welche zugrunde liegende Bedeutung hat der polyseme Ausdruck Oper und was
lässt sich damit alles bezeichnen? Geben Sie jeweils ein Beispiel.
195
5.4
Semantik
5.4 | Satzsemantik
5.4.1 | Verben, Aktionsarten und semantische Rollen
Mithilfe von Aussagesätzen lassen sich Situationen (oder Ereignisse) beschreiben
(zum Begriff der Situation vgl. Barwise/Perry 1983). Diese Situationen können un-
terschiedliche interne temporale Strukturen haben und sie können unterschiedlich
viele Mitspieler mit verschiedenen semantischen Rollen haben. Dem Verb, das in den
meisten Sätzen das semantische Prädikat des Satzes ist, kommt hierbei eine zentrale
Rolle zu. Eine Ausnahme dazu sind Sätze wie Roland ist schlau oder Clara wird Stu-
dentin, in denen das semantische Prädikat aus einem Hilfsverb und einem Adjektiv
oder Nomen besteht. Die Bedeutung von Verben bildet eine der zentralen Nahtstellen
zwischen der lexikalischen Semantik und der Satzsemantik. Verben bestimmen die
Anzahl und die Kategorie ihrer Argumente und weisen ihnen semantische Rollen wie
Agens, Thema oder Ziel zu (s. Kap. 2 und 4.8, vgl. Primus 2012).
(59) Eva aß gestern Abend den Apfel im Paradies.
Eine typische Esssituation umfasst beispielsweise zwei Mitspieler, und zwar jemanden,
der isst (das Agens), und etwas, das gegessen wird (das Thema). Das Verb essen weist
demnach zwei semantische Rollen zu. Diese beiden notwendigen Teilnehmer sind in
(60) in der ersten Menge links dargestellt. Andere Entitäten, wie sie zum Beispiel in
der zweiten Menge rechts dargestellt sind (ein Essinstrument, ein Tisch, eine Schlange
oder ein Mitesser – in unserem Beispiel Adam), sind keine notwendigen Bestandteile
einer typischen Esssituation. Situationen finden außerdem an einem bestimmten Ort
und zu einer bestimmten Zeit statt (in Beispiel (59) gestern Abend im Paradies).
(60)
Im Gegensatz dazu hat eine Situation, in der jemand schläft, nur einen Teilnehmer,
den Schläfer. Das Verb schlafen weist seinem einzigen Argument die semantische Rolle
Agens zu. Eine Situation, in der jemand jemandem etwas gibt, hat drei Teilnehmer,
die Geberin (Agens), das Gegebene (Thema) und den Rezipienten. Welche und wie
viele semantische Rollen ein Verb zuweist, hängt also von der Situation ab, die ein
Verb beschreibt. Manche Verben können auch mehrere semantisch zusammenhän-
gende Situationen beschreiben. Ein Beispiel dafür ist das Verb trocknen. In (61a) hat
trocknen nur ein Argument, das die semantische Rolle Thema (oder Patiens) erhält.
Die sogenannte kausative Variante von trocknen in (61b) hat dagegen die zwei Ar-
gumente Agens und Thema.
(61) a. Die Wäsche trocknet.
b. Ralf trocknet die Wäsche.
Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft den inneren temporalen Aufbau einer
Situation, die sog. Aktionsarten (des Öfteren wird auch der Begriff ›Aspekt‹ verwendet)
(vgl. Vendler 1967, Dowty 1979, François 1985, Lohnstein 2011). Auch hier kommt
dem Verb wieder eine zentrale Rolle zu. Sog. atelische Verben wie lachen, schlafen und
196
5.4
Satzsemantik
sitzen bezeichnen Zustände oder einfache Aktivitäten, die nicht grenzbezogen sind.
Telische Verben wie sterben, erröten und ankommen bezeichnen dagegen Situationen,
die eine Zustandsveränderung enthalten und grenzbezogen sind. Der Endzustand ist
bei telischen Verben impliziert, muss aber nicht notwendigerweise eintreten, wie der
Unterschied zwischen (62a) und (62b) illustriert. In (62b) ist es eher unwahrscheinlich,
dass die Soldaten den Endpunkt des Überquerens (die andere Seite des Minenfelds)
auch tatsächlich erreichen.
Der Unterschied zwischen telischen und atelischen Verben lässt sich mithilfe von
Temporaladverbialen testen. So können zum Beispiel Zeitdaueradverbiale wie zwei
Stunden lang nur atelische Verben wie schlafen modifizieren. Telische Verben wie
erwachen können damit nicht oder nur mit einer iterativen Interpretation modifiziert
werden. Die iterative Interpretation ›zwei Stunden lang immer wieder etwas tun‹ ist
bei Verben wie erwachen allerdings äußerst seltsam.
Ein weiterer Unterschied zeigt sich bei der sogenannten rheinischen Verlaufsform X
ist (etwas) am Machen. Nur mit einem atelischen Verb wie schlafen in (64a) impliziert
die Verlaufsform den entsprechenden perfektiven Satz (64a’). Wenn Peter am Schlafen
ist, dann folgt daraus immer, dass er schon (eine gewisse Zeit) geschlafen hat. Wenn
Peter am Erwachen ist, dann folgt daraus aber nicht, dass er schon erwacht ist. Dieser
Test wird auch ›imperfectivity paradox‹ genannt.
(64) a. Peter ist am Schlafen. ——¬ a’. Peter hat geschlafen. (atelisch)
b. Peter ist am Erwachen. /¬
—— b’. Peter ist erwacht. (telisch)
Sowohl atelische wie auch telische Verben lassen sich in zwei weitere Klassen un-
terteilen. Betrachten wir zunächst die telischen Verben, die in Achievements und
Accomplishments unterteilt werden können. Achievement-Verben wie ankommen,
erwachen oder ausschalten sind punktuell, da sie einen plötzlichen Zustandswechsel
beschreiben. Accomplishment-Verben wie sinken oder besteigen beschreiben dagegen
eine allmähliche Zustandsveränderung und sind deshalb durativ. Dieser Unterschied
zeigt sich wiederum bei temporaler Modifikation. Durative Zeitdaueradverbiale wie
seit einer Stunde können nur Accomplishments temporal modifizieren. Im Präteritum
liefern Zeitspannenadverbiale wie in zwei Stunden dasselbe Ergebnis.
(65) a. Das Schiff sank seit einer Stunde/in zwei Stunden. (Accomplishment)
b. Maria erwachte *seit einer Stunde/*in zwei Stunden. (Achievement)
Atelische Verben stehen bei diesen beiden Tests zwischen Accomplishments und
Achievements. Einerseits ähneln sie Achievements, weil sie ebenfalls nicht durch in
zwei Stunden modifiziert werden können, anderseits ist wie bei Accomplishments
Modifikation durch seit zwei Stunden möglich.
197
5.4
Semantik
Das folgende Schaubild gibt einen etwas vereinfachten Überblick über die interne tem-
porale Struktur von Situationen, die atelische und telische Verben beschreiben. ›Z1‹ steht
für den Anfangszustand und ›Z2‹ für den Endzustand. Die x-Achse ist die Zeitachse.
Z1
Außerdem kann die oben erwähnte rheinische Verlaufsform bei States nicht verwendet
werden, weil diese keine zeitlich begrenzten Situationen beschreiben.
(69) a. Peter ist am Schlafen. (Activity)
b. *Peter ist Helmut am Heißen/am Helmut-Heißen. (State)
Ein dritter Unterschied zeigt sich in (70). Nur Satz (70a), der das Activity-Verb lesen
enthält, ist mehrdeutig. Er hat die folgenden beiden Lesarten: (i) alle Kinder, die in dieser
Klasse sind, lesen kluge Bücher und sie tun dies (auch) außerhalb des Unterrichts, oder
(ii) die Kinder lesen immer dann kluge Bücher, wenn sie in ihrer Klasse sind. Die lokative
PP in dieser Klasse kann in (70a) entweder die NP alle Kinder oder das Activity-Verb
lesen modifizieren. Satz (70b), der das State-Verb heißen enthält, ist nicht ambig, weil
das State-Verb nicht durch die lokative PP modifiziert werden kann. In dieser Klasse
kann in (70b) nur die NP alle Kinder modifizieren, was Lesart (i) entspricht: alle Kin-
der in dieser Klasse heißen Helmut und sie heißen auch außerhalb der Klasse Helmut.
(70) a. Susi glaubt, dass alle Kinder in dieser Klasse kluge Bücher lesen. (Activity)
b. Susi glaubt, dass alle Kinder in dieser Klasse Helmut heißen. (State)
Die vier Aktionsarten ergeben die Verbklassifikation in (71) (vgl. auch Ehrich 1992).
Activity-Verben beschreiben wie Accomplishments und Achievements Situationen oder
198
5.4
Satzsemantik
Ereignisse. Zusammen bilden diese drei Verbklassen die Klasse der Stadienprädikate
(stage-level predicates). State-Verben beschreiben hingegen Zustände oder Eigen-
schaften und bilden die Klasse der Individuenprädikate (individual-level predicates)
(vgl. Kratzer 1995).
(71) Aktionsarten
atelisch telisch
Viele zweistellige Verben wie lesen sind nur dann telisch, wenn das direkte Objekt,
das die semantische Rolle ›Thema‹ erhält, (i) syntaktisch realisiert ist und (ii) keine
kumulative, sondern eine gequantelte Referenz hat. Was kumulativ bedeutet, kann
man sich mithilfe von (72a,c) verdeutlichen. Kumulative Referenz liegt vor, wenn auf
nichtzählbare Entitäten wie Krimis referiert wird. Wird auf zählbare Entitäten wie zwei
Krimis referiert, dann liegt gequantelte Referenz vor (Krimis und Krimis ergibt wieder
Krimis, wohingegen zwei Krimis und zwei Krimis nicht wieder zwei Krimis ergibt). Der
entscheidende Punkt ist nun, dass zweistellige Verben wie lesen nur mit einem Objekt
mit gequantelter Referenz wie in (72a) einen Endpunkt implizieren. Das komplexe
Prädikat einen Krimi lesen ›erbt‹ in diesem Fall die Telizität vom direkten Objekt.
Ein ähnliches Problem ergibt sich bei Bewegungsverben. Eine direktionale PP
wie in die Garage führt einen expliziten Endpunkt ein. Im Gegensatz zu fahren ist
das komplexe Prädikat in die Garage fahren telisch. In (73b) ist nur eine iterative
Lesart möglich.
(73) a. Der Beifahrer fuhr zwei Stunden lang. (atelisch)
b. *Der Beifahrer fuhr zwei Stunden lang in die Garage. (telisch)
Diese Eigenschaft von direktionalen PPn lässt sich auch bei anderen Activity-Verben
wie z. B. Geräuschverben (der Wagen brummt vs. der Wagen brummt um die Ecke)
und in sog. Resultativkonstruktionen (Maria trank ihre Oma unter den Tisch) beob-
achten. Neben direktionalen PPn können in Resultativkonstruktionen auch Adjektive
den potentiellen Endpunkt der Situation bestimmen (Maria pflegte ihre Oma danach
wieder gesund). Zudem verändern verbale Präfixe wie be-, er- oder ver- in bemalen,
erwachen oder verjubeln die Aktionsart des Basisverbs. Die Aktionsarten werden
demnach nicht ausschließlich von den Verben festgelegt, sondern zumindest teilweise
auch von anderen Konstituenten im Satz und von verbalen Präfixen.
199
5.4
Semantik
Die beiden Bedeutungen des Verbs trocknen in (61) haben eine gemeinsame lexika-
lisch-konzeptuellen Struktur, die die optionale Komponente CAUSE x enthält, was
in (74c) durch die gestrichelte Linie gekennzeichnet ist. Die kausative Variante (61b)
unterscheidet sich nur in dieser Komponente von ihrem nicht-kausativen Gegenstück
(61a). Mithilfe der Prädikate GO und TO können zudem Bewegungsverben wie gehen
in (74d) dekomponiert werden.
Die Bedeutung eines Verbs setzt sich aus allgemeinen Bausteinen wie BE, CAUSE
und BECOME, und idiosynkratischen Bedeutungsaspekten wie ›not-alive‹ zusammen.
Weitere idiosynkratische semantische Beschränkungen wie zum Beispiel die Art des
Tötens oder Sterbens können ebenfalls in der konzeptuellen Struktur des jeweiligen
Verbs festgehalten werden. Die Dekompositionsanalyse ermöglicht es, Verben nach
dem internen Aufbau ihrer lexikalisch-konzeptuellen Struktur zu klassifizieren. Für
die Verbklassifikation sind vor allem die allgemeinen Basisprädikate relevant. Die
semantische Struktur aller Achievement- und Accomplishment-Verben enthält zum
Beispiel das Prädikat BECOME. Sind diese Verben auch kausativ, dann enthält
ihre semantische Struktur zudem das Prädikat CAUSE. Die semantische Struktur
von Activity-Verben wie lachen in (75a) besteht dagegen nur aus dem einfachen
Basisprädikat DO, das wie BE durch die Art der vom Verb beschriebenen Aktivität
spezifiziert werden kann.
(75) lachen: [ DOlaugh(x) ]
Der Unterschied zwischen telischen und atelischen Verben spiegelt sich demnach in
der lexikalisch-konzeptuellen Struktur eines Verbs. Dasselbe gilt für die semantischen
Rollen. Agens entspricht zum Beispiel dem ersten Argument von CAUSE (›x‹ in
200
5.4
Satzsemantik
(74b,c)) und Thema dem Argument von BE (›y‹ in (74a–c)). Für eine einigermaßen
vollständige Dekomposition aller Verben und eine ebenso vollständige Bestimmung
aller semantischen Rollen sind natürlich noch weitere Basisprädikate nötig.
Aufgabe 7:
a. Bestimmen Sie die Aktionsart der folgenden Beispiele mithilfe der oben genann-
ten Tests: schwimmen, einschlafen, essen, abstammen, verkochen, (ein Glas) Wein
trinken, den Wagen schieben, den Wagen beladen.
b. In welchem der folgenden Beispiele lässt sich die Aktionsart verändern?
(i) Maria malte ein Bild. (ii) Martin half dem Freund. (iii) Das Paar tanzte einen
Walzer.
c. Erläutern Sie mithilfe der Schaubilder in (67), welche Zeitintervalle die Tempo-
raladverbiale in den Beispielen (63), (65), (66) und (72) modifizieren.
d. Dekomponieren Sie die Verben in den folgenden Beispielen: (i) Ralf öffnete die
Tür. (ii) Martina fährt nach Bremen. (iii) Das Wasser schmolz.
201
5.4
Semantik
Satz damit diese Situation korrekt beschreibt. Satz (77) ist in allen Situationen wahr,
in denen das mit Elke bezeichnete Individuum lacht. In allen anderen Situationen,
in denen Elke alles Mögliche tut, nur nicht lachen, ist dieser Satz falsch. Dies be-
deutet, dass Muttersprachler des Deutschen normalerweise wissen, was der Fall
sein muss, damit Satz (77) wahr ist. Dazu muss man wissen, welches Individuum
mit dem Eigennamen Elke bezeichnet wird und was die Bedeutung von lachen ist.
Wenn wir die Bedeutung von lachen kennen, dann können wir für jede Situation
entscheiden, welche Individuen lachen und ob das mit Elke bezeichnete Individuum
auch zu den lachenden Individuen gehört. Nur wenn dies der Fall ist, ist Satz (77)
in dieser Situation wahr.
Dieser wahrheitsfunktionale Aspekt der Bedeutung, der auf die in 5.2.4 skiz-
zierte realistische Sichtweise zurückgeht, spielt in der Satzsemantik eine zentrale Rolle.
Unter dieser Sichtweise wird die Bedeutung eines Satzes mit seinen Wahrheitsbedin-
gungen identifiziert (vgl. Wittgenstein 1922).
(78) Die Bedeutung eines Satzes kennen, heißt, die Bedingungen für die Wahrheit bzw.
Falschheit dieses Satzes zu kennen.
Wer die Bedeutung von Satz (77) kennt, kann auch für jede beliebige Situation s
angeben, ob dieser Satz in s wahr oder falsch ist. Für Satz (77) gilt dann (79).
(79) Der Satz Elke lacht ist wahr in einer Situation s genau dann, wenn Elke in s lacht.
Sätze sind demnach nicht an sich wahr oder falsch. Die Wahrheit bzw. Falschheit
eines Satzes wird immer relativ zu möglichen Situationen (oder möglichen Welten)
bestimmt. Ein interessantes und nicht triviales Problem ergibt sich, wenn in einer
Situation das entsprechende Individuum (in unserem Beispiel Elke) überhaupt nicht
anwesend ist. In diesem Fall können wir zwar festhalten, dass Satz (77) nicht wahr
ist, wir können aber nicht ohne weiteres entscheiden, ob er falsch ist. Dieses Problem
hat mit sogenannten Präsuppositionen zu tun (s. Kap. 6.4). Im Folgenden sollen
nur Situationen berücksichtigt werden, die alle relevanten Individuen enthalten.
Situationen können wir uns etwas vereinfacht als kleine Weltausschnitte vor-
stellen, zum Beispiel in Form einer kleinen Theaterszene. Situationen können in der
Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegen oder sich in unserer Welt niemals
abgespielt haben (dafür aber zum Beispiel in einer fiktiven Roman- oder Filmwelt).
Die in (80) skizzierte Situation s1 enthält die drei Individuen Elke, Clara und Elias.
In dieser Situation lachen zwei der drei Individuen, nämlich Clara und Elke. Das
dritte Individuum Elias lacht nicht. Die kleine Situation s1 ist ein Modell eines über-
schaubaren Weltausschnitts, das es ermöglicht, exemplarisch den Bezug zwischen
den sprachlichen Ausdrücken Clara, Elke, Elias und lachen und Situationen in der
Welt nachzuvollziehen.
(80) s1
Clara Eliasn
n
Elke Individuen, die nicht lachen
Individuen, die lachen
In Situation s1 ist Satz (77) wahr. Dasselbe würde für den Satz Clara lacht gelten.
Der Satz Elias lacht ist dagegen in s1 falsch, da Elias in dieser Situation nicht lacht.
202
5.4
Satzsemantik
Abstrahiert man von einer konkreten Situation wie s1 in (80), dann lässt sich die
Bedeutung von Satz (77) mithilfe des Begriffs der Wahrheit folgendermaßen angeben.
(81) Die Bedeutung von Elke lacht ist die Menge aller Situationen s, für die gilt, dass Elke
in s lacht.
Die Bedeutung eines Satzes x ist demnach die Menge aller Situationen s, die x wahr
machen. Diese Menge wird auch die durch den Satz ausgedrückte Proposition (Sach-
verhalt) genannt. Statt der etwas umständlichen Formulierung ›die Bedeutung von
Elke lacht‹ wird normalerweise die kürzere Notationsvariante ›·Elke lacht‚‹ verwendet
und statt ›die Menge aller Situationen, für die gilt, …‹ die Kurzform ›{ s : … }‹. Damit
ergibt sich für (81) folgende verkürzte Schreibweise.
(82) ·Elke lacht‚ = { s : Elke lacht in s }
Die sprachlichen Ausdrücke des Deutschen, die interpretiert werden, werden wie in
(82) kursiv geschrieben. So lassen sich Verwechslungen zwischen der Sprache, die
interpretiert werden soll (die Objektsprache, in unserem Fall das Deutsche) und der
Sprache, mit der interpretiert wird (der Metasprache) vermeiden. In (82) ist Elke
lacht ein objektsprachlicher und ›{s : Elke lacht in s}‹ ein metasprachlicher Ausdruck.
Bisher haben wir die Bedeutung des kompletten Satzes (77) angegeben, aber wir haben
noch nicht geklärt, wie sich diese Bedeutung aus den Bedeutungen der Einzelteile
Elke und lacht ergibt. Da sich die Interpretation eines Satzes an dessen syntaktischer
Struktur orientiert, wollen wir uns noch einmal die syntaktische Analyse dieses Satzes
vergegenwärtigen. In (83) werden sowohl das finite Verb wie auch das Subjekt aus
der VP in die IP bewegt (s. Kap. 4.7). Der Eigenname Elke ist nach der in Kapitel
4.4.2 vorgestellten Version der X’-Theorie nur ein N, das keine NP projiziert, da es
nicht erweitert wird (vgl. Definition (61c)). Da die semantische Interpretation der
IP-VP-Struktur in (83a) zu weit führen würde, wollen wir uns hier der Einfachheit
halber auf die Interpretation der VP in (83b) konzentrieren, die das Verb und Subjekt
in ihren Basispositionen enthält.
(83) a. IP b. VP
N I’ N V
Elke Elke lacht
k I VP
lacht
k
Wir fangen bei der Interpretation von Struktur (83b) damit an, die Bedeutung der
beiden lexikalischen Ausdrücke Elke und lacht zu berechnen. Die Bedeutung des
Eigennamens Elke ist das Individuum, das durch den Namen Elke bezeichnet wird.
Der Ausdruck Elke denotiert ein Individuum, die Namensträgerin. Was ist nun die
Bedeutung des intransitiven Verbs lachen? Für unsere Analyse genügt es, festzuhal-
ten, dass lachen zu den einstelligen Prädikaten gehört, die Individuen eine bestimmte
Eigenschaft zuschreiben. Die Extension von lachen in einer Situation s ist die Menge
der Individuen, die in s lachen, was der verkürzten Schreibweise ›{ x : x lacht in s }‹
entspricht. Lachen denotiert also eine Menge von Individuen. In unserer kleinen
Situation s1 sind dies Elke und Clara. Damit können wir die Bedeutung der beiden
203
5.4
Semantik
Der entscheidende Punkt ist nun die Bedeutung der ersten komplexen Phrase, der VP,
die zwei Elemente enthält, das einstellige Prädikat lachen und sein Argument Elke. Der
syntaktischen Regel VP q N V entspricht die semantische Regel ·VP‚S = ·V‚S (·N‚S).
(85) ·VP‚S = ·V‚S (·N‚S) = · [V lacht ] ‚S (· [N Elke ] ‚S)
·N‚S ·V‚S
Nach (84b) ist die Bedeutung des Verbs eine Menge von Individuen. Das Nomen
Elke bezeichnet nach (84a) das Individuum Elke. Indem wir die Variable ›x‹ in (84b)
durch ›Elke‹ ersetzen, können wir den entsprechenden Wahrheitswert von (83b) in
s berechnen. (83b) ist wahr in einer Situation s, in der Elke Teil der Menge der In-
dividuen ist, die lachen denotiert. Wenn Elke in s nicht Teil dieser Menge ist, dann
ist der Satz in s falsch.
(86) · [V lacht ] ‚S (· [N Elke ] ‚S) ist wahr genau dann, wenn Elke { x : x lacht in s }
Als Wahrheitswert für wahre Sätze wird normalerweise das Symbol 1 verwendet.
Das Symbol 0 steht für falsche Sätze (für 1 werden auch die Symbole w oder t und
für 0 das Symbol f verwendet). Damit können wir die Bedeutung von (83b) folgen-
dermaßen notieren.
(87) a. · [V lacht ] ‚S (· [N Elke ] ‚S) = 1 genau dann, wenn Elke { x : x lacht in s }
b. · [V lacht ] ‚S (· [N Elke ] ‚S) = 0 genau dann, wenn Elke { x : x lacht in s }
Ein Satz mit transitiven Verben wie in (88) kann ganz analog dazu analysiert werden.
(88) Elke kämmt Clara.
Im Gegensatz zu einstelligen Verben denotieren zweistellige Verben allerdings keine
Mengen von Individuen, sondern Mengen von geordneten Paaren, die in der vom
Verb ausgedrückten Relation zueinander stehen. In (88) stehen Elke und Clara in der
Relation des Kämmens. Geordnete Paare werden wie in (89) durch spitze Klammern
repräsentiert. Anders als bei ungeordneten Paaren ist bei geordneten Paaren die Rei-
henfolge beider Elemente wichtig. In (88) ist Elke das erste Argument des Verbs und
Clara das zweite. Dies entspricht dem geordneten Paar <Elke,Clara>. Würde Clara
Elke kämmen, dann hätten wir ein anderes geordnetes Paar, und zwar <Clara,Elke>.
Die Bedeutung des zweistelligen Prädikats kämmt ist in (89) angegeben.
(89) · kämmt ‚S = { <x, y> : x kämmt y in s }
Der syntaktische Strukturbaum eines transitiven Satzes unterscheidet sich nur in einer
Hinsicht von dem eines intransitiven Satzes: die VP enthält auch noch die Objekt-NP.
Genau hierin unterscheidet sich auch die Interpretation des transitiven Satzes (88)
von der des intransitiven Satzes (77). Betrachten wir wieder zuerst die syntaktische
Struktur der VP, die das Subjekt, das Objekt und das (rechtsköpfige) Verb enthält
(s. Kap. 4.4.2).
204
5.4
Satzsemantik
(90) VP
N V’
N V
Elke Clara kämmt
Die Bedeutungen der einzelnen lexikalischen Ausdrücke sind in (91) angegeben.
(91) a. · [N Elke ] ‚S = Elke b. · [N Clara ] ‚S = Clara
c. · kämmt ‚ = { <x, y> : x kämmt y in s }
S
Zusammenfassend können wir festhalten, dass einstellige Verben Mengen von Individu-
en denotieren und zweistellige Verben Mengen von geordneten Paaren. Dreistellige
Verben wie geben denotieren dementsprechend eine Menge von geordneten Tripeln.
Prädikate können auch als Funktionen analysiert werden, die Individuen, geordnete
Paare von Individuen oder geordnete Tripel von Individuen auf einen Wahrheits-
wert abbilden.
205
5.4
Semantik
( ) ( )
(95) a. · lachen ‚S = Elke l1 b. · kämmen ‚S = <Elke,Clara> l
l
1
l
Clara <Clara,Elias>
Elias l0 <Elias,Clara> l0
…
Mit diesem Verfahren lässt sich auch die Bedeutung sog. Funktionswörter wie zum
Beispiel der Konjunktionen und und oder und der Satznegation nicht erfassen. Die
Bedeutung dieser Ausdrücke hängt nicht von Situationen ab. Die Satznegation in (96a)
ist eine Funktion, die die Wahrheitswerte 1 auf 0 und 0 auf 1 abbildet. Wenn der
Satz Elke schläft wahr ist, dann ist der Satz Elke schläft nicht falsch und umgekehrt.
Die Konjunktionen und und oder in (96b,c) verbinden zwei Sätze. Sie bilden Paare
von Wahrheitswerten auf einen Wahrheitswert ab. Der komplexe Satz Elke schläft
und Clara kämmt Elias ist nur dann wahr, wenn beide Teilsätze wahr sind. Sind die
Teilsätze durch oder verbunden wie in Elke schläft oder Clara kämmt Elias, dann ist
der komplexe Satz wahr, wenn mindestens ein Teilsatz wahr ist.
( )
( )
(96) a. · nicht ‚ = 0 l1 b. · und ‚ = < 1,1 > l1
1 l0 < 1,0 >
< 0,1 > l0
( )
c. · oder ‚ = < 1,1 > < 0,0 >
< 1,0 > l1
< 0,1 >
< 0,0 > l0
Man beachte, dass oder hier nicht als entweder…oder interpretiert wird, obwohl das
natürlichsprachliche oder oft wie ein entweder…oder interpretiert wird (exklusive
Disjunktion). Ähnliches gilt für die Negation nicht, mit der wir im Deutschen nicht nur
ganze Sätze negieren können, sondern auch Konstituenten (wie wir dies zum Beispiel
gerade in diesem Satz getan haben). Und nicht zuletzt hat auch die natürlichsprachliche
Konjunktion und Bedeutungsaspekte, die in (96b) nicht erfasst sind. In dem Satz Elke
ging ins Kino und sah sich La Dolce Vita an wird und wie und dort interpretiert (asym-
metrische Koordination). Für eine adäquate Analyse der natürlichsprachlichen Negation
gibt es viele Vorschläge (vgl. Jacobs 1982/1991). Dasselbe gilt für die Konjunktionen und
und oder. In Kapitel 6.3 wird ein pragmatischer Ansatz vorgestellt, der es ermöglicht,
die zusätzlichen Bedeutungen von und und oder mithilfe von sog. konversationellen
Implikaturen abzuleiten. Die Grundidee dieses Ansatzes ist, dass die spezifischere Be-
deutung von und zu einer Einengung der Bedeutung von oder führt. Ein komplexer
Satz wie (97b), der aus zwei mit und verbundenen Sätzen besteht, ist nach (96b) nur
dann wahr, wenn beide Teilsätze wahr sind. Im Gegensatz dazu ist der komplexe Satz
mit oder in (97a) auch dann wahr, wenn nur einer der beiden Teilsätze wahr ist (vgl.
(96c)). Wäre sich die Sprecherin von (97a) sicher gewesen, dass beide Teilsätze wahr
sind, dann hätte sie das eindeutigere und verwenden müssen. Hat die Sprecherin nun
aber wie in (97a) oder verwendet, kann der Hörer im Umkehrschluss davon ausgehen,
dass sie sich zumindest nicht sicher ist, dass beide Teilsätze wahr sind. Dadurch ergibt
sich die abgeleitete Interpretation als exklusive Disjunktion entweder ... oder.
(97) a. Jörg kauft einen alten Audi oder er least einen neuen Porsche.
b. Peter und Maria bekamen ein Kind und sie heirateten.
c. Maria machte »buh« und das Kind begann zu weinen.
d. Peter und Maria fuhren nach Italien und sie wurden glücklich.
206
5.4
Satzsemantik
Aufgabe 8:
a. A, B und C sollen beliebige einfache Sätze sein. Berechnen Sie mithilfe der
Funktionen in (96) die Wahrheitswerte folgender komplexer Sätze in Abhängigkeit
von den Wahrheitswerten der einfachen Sätze (die Klammer zeigt an, dass der
entsprechende Wahrheitswert zuerst berechnet werden muss): (i) A und B, (ii) A
oder B, (iii) A oder (B und C), (iv) (A oder B) und C, (v) nicht (A und B), (vi) nicht
(A oder B), (vii) A oder (nicht B).
b. Definieren Sie eine Situation mit den vier Individuen Marie, Tine, Hans und
Martin und den drei Prädikaten schnarchen, schwimmen und besuchen und be-
rechnen Sie dann die Wahrheitswerte folgender Sätze auf Grundlage der jeweiligen
syntaktischen Strukturen: (i) Martin schnarcht. (ii) Marie besucht Hans. (iii) Tine
schnarcht oder Hans schwimmt. (iv) Marie schwimmt nicht. (v) Hans besucht
Martin und Marie schwimmt.
207
5.4
Semantik
Literatur
Grundlegende Literatur
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5.4
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209
5.4
Semantik
210
5.4
Literatur
Markus Steinbach
211
6.1
6 | Pragmatik
6.1 | Einleitung
Die Pragmatik gehört nicht zu den Gebieten, mit denen sich die Linguistik traditionell
befasst hat – Phonetik/Phonologie, Morphologie, Syntax und etwas Semantik, das
waren traditionell die Arbeitsfelder der Linguistik. So ist es nicht verwunderlich, dass
nahezu alle wichtigen Impulse zur Herausbildung der Pragmatik als Teildisziplin der
Linguistik von außerhalb der Linguistik kamen, nämlich aus der Philosophie vor allem,
aber auch aus der Soziologie und der Psychologie. Dieser Prozess der Konstituierung
der Pragmatik als Teildisziplin hat erst im 20. Jahrhundert begonnen und kann noch
nicht als abgeschlossen betrachtet werden.
Die Pragmatik befasst sich allgemein mit der Tatsache, dass Sätze von Personen
mit Überzeugungen, Wünschen und Absichten in konkreten Situationen geäußert
werden, an andere Personen mit Überzeugungen, Wünschen und Absichten gerichtet
sind und in Zusammenhang stehen mit bereits erfolgten und sich anschließenden
Äußerungen. Genauer gehören zur Pragmatik
Q die Aspekte der Interpretation von sprachlichen Äußerungen, die vom Kontext
der Äußerung abhängen,
Q die (kommunikativen) Funktionen, die sprachliche Äußerungen haben, sowie
Q strukturelle Aspekte von Texten und Gesprächen.
(Als neuere umfassende Einführungen in die Pragmatik bzw. Handbücher und Enzy-
klopädien zur Pragmatik vgl. Verschueren et al. 2000, Meibauer 2001, Mey 2001,
Schiffrin et al. 2001, Horn/Ward 2004, Mey 2009, Cummings 2010, Allan/Jaszczolt
2012, Birner 2013, Sbisà/Turner 2013, Huang 2014 und Finkbeiner 2015.)
212
6.2
Deixis und Anapher
Bei ich und du handelt es sich um Ausdrücke, die deiktisch verwendet wer-
den können, d. h. deren Referenz durch Bezug auf Aspekte der Äußerungssituation
bestimmt werden kann. (Mit einer nicht-deiktischen Verwendung von du hat man
es zum Beispiel zu tun in Wenn du in eine solche Situation kommst, dann weißt du
nicht mehr, was du tun sollst, wo du soviel wie man bedeutet.)
Wir und ihr, die pluralen Gegenstücke zu ich und du, werden auch deiktisch
verwendet, weisen aber eine größere Verwendungsvielfalt auf. Abgesehen vom
Pluralis Majestatis – bei dem eine Person nicht mit ich, sondern mit wir auf sich
referiert – bezeichnet wir eine Gruppe von Personen. In dem speziellen Fall, wo
mehrere Leute einen Text geschrieben haben, kann wir ausschließlich die ›Sprecher‹
bezeichnen. Doch der Normalfall ist, dass wir eine Gruppe bezeichnet, die den
Sprecher sowie zusätzlich den Adressaten und gegebenenfalls noch andere Perso-
nen umfasst (inklusives wir) oder aber neben dem Sprecher noch andere Personen
umfasst, zu denen der Adressat nicht gehört (exklusives wir). Eine weitere spezielle
Verwendung von wir liegt in dem Fall vor, wo nur auf den bzw. die Adressaten Bezug
genommen wird (Wollen wir nicht doch noch ein Löffelchen zu uns nehmen?, Sind
wir jetzt endlich soweit?).
Ihr bezeichnet den bzw. die Adressaten und gegebenenfalls noch weitere Per-
sonen. Das höfliche, distanzierende Sie bezeichnet entweder genau wie du den Adres-
saten oder wie ihr den bzw. die Adressaten und gegebenenfalls noch weitere Perso-
nen.
Die Personaldeixis, d. h. die Referenz auf Sprecher/Adressat (das »Personal«
der Äußerung) und ggf. weitere Personen, lässt sich im Deutschen damit in ihrer
Kernverwendung wie folgt aufschlüsseln (vgl. Zifonun et al. 1997, 316 ff.):
(1) Sprecherdeixis ich Sprechergruppendeixis wir
Hörerdeixis Hörergruppendeixis
Balanceform du Balanceform ihr
Distanzform Sie Distanzform Sie
Manchmal spricht man bei einem solchen Unterschied wie zwischen der Balance-
form und der Distanzform von »Sozialdeixis« (Fillmore 1997, 61; Levinson 2000a,
§ 2.2.5).
Auch mit einem Demonstrativ wie dieser, diese, dieses kann man deiktisch
auf etwas Bezug nehmen. Wenn bei einem Gespräch im Büro der Ausdruck dieser
Computer gebraucht wird, so kann für alle Beteiligten unmittelbar klar sein, welcher
von den zigmillionen Computern auf der Welt gemeint ist – nämlich der Computer,
der für alle sichtbar im Büro steht. Die Person, die den Ausdruck dieser Computer
gebraucht hat, kann, aber muss nicht mit einer verdeutlichenden Geste auf den
Computer zeigen. Eine solche Zeigegeste kann notwendig werden, wenn mehrere
Computer in dem Zimmer stehen. Mit dem Ausdruck dieser kann man zu verstehen
geben, dass der Referent in dem Raum lokalisiert ist, der in der Äußerungssituation
Sprecher und Adressat unmittelbar perzeptuell zugänglich ist. Diese situativ-deiktische
Verwendung ist wohl die primäre Verwendungsweise von Demonstrativen (zu anderen
Verwendungen von Demonstrativen und Deiktika allgemein s. Kap. 6.2.3).
In vielen Sprachen unterscheiden sich Demonstrative darin, ob sie anzeigen,
dass der Referent im Raum der Äußerungssituation nahe bei Sprecher und/oder
Adressat ist (proximale Demonstrative), oder anzeigen, dass der Referent weiter
213
6.2
Pragmatik
weg von Sprecher und/oder Adressat ist (distale Demonstrative). Dieser scheint
entfernungsneutral zu sein (Himmelmann 1997, 53–62; Diessel 1999, 38; anderer
Meinung sind Zifonun et al. 1997, 324). Es gibt allerdings das nicht sehr gebräuch-
liche jener, das ein distales Demonstrativ ist und sich mit dieser so kombinieren
lässt, dass ein Kontrast zwischen nah und fern angezeigt werden kann: Ich möchte
dieses, aber nicht jenes.
Zur Objektdeixis gehören im Deutschen neben den Demonstrativen dieser,
diese, dieses und jener, jene, jenes auch der demonstrativ verwendete und dabei meist
betonte definite Artikel der, die, das sowie betontes er und sie. Interessanterweise kann
es nicht demonstrativ verwendet werden: Der Satz Nicht jenes Kind ist krank – ES ist
krank ist ungrammatisch (die Großschreibung ES zeigt an, dass das Wort betont ist).
Von den eben betrachteten Demonstrativen ist es ein kurzer Schritt zur Lokal-
deixis, d. h. zu deiktischen Ausdrücken, die Orte bezeichnen, die in einem bestimmten
Verhältnis zum Ort der Äußerung des lokaldeiktischen Ausdrucks stehen: hier, da,
dort. (Es sei angemerkt, dass in der Literatur oft – wie in Levinson (2000a, § 2.2.3)
– das, was hier Objektdeixis genannt wird, zur Lokaldeixis gerechnet wird.)
Das Lokaladverb hier kann einmal den Ort der Äußerung bezeichnen bzw.
genauer: einen Ort, der den Ort der Äußerung mit einschließt. Bei dieser Verwen-
dung von hier kann der bezeichnete Ort unterschiedlich groß sein (vgl. Klein 1978):
Sagt jemand im Musikzimmer seines Hauses Hier fühle ich mich wohl, können wir
uns leicht Situationen vorstellen, in denen mit hier verschiedenes gemeint ist – das
Musikzimmer (im Unterschied zum Rest des Hauses), das Haus (im Unterschied zur
Umgebung), die Stadt (im Unterschied zu anderen Städten) usw.
Hier kann aber auch demonstrativ verwendet werden, wenn auf einen Ort
in der Nähe des Sprechers Bezug genommen wird. Dann steht es als proximales
Demonstrativ im Kontrast zum medialen da und dem distalen dort (manchmal wird
allerdings auch dafür argumentiert, dass da entfernungsneutral ist, vgl. Ehrich 1992,
Kap. 2). Wenn wir in Berlin auf dem Pariser Platz (vor dem Brandenburger Tor) ste-
hen, können wir zum Beispiel zu unserem Besuch sagen: Hier ist das Brandenburger
Tor, da das Reichstagsgebäude und dort das Bundeskanzleramt.
Schließlich gibt es noch die Temporaldeixis mit jetzt im Zentrum, das den
Zeitraum bezeichnet, zu dem gesprochen wird, bzw. einen Zeitraum, der den Sprech-
zeitraum umfasst. Einst und einmal bezeichnen Zeiträume, die weit entfernt vom
Sprechzeitraum in der Zukunft (Das wird einst (/einmal) gelöst werden) oder in der
Vergangenheit liegen (Das war einst (/einmal) ganz anders). Zur Temporaldeixis ge-
hören auch metrische Ausdrücke wie heute, morgen, übermorgen, gestern, vorgestern
etc., die einen Tag bezeichnen, der in einem bestimmten Verhältnis steht zu dem Tag,
an dem das Wort jeweils verwendet wurde.
Eine kleine Korrektur ist anzubringen. Bei der Lokal- und Temporaldeixis
handelt es sich nicht wirklich um Ausdrücke, die Zeiten bzw. Orte bezeichnen (auch
wenn dies oft so gesagt wird). Es handelt sich bei ihnen um prädikative Ausdrücke,
die ausdrücken, dass etwas an einem bestimmten Ort ist bzw. zu einer bestimmten
Zeit stattfindet. Ich bin hier heißt »Ich bin an einem bestimmten Ort« und nicht
»Ich bin ein bestimmter Ort« oder Das war gestern heißt »Das war an dem Tag vor
dem Tag der Äußerung« und nicht: »Das war der Tag vor dem Tag der Äußerung«.
Damit handelt es sich nur bei Nominalphrasen mit Personal- bzw. Objektdei-
xis um referierende Ausdrücke, bei Temporal- und Lokaldeixis handelt es sich um
214
6.2
Deixis und Anapher
6.2.2 | Anaphern
Die typische Anapher ist ein Pronomen, mit dem auf ein Objekt Bezug genommen
wird, auf das bereits vorher in der Rede mit einem anderen Ausdruck – dem Ante-
zedens der Anapher – Bezug genommen wurde. Ein Beispiel:
(2) Hier sehen Sie das Reichstagsgebäude. Im Jahre 1999 hat es diese große Glaskuppel
bekommen.
Mit der Anapher es wird der Referent von das Reichstagsgebäude wieder aufge-
nommen. Das Reichstagsgebäude ist das Antezedens der Anapher. Es gibt aber auch
Anaphern, deren Antezedens in der Rede auf die Anapher folgt – dann redet man
von einer Katapher.
(3) Wie viel an ihm auch immer auszusetzen ist, selbst die schärfsten Kritiker stellen nicht
in Frage, dass es die bleibende Leistung von Grice ist, den Bereich der Implikaturen für
die Sprachtheorie entdeckt zu haben.
Im Deutschen werden die Personalpronomina der dritten Person Singular (er, sie, es)
und Plural (sie) als die ›eigentlichen‹ Anaphern bezeichnet. Daneben gibt es noch die
›syntaktischen‹ Anaphern: das Reflexivpronomen sich und das Reziprokpronomen
einander (zu Anaphern (und Deixis) vgl. u. a. Ehlich 1982, Bosch 1983 und Zifonun
et al. 1997, 544 ff.).
215
6.3
Pragmatik
Es ist ganz natürlich, mit der Anapher er auf den Anwalt Bezug zu nehmen; mit dem
anaphorisch verwendeten Demonstrativpronomen der jedoch kann nur der Klient
gemeint sein.
6.3 | Implikaturen
6.3.1 | Was sind Implikaturen?
Stellen wir uns vor, ein Student der Germanistik – nennen wir ihn Eduard – besucht
eine Fete, auf der er nur sehr wenige Leute kennt. Da kann es passieren, dass jemand
auf ihn zukommt – zum Beispiel Ottilie – und ihn fragt Und wie heißt du? Wenn
Eduard nun antwortet Ich glaube, Eduard, so wird Ottilie ob dieser Antwort sehr
verdutzt sein. Was ist das für ein komischer Vogel? Der kennt seinen eigenen Namen
nicht! Das kann doch nicht sein! Ottilie wird sich auf alle Fälle zu vergewissern ver-
216
6.3
Implikaturen
Auch wenn die Wortwahl Ich glaube … für das Entstehen der Implikatur entscheidend
ist, hängt diese Implikatur nicht an diesen speziellen Worten. Auch Worte, die etwas
ganz Ähnliches besagen, können die Implikatur auslösen – vgl. Ich meine mich zu er-
innern, dass in der nächsten Woche eine Fakultätssitzung stattfindet. Jedoch in Sätzen
wie Ich glaube das nicht nur, ich weiß es sogar kommt es nicht zu einer entsprechenden
Implikatur – in einem solchen Fall wird die Implikatur annulliert (engl. ›cancelled‹).
Schauen wir uns jetzt drei weitere Beispiele für Implikaturen, genauer: konver-
sationelle Implikaturen, an. Wenn Eduard als Fachschaftsvertreter in der Fakultäts-
217
6.3
Pragmatik
sitzung die Feststellung trifft An dieser Universität kommen einige Professoren vor-
bereitet in ihre Seminare, so wird er sich unter der Professorenschaft nicht unbedingt
Freunde machen. Warum? Weil er damit zu verstehen gibt, dass er der Ansicht ist,
dass keineswegs alle Professoren vorbereitet in ihre Seminare kommen. Er gibt dies
zu verstehen, explizit gesagt hat er es aber nicht. Auch diese Implikatur kann man
annullieren: Hätte Eduard gesagt An dieser Universität kommen einige Professoren
vorbereitet in ihre Seminare. Vielleicht sind aber auch alle vorbereitet – das kann ich
noch nicht so genau sagen, so würde er nicht nahelegen, dass er der Ansicht ist, dass
nicht alle Professoren vorbereitet in ihre Seminare kommen.
Eine Schiffsfahrt. Den Kapitän ärgert es gewaltig, dass der Schiffsmaat so häufig
betrunken ist. Als der Kapitän Wache hat und der Maat mal wieder über das Deck
torkelt, schreibt der Kapitän ins Logbuch: Heute, 23. März, ist der Maat betrunken.
Damit würde der Maat am Ende der Reise eine Ordnungsstrafe bekommen. Als der
Maat nun einige Tage später Wache hat, sieht er den Eintrag und überlegt, wie er
sich rächen könnte, ohne sich weiter zu kompromittieren. Er schreibt ins Logbuch:
Heute, 27. März, ist der Kapitän nicht betrunken (dieses schöne Beispiel findet sich
in Posner 1979). Ein genialer Schachzug des Maats! Er hat nichts ins Logbuch ge-
schrieben, was falsch wäre – der Kapitän ist ja in der Tat nicht betrunken. Aber da
im Logbuch normalerweise nur besondere Vorkommnisse vermerkt werden, muss der
Eintrag des Maats beim Leser den Eindruck erwecken, dass es etwas Besonderes ist,
dass der Kapitän nicht betrunken ist, dass der Kapitän also sonst meistens betrun-
ken ist. Auch diese Implikatur (dass der Kapitän meistens betrunken ist) lässt sich
wieder annullieren. Hätte der Maat ins Logbuch geschrieben Heute, 27. März, ist
der Kapitän nicht betrunken. Er ist so nüchtern wie an allen anderen Tagen auch, so
würde es nicht zu der Implikatur kommen. Man würde sich als Leser jetzt nur fragen,
warum er dies überhaupt ins Logbuch geschrieben hat (und erwägt vielleicht, ob man
den zweiten Satz nicht als eine ironische Äußerung verstehen soll – zur Ironie siehe
unten).
Auch der folgende Minidialog enthält eine Implikatur. A befindet sich auf einer
Autofahrt, als ihm plötzlich das Benzin ausgeht und er am Straßenrand anhalten
muss. Glücklicherweise befindet er sich in einer größeren Stadt und nicht auf dem
platten Land. Und glücklicherweise kommt auch gerade jemand vorbei, nämlich B.
A sagt zu B: »Mir ist das Benzin ausgegangen« und B antwortet: »Gleich um die
Ecke gibt es eine Tankstelle.« Wir verstehen B ganz automatisch so, dass er damit
zu verstehen gibt, dass sich A an dieser Tankstelle mit Benzin versorgen kann. Aber
explizit gesagt hat er das nun nicht (wenn sich heraustellt, dass B gewusst hat, dass
die Tankstelle aus Benzinmangel nicht geöffnet ist, so hat er A irregeführt, ohne A
angelogen zu haben)! Dass sich A an der Tankstelle mit Benzin versorgen kann, ist
eine konversationelle Implikatur, zu der man nur durch die Kenntnis der spezifischen
Situation gelangt, in der die Äußerung getan wurde.
218
6.3
Implikaturen
Dieses sehr allgemein gehaltene Prinzip ergänzt Grice durch eine Reihe von Maxi-
men, Konversationsmaximen genannt (ebd., 26–30). Da ist zuerst die Qualität des
Gesprächsbeitrags, die die Wahrhaftigkeit betrifft. Es gibt eine Obermaxime und
zwei Untermaximen:
Obermaxime: Versuche einen wahren Gesprächsbeitrag zu machen!
1. Sage nichts, was du für falsch hältst!
2. Sage nichts, wofür du keine adäquaten Evidenzen hast!
Die Obermaxime und die erste Untermaxime habe ich verletzt, wenn ich einem
Ortsunkundigen auf seine Frage nach dem Bahnhof den Weg zum Schwimmbad
schildere und diesen Weg in voller Absicht und wahrheitswidrig als den Weg zum
Bahnhof ausgebe. Eine glatte Lüge meinerseits also! Die Obermaxime und die zweite
Untermaxime habe ich verletzt, wenn ich den Weg zum Bahnhof nicht so genau kenne,
dem Frager aber einen Weg angebe und ihn nicht davon in Kenntnis setze, dass ich
mir da nicht so sicher bin.
Man beachte, dass man nicht gegen die Maximen der Qualität verstoßen hat,
wenn man im besten Wissen und Gewissen etwas gesagt hat, was sich (später) als
falsch herausstellt, wenn man sich also geirrt hat. Qualität fordert nicht von uns:
»Sage nur Wahres!«, sondern: »Versuche nur Wahres zu sagen!«
Da sind weiterhin die Maximen der Quantität, die das ›Quantum‹ an Informa-
tion betreffen, das man durch seinen Gesprächsbeitrag bereitstellt:
1. Mache deinen Beitrag so informativ wie erforderlich!
2. Mache deinen Beitrag nicht informativer als erforderlich!
Wenn mich jemand fragt Wie komme ich zum Bahnhof? und ich ihm antworte Indem
Sie zum Bahnhof laufen, so habe ich zwar die Information geliefert, dass man zum
Bahnhof laufen kann, aber nicht den Weg angegeben, auf dem man zum Bahnhof
gelangen kann. Doch diese Information wäre in dieser Situation erforderlich gewe-
sen, um sich kooperativ zu verhalten. Also habe ich die erste Maxime der Quantität
verletzt. Wenn ich nun aber umgekehrt dem Ortsunkundigen nicht nur den genauen
219
6.3
Pragmatik
Weg schildere, indem ich ihm die am Weg liegenden markanten Gebäude und Plätze
prägnant beschreibe, sondern auch noch bei den einzelnen Bauten den Architekturstil
mit seinen Besonderheiten erkläre, so liefere ich zu viel Information als Reaktion auf
eine einfache Frage nach dem Weg zum Bahnhof – ich habe die zweite Maxime der
Quantität verletzt. Die beiden Quantitätsmaximen zusammen stellen sicher, dass man
genau so viel an Information beiträgt, wie erforderlich ist.
Was genau in einer Gesprächssituation an Information erforderlich ist und
was nicht, ist wohl kaum präzise anzugeben, zumal verschiedene Leute in ein und
derselben Gesprächssituation durchaus Unterschiedliches für erforderlich halten
und respektable Gründe dafür ins Feld führen können: ›Erforderlich‹ ist ein vager
Begriff, doch deswegen ganz und gar kein unnützer Begriff. In vielen Fällen können
wir sehr sicher beurteilen, ob die erforderliche Information geliefert wurde und ob
gegebenenfalls mehr als die erforderliche Information geliefert wurde.
Relevant soll ein kooperativer Gesprächsbeitrag natürlich auch sein – Grice
spricht hier von der Maxime der Relation (er lehnt sich in der Wahl seiner Termini
an die Termini der Urteils- und Kategorientafel von Kant in der Kritik der reinen
Vernunft an, womit er wohl andeuten will, dass seine Maximen so wie die Kategorien
und Urteilsformen Kants für die Rationalität von grundlegender Bedeutung sind).
Maxime der Relation: Sei relevant!
Gegen diese Maxime würde ich verstoßen, wenn ich dem Ortsunkundigen auf dessen
Frage nach dem Bahnhof mit der Mitteilung der neuesten Börsenkurse antwortete –
diese sind für das Ziel des Gesprächs nicht relevant.
Schließlich gibt es noch ein Paket von Maximen, die Grice Maximen der
Art und Weise (»maxims of manner«) nennt:
Obermaxime: Drücke dich deutlich aus!
1. Vermeide ungeläufige Ausdrücke!
2. Vermeide Ambiguitäten!
3. Fasse dich kurz! (Vermeide unnötige Weitschweifigkeit!)
4. Gehe geordnet vor!
Gegen die Obermaxime und die vierte Untermaxime würde ich verstoßen, wenn ich
bei meiner Schilderung des Weges zum Bahnhof die einzelnen Stationen nicht eine
nach der anderen beschreiben, sondern vor- oder zurückzuspringen würde.
Versucht man, diese Maximen in einem Satz prägnant zusammenzufassen, so
könnte man sagen: Willst du ein Gespräch rational führen, so sei aufrichtig, drücke
dich deutlich aus und liefere hinreichende und relevante Information!
Nun ist sich Grice völlig darüber im Klaren, dass diese Maximen häufig verletzt
werden: Wir fühlen uns manchmal gezwungen zu lügen, wir sind oft weitschweifig
oder drücken uns nicht klar aus. Doch widerlegt dies die Maximen nicht, da es sich
bei ihnen nicht um deskriptive Generalisierungen handelt, sondern um normative
Prinzipien und Maximen, genauer: um Rationalitätsstandards. Nicht nur ist sich Grice
darüber im Klaren, dass die Konversationsmaximen häufig verletzt werden, er hat
auch erkannt, dass wir Konversationsmaximen hin und wieder gezielt verletzen, um
dadurch bestimmte Effekte zu erzielen, genauer, um dadurch bestimmte Implikaturen
auszulösen. Dazu gleich mehr. Es ist auch zu beachten, dass Rationalität (»Willst du
ein Gespräch rational führen …«) nur eine unter mehreren Dimensionen (soziale,
ethische, ästhetische …) ist, die Gespräche aufweisen können.
220
6.3
Implikaturen
B legt mit seiner Äußerung ganz offensichtlich nahe, dass sich A an dieser Tankstelle
mit Benzin versorgen kann. Es sieht alles danach aus, dass B kooperativ ist und auf
die Notlage von A hilfreich reagiert. Nun ist seine Äußerung aber nur dann relevant
in Bezug auf die Notlage von A, wenn sich A an der Tankstelle mit Benzin versorgen
kann. B tut nichts, was dieser Überlegung widersprechen würde. Also kann man
sagen, dass auf der Grundlage der Maxime der Relation die Äußerung von B in dem
gegebenen Kontext zu der Implikatur führt, dass sich der Adressat der Äußerung an
dieser Tankstelle mit Benzin versorgen kann.
Nach Grice kann man ein Schema für einen Schlussprozess ausfindig machen,
wie der Adressat einer Äußerung eine Implikatur erschließen kann (vgl. die Eigen-
schaft der Kalkulierbarkeit unten). Betrachten wir dazu nochmals das Benzin-Bei-
spiel:
(7) B hat gesagt, dass gleich um die Ecke eine Tankstelle ist. Allem Anschein nach verhält
sich B kooperativ. Doch nur wenn B denkt, dass ich mich dort mit Benzin versorgen
kann, folgt er der Maxime der Relation. Nun weiß B (und ich weiß, dass er weiß), dass
ich erkennen kann, dass die Annahme, dass er denkt, dass ich mich dort mit Benzin ver-
sorgen kann, erforderlich ist, damit seine Äußerung kooperativ war. B hat nichts getan,
um mich davon abzuhalten, zu glauben, dass ich mich dort mit Benzin versorgen kann.
B beabsichtigt offensichtlich, dass ich glaube, dass ich mich dort mit Benzin versorgen
kann. Folglich »implikatiert« B konversationell, dass ich mich dort mit Benzin versorgen
kann.
(»Implikatieren« ist die Übersetzung des Terminus, den Grice geprägt hat für das,
was bisher einfach ›Nahelegen‹ genannt wurde.) Das allgemeine Schema sieht wie
folgt aus:
(8) Schema für die Erschließung einer konversationellen Implikatur (durch den Adressaten)
i B hat gesagt, dass p.
ii Man kann annehmen, dass B die Maximen oder zumindest doch das KP beachtet.
iii Nur wenn B denkt, dass q, folgt er den Maximen bzw. dem KP.
iv B weiß (und ich weiß, dass er weiß), dass ich erkennen kann, dass die Annahme,
dass er denkt, dass q, erforderlich ist, wenn er das KP beachten will.
v B hat nichts getan, um mich davon abzuhalten, zu glauben, dass q.
vi B beabsichtigt, dass ich glaube, dass q.
vii Also implikatiert B konversationell, dass q.
221
6.3
Pragmatik
zusätzlich zu der Geldstrafe auch noch eine Haftstrafe bekommen hätte, so hätte B
dies auch sagen müssen – ansonsten hätte er einen irregeführt. Daraus, dass er nicht
mehr gesagt hat als das, was er gesagt hat, leiten wir unsere Schlussfolgerung ab. Hier
ist offensichtlich eine Maxime der Quantität im Spiel, und zwar die erste (»Mache
deinen Beitrag so informativ wie erforderlich!«). Im Zusammenspiel mit der Annahme,
dass B den Maximen der Qualität folgt, werde ich schließen, dass er alles das gesagt
hat, was erforderlich ist und von B für wahr gehalten wird. Aufgrund der Maximen
der Qualität und der Quantität führt die Äußerung von B in diesem Kontext also zu
der Implikatur, dass Harry keine Haftstrafe bekommen hat.
Kommen wir auf das Beispiel mit der Fakultätssitzung zurück:
(10) A: Wann findet die nächste Fakultätssitzung statt?
B: Ich glaube, dass in der nächsten Woche eine Fakultätssitzung stattfindet.
Wie kommt es zu der Implikatur, dass sich B seiner Sache nicht so sicher ist? A kann
und wird in aller Regel aus der Äußerung von B den Schluss ziehen, dass B sich sei-
ner Sache nicht ganz sicher ist, denn, wäre er sich seiner Sache sicher, dann hätte er
sich nicht so vorsichtig ausgedrückt, indem er sagte Ich glaube. Genau diese intuitiv
ganz plausible Erklärung ist es, die Grice versucht, präzise zu machen. Und zwar
folgendermaßen. Durch die Frage von A ist die Richtung des Gesprächs vorgegeben,
einem Gespräch, das dem Informationsaustausch dient. Es wird eine Antwort erbe-
ten. Es herrscht in diesem Punkt Einvernehmen, insofern B die Frage als statthaft
akzeptiert und nicht etwa brüsk reagiert mit Was fragst du mich das? A wird erst
einmal davon ausgehen, dass sich B mit seiner Antwort kooperativ verhält. In der Tat
sind die Maximen der Art und Weise ja erfüllt und auch der Maxime der Relation
ist Genüge geleistet. Jedoch ist A klar, dass B nicht die Information liefert, die erfor-
derlich ist – B sagt ja nicht, wann die Fakultätssitzung stattfindet. Also verletzt B die
erste Maxime der Quantität. Wenn B aber trotzdem kooperativ ist, muss er einen
rationalen Grund gehabt haben, eine Formulierung zu wählen, die eine Maxime
verletzt. Der Grund kann mit Blick auf die Konversationsmaximen nur darin liegen,
dass er die Maximen der Qualität einhalten wollte, also insbesondere nichts sagen
wollte, wofür er keine adäquaten Evidenzen hat. Kurz: Wenn B kooperativ ist, dann
hat er sich so verhalten, wie er sich verhalten hat, weil er sich nicht sicher ist, wann
die nächste Sitzung stattfindet. So lässt sich also mit dem Kooperationsprinzip und
den Konversationsmaximen die Implikatur ableiten, dass B nicht weiß oder sich nicht
sicher ist, wann die nächste Sitzung stattfindet.
Nach demselben Strickmuster kann man à la Grice auch das Entstehen der
Implikatur in (11) erklären.
(11) An dieser Universität kommen einige Professoren vorbereitet in ihre Seminare.
+> An dieser Universität kommen nicht alle Professoren vorbereitet in ihre Seminare.
Der alles entscheidende Punkt ist wieder, dass der Adressat weiß, dass es informativer
gewesen wäre (der Adressat wüsste genauer Bescheid, wie es mit dem Arbeitseifer
der Professorenschaft steht), wenn Eduard gesagt hätte: »An dieser Universität
kommen alle Professoren vorbereitet in ihre Seminare.« Wenn er kooperativ ist,
dann hat er dies nicht gesagt, weil er die Qualitätsmaxime nicht verletzen wollte.
Also implikatiert er, dass nicht alle vorbereitet sind bzw. dass er sich nicht sicher
ist, ob alle vorbereitet sind.
222
6.3
Implikaturen
Vorerst letztes Beispiel: Wenn die Eltern mit den Kindern beim Einkaufen sind,
der eine Elternteil vorschlägt, noch etwas zum Naschen für die Kinder mitzunehmen,
und der andere Elternteil antwortet: »Aber nicht ›E‹ ›I‹ ›S‹!«, dann verstößt er gegen
die Ober- und die erste Untermaxime der Art und Weise. Er implikatiert aber damit,
dass, wenn die Kinder das Wort Eis hören, sie nichts anderes als Eis wollen.
Aufgabe 1:
a. Aufgrund welcher Maxime wird durch die Äußerung Heute, 27. März, ist der
Kapitän nicht betrunken die Implikatur »Der Kapitän ist meistens betrunken«
hervorgerufen?
b. Stellen Sie detailliert dar, aufgrund welcher Maximen es bei unserem Ausgangs-
beispiel – Eduard antwortet auf die Frage nach seinem Namen mit Ich glaube,
Eduard – zu der Implikatur kommt, dass sich Eduard nicht sicher ist, wie er heißt.
c. Aufgrund welcher Maximen kommt es bei den folgenden Antworten zu welchen
Implikaturen? (i) A: Wo ist Sabine? B: Ich habe sie heute noch nicht gesehen. (ii)
A: Wie viele Eigentore hast du geschossen? B: Ich habe ein Eigentor geschos-
sen. (iii) A und B sind zusammen am Arbeiten. A: Kann ich die Leiter haben?
B: Ich brauche sie nicht.
konventionelle konversationelle
generalisierte partikularisierte
Eine konventionelle Implikatur liegt nach Grice in dem folgenden Beispiel vor: Sie
ist Engländerin – folglich trinkt sie am liebsten deutschen Wein. Jemand, der diese
Äußerung macht, tut damit kund, dass er der Ansicht ist, dass bei der betreffenden
Person das Trinken von deutschem Wein eine Konsequenz davon ist, dass sie Eng-
länderin ist. Dass er dies kundtut, ergibt sich aus der konventionellen Bedeutung des
Wörtchens folglich. Doch würde man – so Grice – die Äußerung nicht falsch nennen
können, wenn der besagte Zusammenhang zwischen Deutschen-Wein-Trinken und
Engländerin-Sein nicht besteht, die betreffende Person aber gleichwohl Engländerin
223
6.3
Pragmatik
ist und am liebsten deutschen Wein trinkt. Das heißt, es wäre merkwürdig, auf die
obige Äußerung mit Falsch! zu reagieren, wenn man glaubte, dass die betreffende
Person eine Engländerin ist, die am liebsten deutschen Wein trinkt, und man nur zu
verstehen geben wollte, dass man keinen Zusammenhang sähe zwischen Deutschen-
Wein-Trinken und Engländerin-Sein. Also »sagt« jemand, der die obige Äußerung
tut, nicht, dass ein solcher Zusammenhang besteht, er »implikatiert« ihn. Da die
Implikatur durch die konventionelle Bedeutung eines Wortes induziert wird, handelt
es sich um eine konventionelle und nicht um eine konversationelle Implikatur.
Bei den konversationellen Implikaturen kommen – im Unterschied zu den
konventionellen – das KP und die Konversationsmaximen ins Spiel. Fast alle bisher
betrachteten Implikaturen waren Konversationsimplikaturen. Diese unterscheiden sich
nach Grice dadurch, wie sie entstehen. Konversationsimplikaturen können entstehen
Q wenn die Maximen beachtet werden,
Q wenn zwei Maximen in Widerstreit liegen oder
Q wenn Maximen »ausgebeutet« werden, d. h. ganz ostentativ missachtet werden,
um auf indirekte Weise etwas ganz Bestimmtes zu verstehen zu geben.
Das Tankstellen-Beispiel (6) und das Maat-Beispiel sind Beispiele dafür, wie eine
Implikatur dadurch entsteht, dass der Adressat annimmt, dass die Maximen beachtet
werden. Das Fakultätsbeispiel (10) ist ein Beispiel dafür, wie eine Implikatur dadurch
entsteht, dass zwei Maximen – die erste Maxime der Quantität (Mache deinen
Beitrag so informativ wie erforderlich!) und die zweite Untermaxime der Qualität
(Sage nichts, wofür du keine adäquaten Evidenzen hast!) – im Widerstreit liegen. A
wird annehmen, dass B so informativ gewesen ist, wie er kann, ohne unaufrichtig
zu sein – also nicht genau weiß, wann die nächste Fakultätssitzung stattfinden wird.
Am Ausgang des Widerstreits sieht man übrigens, dass die Qualitätsmaxime stärker
gewichtet wird als die Quantitätsmaxime, denn B hat sich in diesem Widerstreit für
die Befolgung der Qualitäts- und die Verletzung der Quantitätsmaxime entschieden.
Ostentativ verletzt wird die Maxime der Quantität, wenn ein Professor an eine
Auswahlkommission ein Gutachten über eine seiner (deutschen) Doktorandinnen
schreibt, das den folgenden Inhalt hat: »Sehr geehrte Damen und Herren, Frau X
schreibt ein fehlerloses Deutsch und kam immer pünktlich in meine Sprechstunde.
Ihr Y.« Hier ist in offensichtlicher Weise die erste Maxime der Quantität verletzt
worden mit der Absicht, der Kommission zu verstehen zu geben, dass die Bewerberin
ungeeignet ist, d. h. der Professor beutet die erste Maxime der Quantität aus, um bei
den Adressaten eine bestimmte Implikatur hervorzurufen. Betrachtet man nur das,
was der Professor »gesagt« hat, so sieht es aus, als wenn er unkooperativ wäre – man
erwartet von ihm eine Einschätzung der Kandidatin in Bezug auf die Eigenschaften,
die für die Auswahl der Kommission relevant sind; doch auf der Ebene dessen, was
der Professor konversationell implikatiert, ist er voll kooperativ: Er gibt eine Bewer-
tung der Kandidatin ab.
In Arbeitszeugnissen wird von der Möglichkeit der Maximenausbeutung oft
in weniger drastischer Art und Weise Gebrauch gemacht: Werden Fähigkeiten einer
Person, die für ihren Beruf einschlägig sind, im Zeugnis nicht thematisiert, so wird
ein Leser des Zeugnisses, etwa ein Personalchef, daraus den Schluss ziehen, dass die
Person diese Fähigkeiten nur sehr schlecht beherrscht – er wird dies also als Aus-
beutung der ersten Quantitätsmaxime durch den Verfasser des Zeugnisses deuten.
224
6.3
Implikaturen
Auch kann in Arbeitszeugnissen der Umstand, dass das Verhalten zu den Kollegen,
aber nicht zu den Vorgesetzten thematisiert wird, oder der Umstand, dass ein Passus
fehlt, in dem das Bedauern über das Ausscheiden des Mitarbeiters ausgedrückt wird,
entsprechend gedeutet werden.
Auch bei Ironie und Metapher werden nach Grice Maximen verletzt – nämlich
die erste Maxime der Qualität. Nehmen wir an, X hat geheime Unterlagen von A,
den er gut kannte, an die Konkurrenz verraten und A und B wissen das. Wenn nun A
zu B sagt X ist ein feiner Freund!, dann ist B klar, dass A mit dieser Äußerung nicht
der ersten Maxime der Qualität (Sage nichts, was du für falsch hältst!) folgt und dies
aber auch nicht vortäuschen will, sondern B zu einer Implikatur veranlassen möchte.
Es liegt nahe, dass A das Gegenteil dessen implikatiert, was er gesagt hat. Auch eine
Äußerung von Eduard Ottilie gegenüber wie Du bist das Sahnehäubchen auf meinem
Kaffee kann die Adressatin unmöglich wörtlich als eine Aussage verstehen, bei der
Eduard der ersten Untermaxime der Qualität Genüge tun will. Sie wird also nach
etwas anderem suchen, was er mit seiner Äußerung gemeint haben könnte, nach
Eigenschaften, die Eduard ihr qua Implikatur zuschreibt.
Bei diesen eben behandelten konversationellen Implikaturen handelt es sich
um verschiedene Arten von partikularisierten konversationellen Implikaturen, da es
entscheidend von dem spezifischen Kontext, in dem die Äußerung getan wurde, ab-
hängt, zu welcher Implikatur es kommt. Dies ist bei generalisierten konversationellen
Implikaturen anders: Hier kommt es schon allein aufgrund des Inhalts dessen, was
gesagt wurde, ohne speziellen Kontext zu einer Implikatur, sofern der Sprecher dies
nicht irgendwie verhindert.
Mit generalisierten Konversationsimplikaturen haben wir es zu tun in dem
Fakultätsbeispiel (10) sowie dem Professorenbeispiel (11). Da bei der Ableitung der
Implikatur in diesen Fällen die (erste) Quantitätsmaxime eine wichtige Rolle spielt,
spricht man auch von Quantitätsimplikaturen, genauer: von »skalaren Quantitäts-
implikaturen« (vgl. Levinson 2000a, § 3.2.4). Eine andere Art von generalisierten
Quantitätsimplikaturen sind die »klausalen Quantitätsimplikaturen« (ebd.). Äußert
jemand Wenn sie ihren Streit vor Gericht austragen, wird die Sache teuer, dann werden
wir ihn im Normalfall so interpretieren, dass er zu verstehen gibt, dass die mit sie
gemeinten Leute ihren Streit möglicherweise vor Gericht austragen, möglicherweise
aber auch nicht, und dass er weiterhin zu verstehen gibt, dass die Sache möglicherweise
teuer wird, möglicherweise aber auch nicht (es ergeben sich also vier Implikaturen).
Konversationelle Implikaturen haben typischerweise die folgenden Eigenschaf-
ten (vgl. Grice 1989, 39 f.; Levinson 2000a, 125 ff., 132):
1. Konversationelle Implikaturen sind kalkulierbar, d. h. auf der Basis des KP und
der Maximen erschließbar.
2. Konversationelle Implikaturen sind annullierbar, d. h. der Sprecher kann verhin-
dern, dass es zu der Implikatur kommt. Dies kann kontextuell geschehen (es ergibt
sich aus dem Äußerungskontext, dass der Sprecher die Implikatur nicht teilt) oder
explizit (Einige haben gelacht, wenn nicht sogar alle; Einige haben gelacht, womit
ich nicht sagen will, dass nicht alle gelacht haben).
3. Konversationelle Implikaturen sind inhaltsbasiert (oder, wie Grice sagt, »nicht
abtrennbar«), d. h. sie ergeben sich nicht aus der speziellen Wortwahl, sondern
aus dem Inhalt dessen, was gesagt wurde: Bei jeder anderen Art, mehr oder we-
niger denselben Inhalt auszudrücken, kommt es auch zu der Implikatur. (Dies gilt
225
6.3
Pragmatik
natürlich nicht für die Implikaturen, die auf der Basis der Maxime der Art und
Weise entstehen.) So kommt es in Ich glaube, dass in der nächsten Woche eine
Fakultätssitzung stattfindet auch dann zu der Implikatur, dass sich der Sprecher
nicht sicher ist, wenn ich glaube ersetzt wird z. B. durch ich denke oder mir scheint.
4. Konversationelle Implikaturen sind nicht konventionell, sondern setzen an dem
an, was konventionell ausgedrückt wird, genauer: an dem, was »gesagt« wird.
5. Konversationelle Implikaturen sind nicht eindeutig, da es gegebenenfalls mehrere
Möglichkeiten geben kann, wie man das, was »gesagt« wurde, in Einklang brin-
gen kann mit dem KP (dies bezieht sich darauf, dass es in Schema (8) mehrere
Kandidaten geben kann für das, was in (iii) ›q‹ ist).
6. Konversationelle Implikaturen sind bekräftigbar, da sie sich unproblematisch ex-
plizit machen lassen, ohne dass es zu einer störenden Redundanz kommen würde
(Beispiel: Ein paar Studentenvertreter haben dagegen gestimmt. Aber nicht alle.).
7. Konversationelle Implikaturen sind universal, d. h. sie sollten im Prinzip in allen
Sprachen in gleicher Weise auftreten – das KP und die Maximen sind ja als Ratio-
nalitätsstandards gedacht und somit nicht einzelsprachlicher Natur.
Aufgabe 2: Gehen Sie die Beispielsätze von Aufgabe 1 einzeln durch und (i) erläutern
Sie, ob es sich um partikularisierte oder generalisierte Konversationsimplikaturen
handelt, und (ii) zeigen Sie, dass die Implikaturen die eben erläuterten Eigenschaften
1, 2, 3 und 6 aufweisen.
226
6.3
Implikaturen
Diesen Satz verstehen wir spontan so, dass mit den Knopf der Knopf der Kaffeema-
schine gemeint ist. Aber die Semantik alleine kann uns dieses Ergebnis nicht liefern.
Die Semantik sagt uns, dass Knopf mehrere Bedeutungen haben kann – Knopf an
einem Kleidungsstück, Knopf an einem Gerät etc., aber sie sagt uns nicht, in welcher
Bedeutung dieses Substantiv hier verwendet wird. Aus dem Kontext müssen wir
erschließen, wie das Wort gemeint ist. Auch bei läuft muss ein solcher Desambi-
guierungsprozess abgelaufen sein, da wir das Wort hier nicht im Sinne von ›sich mit
den Füßen fortbewegen‹ verstehen. Weiterhin sagt uns die Semantik nur, dass den
Knopf ein Ausdruck ist, mit dem auf ein bestimmtes Ding Bezug genommen werden
kann, sie sagt uns aber natürlich nicht, welches Ding dies ist. Dass es der Knopf der
Kaffeemaschine ist, muss aus dem Kontext erschlossen werden.
Wir können in Äußerungen vieles implizit lassen, was man aber mit zu dem
rechnen muss, was »gesagt« wird. Beispielsweise kann mit hier in Hier fühle ich mich
wohl gemeint sein ›hier in diesem Zimmer‹, ›hier in diesem Haus‹, ›hier in dieser
Stadt‹ etc. Erst durch die nähere Bestimmung ergibt sich das, was gesagt wurde. Mit
Alle waren entsetzt wird nicht gesagt, dass alle Menschen überhaupt entsetzt waren,
sondern alle einer bestimmten, kontextuell sich erschließenden Menge. Auch in Sät-
zen wie Marie ist einfühlsamer oder Caroline kam zu spät findet eine »pragmatische
Anreicherung« statt: Gesagt wird, dass Marie einfühlsamer als Person XY ist, bzw.
dass Caroline zu spät zum einem bestimmten Termin kam.
Damit können wir den entscheidenden Punkt benennen. Erst wenn Desambi-
guierung, Referenzbestimmung und Anreicherung erfolgt sind, steht das Gesagte, steht
die Proposition, die der Satz ausdrückt, fest. Und das heißt: Zur Bestimmung des pro-
positionalen Gehalts einer Äußerung muss die Pragmatik mit herangezogen werden.
Die Aufteilung, dass die Semantik im Wesentlichen das Gesagte bereitstellt und die
Pragmatik auf dieser Basis die Implikaturen, ist nicht zu halten. Die Konsequenzen,
die dies für das Semantik/Pragmatik-Verhältnis hat, werden heftig diskutiert (vgl.
Bianchi 2004, Szabó 2005, einführend Huang 2014, § 8 und Finkbeiner 2015, § 4.3).
Was neuere Implikaturenkonzeptionen angeht, so wird einmal die Notwendig-
keit gesehen, zur Erklärung von Implikaturen weitere Prinzipien hinzuzuziehen – ins-
besondere Prinzipien der Höflichkeit (vgl. Brown/Levinson 1987, Leech 2014). Keine
Einigkeit herrscht darüber, wie weit man die Theorie von Grice modifizieren muss. Das
Spektrum reicht von relativ konservativen Modifikationen (vgl. etwa Gazdar 1979
oder Matsumoto 1995) bis zur totalen Ablehnung. Zwei Schulen sind heute vor allem
prominent. Da sind zum einen die Neogriceaner, die versuchen, Implikaturen aus
dem Zusammenspiel von zwei bis drei aufeinander bezogenen Prinzipien zu erklären,
227
6.4
Pragmatik
6.4 | Präsuppositionen
6.4.1 | Was sind Präsuppositionen?
Wenn Eduard die Feststellung macht, dass der Staatspräsident von Madagaskar ein
Sozialist ist, so dürfen wir davon ausgehen, dass Eduard annimmt, dass Madagaskar
einen Staatspräsidenten hat. Seine Feststellung wäre in gewissem Sinne unverständlich
(sie wäre – in der Redeweise von Kap. 6.5.1 – »verunglückt«), wenn er dies nicht an-
nehmen würde. Das gleiche gilt für den Fall, dass Eduard fragt, ob der Staatspräsident
von Madagaskar ein Sozialist ist. Wenn Ottilie Eduards Feststellung widerspricht,
indem sie sagt, dass es nicht der Fall ist, dass der Staatspräsident von Madagaskar
ein Sozialist ist, so dürfen wir davon ausgehen, dass auch Ottilie annimmt, dass Ma-
dagaskar einen Staatspräsidenten hat. Auch wenn Ottilie sich nicht so sicher ist und
nur sagt, dass es möglich ist, dass der Staatspräsident von Madagaskar ein Sozialist
ist, oder sagt, was sich aus diesem Umstand ergeben würde, so gehen wir davon aus,
dass sie die besagte Annahme macht. Eduard und Ottilie präsupponieren (>>) mit
ihren Äußerungen, sie setzen voraus, dass es (genau) einen Staatspräsidenten von
Madagaskar gibt.
(13) a. Der Staatspräsident von Madagaskar ist ein Sozialist.
b. Ist der Staatspräsident von Madagaskar ein Sozialist?
c. Es ist nicht der Fall, dass der Staatspräsident von Madagaskar ein Sozialist ist.
d. Es ist möglich, dass der Staatspräsident von Madagaskar ein Sozialist ist.
e. Wenn der Staatspräsident von Madagaskar ein Sozialist ist, dann sind die Sozialisten
dort eine starke politische Kraft.
>> Es gibt (genau) einen Staatspräsidenten von Madagaskar.
228
6.4
Präsuppositionen
Eine Existenzannahme, die mit zu der Aussage eines Satzes gehört, verhält
sich ganz anders. Wenn Ottilie die Mitteilung macht, dass eine Lawinenwarnung
durchgegeben worden ist, so gehen wir natürlich davon aus, dass sie annimmt, dass
eine Lawinenwarnung vorliegt. Wenn aber Eduard nachfragt, ob (wirklich) eine La-
winenwarnung durchgegeben worden ist, oder er Ottilie widerspricht und sagt, dass
es nicht der Fall ist, dass eine Lawinenwarnung durchgegeben worden ist, so gehen
wir natürlich nicht davon aus, dass Eduard annimmt, dass eine Lawinenwarnung
vorliegt. Wir gehen ebenso wenig davon aus, dass Eduard diese Annahme macht,
wenn er sagt Es ist möglich, dass eine Lawinenwarnung durchgegeben worden ist.
Eine Präsupposition ist eine Annahme, die in Fragesätzen, unter Negation und
Modalität sowie in Konditionalgefügen erhalten bleiben kann. Präsuppositionen
gehören nicht zu dem, was mit einer Äußerung »gesagt« wird. Sie sind vielmehr
Annahmen, die notwendig sind, damit eine Äußerung »glücken« kann (wenn der
Sprecher von (13a) die Existenzannahme nicht machen würde, wüsste man gar nicht,
was für eine Aussage er eigentlich machen wollte).
Eine Existenzpräsupposition liegt auch vor, wenn jemand feststellt Alle Türen
im Schloss waren verschlossen. Denn damit präsupponiert er, dass es in dem Schloss
Türen gibt bzw. gab. Auch wer die Frage stellt Wer hat dieses Jahr den Nobelpreis
für Literatur bekommen?, macht eine Existenzpräsupposition, nämlich dass jemand
dieses Jahr den Nobelpreis für Literatur bekommen hat (vgl. aber Meibauer 2001,
50 f., wo für die Existenzannahme in W-Fragesätzen eine Analyse als konversationelle
Implikatur und nicht als Präsupposition erwogen wird). Ein weiteres Beispiel sind
Spaltsätze wie Es war Eduard, der als Erster abreiste, wo präsupponiert wird, dass
jemand als Erster abgereist ist.
Bei allen Präsuppositionen kann man einen Auslöser (engl. ›trigger‹) für die
Präsupposition dingfest machen. In den bisherigen Beispielen war dies der definite
Artikel, die Quantitätsangabe alle sowie die w-Fragesatz-Konstruktion. Aber auch
Verben und Adjektive können Präsuppositionen auslösen: Wer (14) sagt, geht davon
aus, dass die Situation auch wirklich verfahren ist; wer (15) sagt, geht davon aus,
dass die Erde rund ist, und wer (16) äußert, geht davon aus, dass der Minister auch
wirklich zurückgetreten ist.
(14) Wir bedauern (/sehen ein, haben vergessen, wissen etc.), dass die Situation (so) verfahren
ist.
>> Die Situation ist verfahren.
(15) Es ist schrecklich (/schade, bedauerlich, wunderbar etc.), dass die Erde rund ist.
>> Die Erde ist rund.
(16) Dass der Minister zurückgetreten ist, beweist, dass er weiß, was sich gehört.
>> Der Minister ist zurückgetreten.
Es wird präsupponiert, dass der Sachverhalt, der durch einen Objekt- bzw. Subjekt-
satz ausgedrückt wird, besteht. Hier spricht man von einer faktiven Präsupposition.
Es gibt auch Verben, die eine nicht-faktive Präsupposition auslösen: Mit Ottilie gibt
vor, krank zu sein wird beispielsweise präsupponiert, dass Ottilie gar nicht krank ist.
Ein anderer Typ von Präsupposition – lexikalische Präsuppositionen – wird
von sogenannten »implikativen Verben« wie schaffen und vergessen sowie von »As-
pektverben« wie aufhören und beginnen ausgelöst: Mit Eduard hat es geschafft, die
Tür zu öffnen wird präsupponiert, dass Eduard versuchte, die Tür zu öffnen, mit
229
6.4
Pragmatik
Ottilie hat vergessen, die Tür abzuschließen, dass Ottilie die Tür abschließen sollte
(oder wollte); mit Ottilie hört mit dem Klavierspielen auf wird präsupponiert, dass
Ottilie schon vorher Klavier gespielt hat, mit Eduard beginnt Klavier zu spielen, dass
Eduard vorher noch nicht Klavier gespielt hat.
Einen interessanten Fall stellen in diesem Zusammenhang die Fokuspartikeln
dar, also Ausdrücke wie nur, auch und sogar. Wenn jemand die Feststellung macht
Nur Eduard ist abgereist, so kann man davon ausgehen, dass er annimmt, dass Eduard
abgereist ist. Was für einen Status hat diese Annahme? Gehört sie zu dem, was durch
die Feststellung ausgesagt wird? Nein, es scheint sich nicht um eine logische Folgerung
zu handeln: Sie bleibt in Fragesätzen (Ist nur Eduard abgereist?) und unter Negation
(Es ist nicht der Fall, dass nur Eduard abgereist ist) und Modalität (Es ist durchaus
möglich, dass nur Eduard abgereist ist) erhalten! Durch Nur Eduard ist abgereist
wird »ausgesagt« (d. h. »gesagt« im Sinne von Grice – siehe oben Kap. 6.3.3), dass
niemand sonst abgereist ist, dass – im Kontext von Goethes Roman Die Wahlver-
wandtschaften – Ottilie, Charlotte und der Hauptmann nicht abgereist sind. Dass
dies ausgesagt und nicht präsupponiert wird, sieht man etwa daran, dass es durch
die Negation des Satzes (Nicht nur Eduard ist abgereist) verneint wird.
(17) Nur Eduard ist abgereist
Präsupposition: Eduard ist abgereist.
Aussage: Die anderen (also: Ottilie, Charlotte und der Hauptmann) sind nicht abgereist.
Seit Horn (1996) jedoch wird kontrovers diskutiert, ob in Fällen wie (17) die An-
nahme, dass Eduard abgereist ist, wirklich den Status einer Präsupposition hat, ob
es sich nicht vielmehr um eine konversationelle oder konventionelle Implikatur oder
noch um etwas anderes handelt.
Aufgabe 3: Was wird bei (i) Auch Eduard ist abgereist und was wird bei (ii) Sogar
Eduard ist abgereist präsupponiert? Analysieren Sie diese beiden Sätze nach dem
Muster von (17). Testen Sie dabei mögliche Präsuppositionen mit Fragesatzbildung,
Negation und Modalität.
230
6.4
Präsuppositionen
231
6.4
Pragmatik
unter Negation nicht immer erhalten. Mit einer Äußerung wie Es kann nicht sein,
dass der Staatspräsident von Madagaskar ein Sozialist ist braucht ein Sprecher nicht
die Existenz eines madegassischen Staatspräsidenten zu präsupponieren, denn er
kann konsistent seine Rede fortsetzen mit Denn Madagaskar hat gar keinen Staats-
präsidenten.
232
6.5
Sprechakte
6.5 | Sprechakte
6.5.1 | Performative Äußerungen
Wir alle kennen den Vorwurf »Du redest nur, aber du tust nichts!«. Hier wird Reden
und Handeln gegenübergestellt und so getan, als wenn man nichts tun würde, wenn
man redet. Doch wenn man jemanden mit Worten übel beleidigt, so kann als Reaktion
kommen: »Wie konntest du sowas tun?« Jetzt wird Reden als Handlung begriffen.
Wie verhält es sich also mit Reden und Handeln?
Dem englischen Philosophen John L. Austin (1911–1960) ist aufgefallen, dass
es da eine besondere Klasse von Äußerungen gibt, wo außer Frage steht, dass wir
etwas tun, wenn wir diese Äußerungen von uns geben. Hier einige typische Beispiele.
(22) Die Königin sagt: »Ich taufe dieses Schiff hiermit auf den Namen Lord Nelson.«
(23) Der Parlamentspräsident sagt: »Ich schließe hiermit die heutige Parlamentssitzung.«
(24) Ein Casanova sagt zu seiner Frau: »Ich verspreche dir, nie mehr fremdzugehen.«
(25) Der Justizminister sagt: »Ich entschuldige mich für die Unverhältnismäßigkeit des Po-
lizeieinsatzes.«
(26) Die Stewardess sagt: »Sie werden gebeten, jetzt das Rauchen einzustellen.«
Wenn die Umstände stimmen, d. h. die Königin gerade bei einer Schiffstaufe ist, wenn
sie es also ist, die das Schiff taufen soll, und alles ordentlich abläuft, dann wird durch
die Äußerung der Königin das Schiff getauft. Mit anderen Worten, die Königin hat
etwas getan, indem sie die Äußerung gemacht hat, sie hat das Schiff getauft. Ähnlich
in den anderen Beispielen: Wenn der Parlamentspräsident am Ende der Sitzung sagt
Ich schließe hiermit die heutige Parlamentssitzung, dann hat er damit etwas getan,
er hat die Parlamentssitzung geschlossen. Wenn ein Casanova zu seiner Frau sagt Ich
verspreche dir, nie mehr fremdzugehen, dann ahnen wir zwar, was davon zu halten
ist, aber auf alle Fälle kann man sagen, dass er etwas getan hat, nämlich dass er seiner
Frau ein Versprechen gegeben hat.
Nun scheint es sich hier um eine interessante, aber ganz spezielle Art von Äu-
ßerungen zu handeln. Schon mehr oder weniger kleine Veränderungen führen dazu,
dass es nicht mehr zu der entsprechenden Handlung kommt.
(22’) Die Königin sagt: »Ich werde dieses Schiff auf den Namen Lord Nelson taufen.«
(23’) Der Parlamentspräsident sagt: »Ich könnte die heutige Parlamentssitzung schließen.«
(24’) Ein Casanova sagt zu seiner Frau: »Er hat dir versprochen, nie mehr fremdzugehen.«
(25’) Der Justizminister sagt: »Ich habe mich doch entschuldigt.«
(26’) Die Stewardess sagt: »Werden Sie gebeten, jetzt das Rauchen einzustellen?«
Dadurch, dass man vom Präsens ins Futur oder Perfekt wechselt, oder die 1. Person
vermeidet, oder dadurch, dass man ein Modalverb einfügt oder aus dem Aussage- einen
Fragesatz macht, dadurch kommt es nicht mehr zu der entsprechenden Handlung.
Wir scheinen, wenn wir uns vorerst auf Aussagesätze beschränken, zwei Arten
von Äußerungen unterscheiden zu müssen. Performative Äußerungen (kurz: Perfor-
mative) wie Ich taufe dieses Schiff hiermit auf den Namen Lord Nelson, Ich schließe
hiermit die heutige Parlamentssitzung etc. auf der einen Seite und konstative Äuße-
rungen (kurz: Konstative) wie Das Schiff hieß Lord Nelson, Die Parlamentssitzung
ist schon vorüber, Der Polizeieinsatz war unverhältnismäßig, Rauchen schadet der
Gesundheit auf der anderen Seite.
233
6.5
Pragmatik
Mit performativen Äußerungen sagt man nicht bloß etwas, sondern man tut
etwas – sie geben keinen wahren oder falschen Bericht über etwas. Mit konstativen
Äußerungen dagegen sagt man etwas, ohne etwas zu tun – sie geben einen wahren oder
falschen Bericht über etwas. Dies ist der Ausgangspunkt der Überlegungen von Austin.
Auch wenn es klar ist, dass man mit performativen Äußerungen etwas tut,
so gehört doch zu dem, was man da tut, oft mehr als nur das, dass man bestimmte
Worte äußert. So gehört etwa zu einer Schiffstaufe – zumindest wenn die Königin
von England sie durchführt – eine mehr oder weniger aufwändige Zeremonie. Und es
kann passieren, dass eine performative Äußerung, wenn die Umstände nicht passend
sind, schiefgeht bzw. verunglückt.
Austin untersucht ganz penibel, auf welche Art und Weise performative Äu-
ßerungen verunglücken können. In manchen Fällen muss es eine autorisierte Person
geben, damit die Äußerung wirklich glücken kann. Wenn die Queen ein Schiff taufen
soll, sich aber bei der Zeremonie Boris Becker nach vorne schleicht, eine Flasche
Champagner am Schiffsrumpf zerschellen lässt und ausruft: »Ich taufe dich auf den
Namen Babsi«, dann hat er das Schiff nicht auf diesen Namen getauft, da er nicht dazu
autorisiert war. Boris’ Äußerung ist fehlgeschlagen, eine Taufhandlung ist nicht zu-
stande gekommen. Eine andere Weise, wie eine performative Äußerung verunglücken
kann, kann man am Versprechen exemplifizieren: Wenn jemand ein Versprechen gibt,
es aber gar nicht wirklich einhalten will, dann ist er unehrlich. Hier ist die Handlung
– das Versprechen – zustande gekommen anders als im Fall der Schiffstaufe oben,
aber trotzdem ist die Handlung verunglückt, es liegt ein Missbrauch vor. Eine andere
Art von Missbrauch liegt vor, wenn jemand ein Versprechen zwar ehrlich gegeben
hat, es später aber nicht einhält, dann nämlich hat er das Versprechen gebrochen.
Mit der Art und Weise, wie performative Äußerungen verunglücken können, scheint
ein Bereich vorzuliegen, der für performative Äußerungen ganz spezifisch ist und den
man etwa wie folgt gliedern kann (die folgende Klassifikation beruht auf Austin 1975
sowie auf der Weiterentwicklung in Falkenberg 1984):
(27) Sprachliche Unglücksfälle
Fehlschlag Missbrauch
(Handlung kommt nicht zustande) (Handlung kommt zustande, ist aber hohl)
Eine Fehlberufung (und damit ein Fehlschlag) liegt vor in dem obigen Beispiel mit
Boris Becker (Ich taufe dich auf den Namen Babsi). Mit einer Fehlberufung hat man
es auch zu tun, wenn eine entsprechende Konvention nicht existiert. Eine Frau mag
sich von ihrem Ehemann trennen wollen, doch kann sie das nicht dadurch tun, dass
sie zu ihm – wie oft dies auch geschehen mag – sagt: »Ich scheide mich von dir«. Es
gibt bei uns nicht die Konvention, dass das Aussprechen einer Formel wie »Ich scheide
mich von dir« unter geeigneten Umständen die Handlung der Scheidung darstellen
würde. Eine Fehlanwendung (und damit ein Fehlschlag) liegt vor, wenn eine perfor-
mative Äußerung fehlerhaft ausgeführt wurde (wenn z. B. Ich verspreche mir, nie mehr
234
6.5
Sprechakte
fremdzugehen gesagt wurde anstelle von Ich verspreche dir, nie mehr fremdzugehen)
oder wenn sie unvollständig ausgeführt wurde (wenn z. B. bei einer Namenstaufe die
Äußerung nur lautete Ich taufe dich, aber keine Namensnennung erfolgte).
Was den Missbrauch von performativen Äußerungen angeht, so kommt es zu
einem Bruch, wenn Verpflichtungen nicht eingehalten werden, die mit der perfor-
mativen Äußerung einhergehen (wenn z. B. etwas versprochen wird, dies aber später
nicht eingehalten wird). Unaufrichtigkeit liegt vor, wenn die Absichten, Gefühle oder
Überzeugungen, die derjenige hat, der eine performative Äußerung tut, nicht zu der
Äußerung passen – wie dies bei Unehrlichkeit (z. B. etwas versprechen, ohne das Ver-
sprechen halten zu wollen), Heuchelei (z. B. das Mitgefühl aussprechen, ohne wirklich
zu trauern) oder Lüge (etwas behaupten, was man für falsch hält) der Fall ist.
Halt! Was hat die Lüge hier zu suchen? Beim Lügen haben wir es doch kla-
rerweise mit konstativen Äußerungen zu tun! Wir werden in Kürze darauf zurück
kommen, ob es ein Fehler war, die Lüge als einen Fall zu betrachten, wie performative
Äußerungen verunglücken können.
(Erste Person Plural haben wir beispielsweise in Wir laden euch hiermit zum Essen
ein.) Wenn wir unsere Beispiele der Reihe nach durchgehen, so stellen wir fest, dass
dies auf die Beispiele (22) bis (25) zutrifft, nicht aber auf das erste Stewardess-Beispiel
(26). Also machen wir einen zweiten Versuch:
ii Eine Äußerung ist genau dann performativ, wenn sie entweder ein Format wie in (i)
hat oder aber eine Passivkonstruktion aufweist, in der das Passivhilfsverb werden
zweite oder dritte Person Indikativ Präsens ist und das Partizip Passiv die Handlung
bezeichnet, die mit der Äußerung vollzogen wird.
Damit hat man jetzt auch das Stewardess-Beispiel Sie werden gebeten, jetzt das Rau-
chen einzustellen erfasst: Werden ist ein Passivhilfsverb in der dritten Person Plural
Indikativ Präsens, und gebeten ist ein Partizip Passiv, das die Handlung bezeichnet,
die mit der Äußerung vollzogen wird, nämlich eine Bitte.
Doch die eigentlichen Probleme kommen erst jetzt. Wenn die Äußerung Ich
bitte dich, das Fenster zuzumachen eine performative Äußerung ist, mit der eine Bitte
geäußert wird, dann muss auch Mach doch mal das Fenster zu! eine performative
Äußerung sein, denn damit wird ebenso eine Bitte geäußert. Diese Äußerung hat
aber überhaupt nicht die Form der bisherigen performativen Äußerungen. Also ein
neuer Anlauf:
iii Eine Äußerung ist genau dann performativ, wenn sie sich durch eine Äußerung para-
phrasieren lässt, die ein Format hat wie in (i).
235
6.5
Pragmatik
Damit ist Mach doch mal das Fenster zu! eine performative Äußerung, da sie sich
paraphrasieren lässt als Ich bitte dich, das Fenster zuzumachen. Doch – und das ist
die entscheidende Wendung – dann ist die konstative Äußerung Niemand von uns
ist zu so einer Tat fähig auch eine performative Äußerung! Denn man kann sie para-
phrasieren als Ich behaupte, dass niemand von uns zu so einer Tat fähig ist.
Damit bricht die Unterscheidung von performativen und konstativen Äußerun-
gen zusammen. Nicht nur, wenn wir ein Versprechen geben oder uns entschuldigen,
tun wir etwas, auch wenn wir etwas behaupten oder feststellen, tun wir etwas – wir
behaupten etwas bzw. stellen etwas fest. Konstative Äußerungen als Äußerungen,
mit denen man etwas sagt, ohne etwas zu tun, gibt es nicht! Behaupten und Fest-
stellen sind genauso wie Versprechen oder sich Entschuldigen Handlungen, genauer
Sprechhandlungen oder Sprechakte. Austin zeigt auch, dass konstative Äußerungen
durchaus auf vergleichbare Weise verunglücken können wie performative. Nehmen
wir den Fall der Lüge. Der Lügner ist ebenso unaufrichtig wie der Versprecher, der
sein Versprechen gar nicht halten will. In beiden Fällen kommt der Sprechakt (Fest-
stellung bzw. Versprechen) zustande, aber es liegt ein Missbrauch vor, insofern der
Sprecher unaufrichtig ist (im Vorgriff auf dieses Ergebnis haben wir in (27) bereits
die Lüge als einen Unglücksfall aufgenommen).
Sprechen ist Handeln, das ist die entscheidende Erkenntnis von Austin gewesen.
Und er hat uns diese Erkenntnis vermittelt, indem er von Äußerungen ausgegangen
ist, wo wir ihm ohne Vorbehalt zustimmen, dass diese Äußerungen Handlungen sind,
und uns dann Schritt für Schritt dazu geführt, dass auch die Äußerungen, die wir auf
den ersten Blick nicht als Handlungen bezeichnen würden, Handlungen sein müs-
sen.
Die beiden Klassen von Äußerungen, die wir anfangs als Performative und
Konstative unterschieden haben, weisen Unterschiede auf, aber diese liegen nicht
darin, dass die einen eine Handlung darstellen, die anderen aber nicht, sondern darin,
dass sie die Sprechhandlung, die mit ihnen vollzogen wird, explizit bezeichnen, oder
dies nicht tun. Die performativ/konstativ-Unterscheidung wird von Austin ersetzt
durch die Unterscheidung zwischen explizit performativen und implizit performativen
Äußerungen. Ein explizites Performativ ist eine Äußerung, durch die die Handlung
vollzogen wird, die von der Äußerung bezeichnet wird. Ein implizites Performativ ist
eine Äußerung, bei der die Handlung, die durch die Äußerung vollzogen wird, nicht
von der Äußerung bezeichnet wird. Explizite Performative sind Äußerungen wie Ich
bitte dich, das Fenster zuzumachen und Ich behaupte, dass niemand von uns zu so
einer Tat fähig ist, da sie die Handlung bezeichnen, die ausgeführt wird. Implizite
Performative sind Äußerungen wie Mach das Fenster zu! und Niemand von uns ist
zu so einer Tat fähig. In diesen Sätzen gibt es nichts, das den Sprechakt bezeichnen
würde. Auch die ›Form‹ des Satzes kann dies nicht leisten: Mit einem ›Aussagesatz‹
kann man ganz unterschiedliche Sprechakte ausführen und mit einem Imperativsatz
kann man nicht nur bitten, sondern auch auffordern, befehlen und sogar etwas
vorschlagen (s. Kap. 6.6; eine terminologische Anmerkung: Oft wird heute das, was
Austin als ›explizit performative Äußerung‹ bezeichnete, auch einfach nur ›perfor-
mative Äußerung‹ genannt).
Die Verben, die in expliziten Performativen die Sprechhandlung bezeichnen,
werden performative Verben genannt (taufen, versprechen, bitten, behaupten etc.).
Man kann testen, ob es sich bei einem Verb um ein performatives Verb handelt, indem
236
6.5
Sprechakte
man es anstelle von V einsetzt in »Ich V[indikativ, präsens] hiermit …« und schaut,
ob durch die Äußerung eines solchen Satzes genau die Handlung vollzogen werden
kann, die V bezeichnet. Wenn ja, dann ist V ein performatives Verb bzw. hat eine
Lesart als performatives Verb.
Wie Grice so hat auch Austin seine Ansichten in einer »William James Lectu-
re« an der Harvard-Universität vorgetragen, allerdings schon ein paar Jahre früher,
nämlich 1955. Diese Vorlesungen sind posthum 1962 erschienen unter dem Titel
How to do Things with Words (=Austin 1975).
Aufgabe 4:
a. Bei welchen der folgenden Äußerungen handelt es sich um explizite Performa-
tive?
(i) Ich kann hiermit ein Glas aufmachen.
(ii) Ich bitte um etwas Geduld.
(iii) Die Passagiere werden gebeten, ihre Handys auszuschalten.
(iv) Wir frieren.
(v) Wir haben euch für morgen zum Essen eingeladen.
(vi) Ich möchte darauf hinweisen, dass es schon sehr spät ist.
b. Bei welchen der folgenden Verben handelt es sich um performative Verben?
bekräftigen, trauern, zustimmen, beleidigen, umstimmen, ersuchen, abstim-
men
237
6.5
Pragmatik
naler Akt. Oder nehmen wir zwei verschiedene Äußerungen des Satzes Albert verließ
Berlin, wo mit Albert jeweils jemand anderes gemeint wurde. In beiden Äußerungen
liegt derselbe Äußerungsakt vor, es ist ja derselbe Satz geäußert worden (dieselben
Wörter bzw. Wortformen in derselben Reihenfolge), aber da sich die Referenz unter-
scheidet, sind die propositionalen Akte verschieden. Vergleichen wir die Äußerung
Albert verließ Berlin mit der Äußerung Albert ging aus Berlin weg, wo mit Albert
auf dieselbe Person referiert wird. Der propositionale Akt ist derselbe, aber der Äu-
ßerungsakt ist verschieden. Dies sind also Fälle, die zeigen, dass man Äußerungsakt
und propositionalen Akt unterscheiden muss.
Bei Ausspracheübungen liegt nicht nur kein propositionaler Akt vor, es kommt
auch zu keinem Sprechakt, zu keiner Behauptung, Frage, Aufforderung etc. Es kommt
zu keinem illokutionären Akt, wie man seit Austin sagt. Äußerungsakt und illokutio-
nären Akt zu unterscheiden, ist also notwendig. Wie ergibt sich die Notwendigkeit
einer Unterscheidung zum propositionalen Akt? Mit den Äußerungen Albert verlässt
Berlin, Verlässt Albert Berlin?, Albert, verlass Berlin! kann auf dieselbe Person refe-
riert werden und dieselbe Tätigkeit von dieser Person prädiziert werden, obwohl die
Äußerung eine Feststellung, eine Frage oder ein Vorschlag sein kann. Propositionaler
und illokutionärer Akt sind also nicht dasselbe.
Man kann mit einer Äußerung auch jemanden einschüchtern, überzeugen, um-
stimmen, beleidigen etc., d. h. man kann etwas tun, das sich von den bisherigen Akten
unterscheidet, etwas, was mit den Konsequenzen und Wirkungen der Äußerungen
zu tun hat. Einschüchtern, Überzeugen, Umstimmen sind keine illokutionären Akte.
Sie werden perlokutionäre Akte genannt.
Diese Zerlegung der Sprechakte stammt von John Searle (*1932), einem ame-
rikanischen Philosophen, der eine Zeit lang in Oxford war, und der Austins Theorie
ausgearbeitet und popularisiert hat. Vor allem sein Verdienst ist es, dass die Theorie
der Sprechakte heute zum Standardrepertoire der Sprachtheorie gehört. Sein sprach-
philosophisches Hauptwerk ist Speech Acts (1969) – ein weiterer moderner Klassiker.
Searle hat für einzelne illokutionäre Akte versucht, genau zu bestimmen, was
der Fall sein muss, damit der jeweilige illokutionäre Akt »glücken« kann (er knüpft
damit an Austins Lehre von den sprachlichen Unglücksfällen an). Schauen wir uns
an, wie Aufforderungen verunglücken können. Sagt jemand zu den beiden Germa-
nistikstudenten Eduard und Ottilie in Unkenntnis der Tatsache, dass die beiden
bereits Germanistik studieren: »Schreiben Sie sich am Anfang Ihres Studiums für
Germanistik ein!«, so ist diese Aufforderung schief gegangen, da die Handlung des
Einschreibens bereits ausgeführt wurde und somit nicht mehr etwas Zukünftiges ist.
Eine Aufforderung muss sich also auf Zukünftiges richten. Es ist auch keine gelungene
Aufforderung, wenn Ottilie zu Eduard sagt: »Verdaue dein Frühstück!« Und zwar,
weil Verdauen kein Vorgang ist, der von einem Entschluss Eduards abhängen würde
– anders als Essen und Herunterschlucken ist das Verdauen keine Handlung, keine
Form von intentionalem Verhalten. Eine Aufforderung muss also zu einer Handlung
auffordern. Es wäre aber auch merkwürdig, würde Eduard zu Ottilie sagen: »Vertreibe
den Regen!« oder »Baue ein perpetuum mobile!« Denn dies sind Dinge, die Ottilie
nicht tun kann. Eine Aufforderung kann also nur zu einer Handlung auffordern, zu
der der Adressat der Aufforderung in der Lage ist. Merkwürdig wäre es auch, wenn
Ottilie Eduard auffordern würde, die berühmte Arie des Caravadossi aus dem dritten
Akt der Tosca zu singen, wenn sie nicht glauben würde, dass Eduard diese Arie singen
238
6.5
Sprechakte
kann. (Die Aufforderung wäre immer noch merkwürdig, auch wenn Eduard, ohne
dass Ottilie dies wissen würde, die Arie tatsächlich singen könnte.) Eine Aufforderung
muss zu etwas auffordern, von dem der Auffordernde glaubt, dass der Adressat es
ausführen kann. Die Studenten werden unter normalen Umständen verdutzt drein
schauen, wenn der Dozent oder die Dozentin sie am Ende der Seminarstunde dazu
auffordert, spätestens am Abend das Universitätsgebäude zu verlassen und nach Hause
zu gehen. Eine wirklich geglückte Aufforderung darf also nicht zu etwas auffordern,
von dem Sprecher und Adressat glauben, dass der Adressat es bei normalem Verlauf
der Dinge sicherlich tun wird, auch ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Merk-
würdig wird Ottilie auch Eduards Aufforderung vorkommen: »Trete mir kräftig ans
Schienbein!« Auch hier ist der Grund klar: Von einer Aufforderung erwarten wir, dass
sie zu etwas auffordert, was den Wünschen des Auffordernden entspricht – doch kann
man sich nur schwer vorstellen, dass jemand ans Schienbein getreten werden möchte.
Schließlich wäre auch Ottilies Aufforderung an Eduard »Gib mir doch bitte die
Wahlverwandtschaften aus dem obersten Regal!« merkwürdig, wenn Eduard ihrer
Aufforderung – wohl eher Bitte – nachkommt, Ottilie aber darauf mit den Worten
reagiert: »Was gibst du mir dieses Buch? Mit meiner Aufforderung habe ich nicht
bezweckt, dass du mir die Wahlverwandtschaften runterreichst.« Die Reaktion von
Ottilie ist nicht anders als absurd zu nennen – eine Aufforderung ist der Versuch,
jemanden dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun.
Für den Akt des Aufforderns sehen demnach die Bedingungen für den erfolg-
reichen Vollzug folgendermaßen aus (vgl. Searle 1969, 66 f. [1972, 100 f.]). Wenn
ein Sprecher einen Satz äußert, um den Adressaten der Äußerung aufzufordern, die
Handlung H zu tun, dann muss u. a. Folgendes der Fall sein:
(28) (i) Der Sprecher prädiziert vom Adressaten eine zukünftige Handlung (= Bedingung
des propositionalen Gehalts).
(ii) Der Adressat ist in der Lage, H zu tun, und der Sprecher glaubt, dass der Adressat
dazu in der Lage ist (= erste Einleitungsbedingung).
(iii) Es ist sowohl für Sprecher wie Adressat nicht offensichtlich, dass der Adressat bei
normalem Verlauf der Dinge H aus eigenem Antrieb tun wird (= zweite Einleitungs-
bedingung).
(iv) Der Sprecher wünscht, dass der Adressat H tut (= Aufrichtigkeitsbedingung).
(v) Die Äußerung des Satzes gilt als Versuch, den Adressaten dazu zu bringen, H zu
tun (= wesentliche Bedingung).
Man kann sich leicht eine Situation vorstellen, wo die Äußerung Halt den Mund!
alle diese Bedingungen erfüllt.
Mit diesem Raster aus Bedingung des propositionalen Gehalts, Einleitungs-
bedingungen, Aufrichtigkeitsbedingung und wesentlicher Bedingung beschreibt
Searle in Kapitel 3 von Speech Acts eine Reihe von wichtigen illokutionären Akten
(nämlich Versprechen, Behaupten, Fragen, Danken, Raten, Warnen, Grüßen und
Beglückwünschen). Beim Behaupten bzw. Feststellen gibt es keine Beschränkungen
für den propositionalen Gehalt. Einleitungsbedingungen sind: Der Sprecher muss
über Evidenzen für die Wahrheit der ausgedrückten Proposition verfügen und es
darf für Sprecher und Adressat nicht offensichtlich sein, dass der Adressat von der
Wahrheit der Proposition überzeugt ist. Dass der Sprecher die Proposition glaubt,
ist die Aufrichtigkeitsbedingung, und die wesentliche Bedingung besagt, dass eine
Behauptung/Feststellung eine Handlung ist, die eine Proposition als wahr hinstellt.
239
6.5
Pragmatik
Aufgabe 5: Überlegen Sie, wie die Bedingungen für den illokutionären Akt (i) des
Versprechens und (ii) des Dankens aussehen könnten.
240
6.5
Sprechakte
den Adressaten dazu zu bekommen, etwas zu tun – der wesentlichen Bedingung des
Aufforderns entspricht, und der durch den Direktiv ausgedrückte psychische Zustand
des Wollens bzw. Wünschens in der Aufrichtigkeitsbedingung genannt ist.
Mit einem Kommissiv legt sich der Sprecher auf ein bestimmtes Verhalten
fest. Die Ausrichtung ist wie bei den Direktiven Welt-auf-Wort, der zum Ausdruck
gebrachte psychische Zustand ist der der Absicht. Versprechen, Drohen oder Anbieten
sind Beispiele für Kommissive.
Mit einem Expressiv bringt der Sprecher einen psychischen Zustand zum
Ausdruck, der auf die durch die Proposition bezeichnete Sachlage gerichtet ist. Pro-
totypische Expressive sind Danken, Sich-Entschuldigen, Das-Beileid-Aussprechen und
Gratulieren. Von einer Wort/Welt-Ausrichtung kann bei Expressiven nicht die Rede
sein (es wird vorausgesetzt, dass Welt und Wörter zusammen passen).
Mit dem erfolgreichen Vollzug einer Deklaration erreicht der Sprecher, dass die
ausgedrückte Proposition der Welt entspricht. Taufen, Kündigen, Den-Krieg-Erklären
sind Deklarationen. Da durch eine erfolgreiche Deklaration automatisch Wort und
Welt einander entsprechen, spricht Searle davon, dass bei Deklarationen sowohl
eine Wort-auf-Welt- wie eine Welt-auf-Wort-Ausrichtung besteht. Ein bestimmter
psychischer Zustand wird durch Deklarationen nicht zum Ausdruck gebracht. Zu
dieser Klasse gehören die (explizit) performativen Äußerungen.
241
6.5
Pragmatik
Gegenüber einer Äußerung wie Mach doch bitte (/gefälligst) die Musik etwas leiser!
zählen die Äußerungen (29) bis (36) als indirekte Direktive. Searle (1979) vermutet,
dass wir diese Äußerungen vor allem deswegen als Aufforderung/Bitte, die Musik
leiser zu stellen, verstehen können, weil sie Bedingungen thematisieren, die für das
Vorliegen einer entsprechenden Aufforderung/Bitte notwendig sind. Erinnern wir
uns an die Bedingungen für den Akt des Aufforderns in (28). In dem Satz (29) wird
die Frage gestellt, ob der Adressat die Einleitungsbedingung (in der Lage zu sein, die
Musik leiser zu stellen) erfüllt, in (30) wird die Erfüllung dieser Bedingung behauptet.
In Satz (31) wird die Aufrichtigkeitsbedingung (der Sprecher wünscht, dass der Adres-
sat die Musik etwas leiser stellt) thematisiert, in (32) gefragt, ob der propositionale
Gehalt der Aufforderung (der Adressat stellt die Musik etwas leiser) zutrifft, und in
(33) das Zutreffen des propositionalen Gehalts unterstellt. Beide Sätze beziehen sich
also auf die Bedingung des propositionalen Gehalts. In (34) wird nach der Bereit-
schaft des Adressaten gefragt, die gewünschte Handlung auszuführen, in (35) wird
festgestellt, dass es keine Gründe gegen den Vollzug der gewünschten Handlung gibt.
In (36) wird auf eine ostentativ eine Maxime der Art und Weise (Fasse dich kurz!)
verletzende Weise die Bitte thematisiert (durch die Maximenverletzung scheint der
Satz den Unterton der gerade noch gezügelten Wut zu erhalten).
Es ist also möglich, das, was in (29) bis (36) gefragt bzw. festgestellt wird, an
die Bedingungen zu knüpfen, die für den Akt des Aufforderns/Bittens notwendig
sind. Dies spielt nach Searle nun eine entscheidende Rolle dabei, die Äußerungen als
indirekte Sprechakte zu deuten: Für den Adressaten der Äußerung ist klar, dass der
Sprecher eine Frage gestellt bzw. eine Feststellung getroffen hat; er hat keinen Grund
an dessen Kooperativität zu zweifeln, er wird ein bestimmtes Ziel mit der Äußerung
verfolgen; doch kann in der gegebenen Gesprächssituation die Beantwortung der Frage
oder die Bestätigung der Feststellung durch den Adressaten nicht das eigentliche Ziel
des Sprechers sein; also muss er noch ein anderes illokutionäres Ziel verfolgen; da
die Äußerung eine Bedingung des illokutionären Akts der Aufforderung, die Musik
leiser zu stellen, thematisiert, und der Adressat gerade sehr laut Musik hört, kann der
Adressat den Schluss ziehen, dass der Sprecher ihn auffordern will, die Musik leiser
zu stellen. Über eine solche Schlusskette ist der Adressat in der Lage, den indirekten
Sprechakt, den der Sprecher vollzieht, zu erfassen.
Ähnlich in unserem Ausgangsbeispiel, wo Ottilie zu Eduard sagt Komm, wir
gehen an den See!, worauf Eduard ihr entgegnet Ich muss heute die Bibliothek auf-
räumen. Eduard hat auf den Vorschlag mit einer Feststellung reagiert, die sich nicht
unmittelbar als eine Reaktion auf den Vorschlag verstehen lässt. Doch hat Ottilie
keine Anzeichen dafür, dass Eduard unkooperativ wäre. Wenn er aber die Relevanz-
maxime nicht verletzten will, dann muss seine Entgegnung etwas mit ihrem Vorschlag,
an den See zu gehen, zu tun haben. Eine Bedingung, den Vorschlag anzunehmen, ist
nun, dass er in der Lage ist, ihn umzusetzen. Doch aus seiner Feststellung folgt, dass
er nicht dazu in der Lage ist, den Vorschlag umzusetzen, denn, an den See zu gehen
und die Bibliothek aufzuräumen, lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Also
schließt Ottilie, dass Eduard indirekt ihren Vorschlag ablehnt.
Zum Phänomen der indirekten Sprechakte vgl. neben Searle (1975b), Bach/
Harnish (1979, Kap. 9), Bertolet (1994), Meibauer (2001, Kap. 8) und Huang (2014,
§ 4.6).
242
6.6
Satztyp und Illokution
243
6.6
Pragmatik
V2-Imperativsatz mit dem finiten Verb im Imperativ (Jetzt sag doch auch mal
was!). Daneben gibt es noch Adhortativsätze wie Gehen wir doch zum See! und
Sie- oder Höflichkeitsimperative wie Gehen Sie zum See!, die man, was aber nicht
unumstritten ist, als V1-Imperativsätze mit dem finiten Verb in der ersten oder
dritten Person Konjunktiv Präsens bezeichnen kann. Und es gibt den dass-VL-
Imperativsatz (Dass du mir ja rechtzeitig wieder zuhause bist!) und den infiniten
Imperativsatz (Rasen nicht betreten!, Fahrgäste bitte alle aussteigen!). Mit Impe-
rativsätzen können Aufforderungen, Bitten, Befehle realisiert werden, aber auch
Vorschläge gemacht (Geh doch ins Kino!) oder eine Erlaubnis ausgesprochen
werden (Okay, okay. Fahr in die Stadt und vergnüg dich in der Disco!).
4. Auch bei den Wunschsätzen (Optativsätzen) kann man zumindest drei Typen
unterscheiden: den V1-Wunschsatz (Wäre ich nur nicht in das Boot gestiegen!,
Möge diesem Land Glück und Frieden beschieden sein!, Schlaf gut!), den dass- bzw.
wenn-VL-Wunschsatz (Oh dass ich doch vorsichtiger gewesen wäre! Oh wenn
ich doch nur vorsichtiger gewesen wäre!) und den infiniten Wunschsatz (Noch
einmal Venedig sehen!). Sie dienen – wie ihr Name sagt – typischerweise dazu,
zum Ausdruck zu bringen, dass der Sprecher sich etwas Bestimmtes wünscht.
5. Schließlich gibt es noch die Exklamativsätze: Hat der aber eine große Nase! (V1-
Exklamativsatz), Der hat aber eine große Nase! (V2-Exklamativsatz), Wie groß
dessen Nase ist! (w-VL-Exklamativsatz), Was hat der aber für eine große Nase!
(w-V2-Exklamativsatz), Dass der aber auch so eine große Nase haben muss!
(dass-VL-Exklamativsatz). Exklamativsätze haben die illokutive Funktion, zum
Ausdruck zu bringen, dass der Sprecher etwas Bestimmtes für ›erstaunlich‹ hält.
Es herrscht in der Debatte über das Verhältnis von Satztyp und Illokution noch keine
Einigkeit darüber, wie genau das Verhältnis zwischen beiden aussieht. Es ist auch
strittig, was ein Satztyp überhaupt ist. Ist er eine bestimmte Art von Konstruktion
mit formalen und inhaltlichen Aspekten (wie bei Altmann) oder eine Konfiguration
bestimmter Formelemente (wie bei Brandt et al. 1992 und Reis 1999)? Zu dieser
Diskussion vgl. Finkbeiner/Meibauer (2015). Mit Meibauer et al. (2013) liegt ein
umfassendes Handbuch zu den Satztypen im Deutschen vor.
Fragen wir uns noch, welches Verhältnis diese Aufteilung von Sätzen in Satzty-
pen zu der Klassifikation von Sprechakten hat, die wir in Kapitel 6.5.4 kennen gelernt
haben – also zu der Unterscheidung in Assertive, Direktive, Kommissive, Expressive
und Deklarationen. Assertive und Aussagesätze scheinen einander weitgehend zu
entsprechen, aber wir haben ja erwähnt, dass explizit performative Äußerungen
die Form von Aussagesätzen haben und somit mit Aussagesätzen nahezu beliebige
Sprechakte vollzogen werden können (und nicht nur Assertive). Schwierigkeiten gibt
es auch bei den Frage- und Befehlssätzen: Bei Searle werden Fragen zu den Direktiven
gerechnet, Frage- und Befehlssätze realisieren danach Sprechakte desselben Typs. Für
Kommissive und Deklarationen gibt es keinen eigenen Satztyp im Deutschen, Expres-
sive jedoch kann man mit Exklamativsätzen in Zusammenhang bringen. Die beiden
Klassifikationen fallen also sehr auseinander und zwar nicht nur im Deutschen: Zum
Beispiel werden Interrogativ- und Imperativsätze in allen Sprachen satztypmäßig un-
terschieden, von keiner Sprache ist bekannt, dass sie für Deklarationen einen eigenen
Satztyp bereitstellen würde (vgl. Sadock/Zwicky 1985, Sadock 1990).
244
6.7
Fokus-Hintergrund-Gliederung
6.7 | Fokus-Hintergrund-Gliederung
Die Information, die in einer Äußerung geliefert wird, wird auf eine bestimmte Art
und Weise dargeboten. So kann ein Teil der Information als »Thema« oder »Topik«
ausgezeichnet sein, so dass die Äußerung als ein »Kommentar« zu diesem Thema
bzw. Topik verstanden wird. Die gelieferte Information kann aber auch nach »alt«
und »neu« gegliedert sein, nach »Hintergrund« und »Fokus«. Die Topik-Kommentar-
Gliederung und die Fokus-Hintergrund-Gliederung sind zwei Formen der Informa-
tionsgliederung von Sätzen. Auf die Fokus-Hintergrund-Gliederung wollen wir hier
etwas genauer eingehen (zur Topik-Kommentar-Gliederung vgl. einführend Musan
2010).
Betrachten wir die folgenden drei Frage-Antwort-Paare, bei denen in der Ant-
wort durch Großbuchstaben angezeigt wird, welches Wort einen besonders starken
Akzent trägt (oft wird nur die akzenttragende Silbe des Wortes groß geschrieben):
(37) A: Wer hat das Unglück beobachtet?
B: CharLOTte hat das Unglück beobachtet.
(38) A: Wer hat das Unglück beobachtet?
B: *Charlotte hat das UNglück beobachtet.
(39) A: Wer hat das Unglück beobachtet?
B: *Charlotte hat das Unglück beObachtet.
In Satz (37) bekommt Charlotte den stärksten Akzent, in (38) ist dies Unglück und
in (39) beobachtet. Intuitiv ist klar, dass nur (37) ein stimmiges Frage-Antwort-Paar
ist (deshalb ist der Antwortsatz in (38) und (39) mit einem Stern versehen als Zeichen
dafür, dass er im Kontext der Frage unakzeptabel ist – der Satz für sich genommen
ist natürlich völlig in Ordnung).
Anders verhält es sich, wenn die Frage lautet Was hat Charlotte beobachtet?
oder Hat Charlotte von dem Unglück gehört? In der Antwort auf die erste Frage muss
der Satzakzent auf Unglück liegen (Charlotte hat das UNglück beobachtet), in der
Antwort auf die zweite Frage auf beobachtet (Charlotte hat das Unglück beObachtet).
Es ist nicht schwer, sich einen ersten Reim auf diese Verhältnisse zu machen. Das,
nach dem gefragt wird, muss in der Antwort intonatorisch hervorgehoben werden.
Ist dies nicht der Fall, passt die Antwort nicht zu der Frage. Durch die intonatorische
Hervorhebung wird der Fokus des Satzes markiert. Diesen kennzeichnet man in der
linguistischen Literatur oft durch eckige Klammern mit dem Index F (für Fokus).
(40) a. [CharLOTte]F hat das Unglück beobachtet.
b. Charlotte hat [das UNglück]F beobachtet.
c. Charlotte hat das Unglück [beObachtet]F .
In (a) und (c) besteht der Fokus nur aus dem intonatorisch hervorgehobenen Wort. In
(b) jedoch umfasst der Fokus neben dem intonatorisch hervorgehobenen Wort auch
noch den Artikel, d. h. die ganze Nominalphrase ist Fokus. Doch auch noch größere
Einheiten können fokussiert sein – eine Verbalphrase oder ein ganzer Satz etwa:
(41) Was hat Charlotte gemacht? Charlotte hat [ein UNglück beobachtet]F .
(42) Was war los? [Charlotte hat ein UNglück beobachtet]F .
Wenn mehr als nur das akzentuierte Wort fokussiert ist, spricht man von »Fokuspro-
jektion«, das Wort, das dabei den Akzent trägt, heißt »Fokusexponent«. Das, was
245
6.7
Pragmatik
nicht Fokus des Satzes ist, wird »Hintergrund« genannt. So kommt es zu der Redeweise
von der Fokus-Hintergrund-Gliederung, die wir schon kennen.
Es ist eine traditionelle Sichtweise, dass die durch die Akzentuierung erreichte
Aufgliederung eines Satzes in Fokus und Hintergrund den semantischen Gehalt des
Satzes in neue und alte Information aufteilt. Dem Fokus entspricht die (relativ zum
Kontext) neue Information, dem Hintergrund entspricht die (relativ zum Kontext)
alte Information. Betrachten wir dazu (43).
(43) Was hat Charlotte beobachtet?
Charlotte hat [das UNglück]F beobachtet.
Mit der Frage wird präsupponiert (oder: implikatiert; s. Kap. 6.4.1), dass Charlotte
etwas beobachtet hat. Der Fokus in der Antwort ist ›das Unglück‹, der Hintergrund
ist ›Charlotte hat etwas beobachtet‹. (Der semantische Gehalt des Hintergrunds
ergibt sich aus dem Gehalt des Satzes, wenn ein passendes Indefinitpronomen an
die Stelle des Fokus gesetzt wird.) Das Frage-Antwort-Paar (43) ist in dem Sinne ein
stimmiges Frage-Antwort-Paar, als der Hintergrund der Antwort als alte Information
zur Präsupposition der Frage passt (mit ihr sogar identisch ist) und der Fokus ›das
Unglück‹ die neue Information darstellt. Anders ist dies in (44):
(44) Was hat Charlotte beobachtet?
*[CharLOTte]F hat das Unglück beobachtet.
Hier passt der Hintergrund der Antwort (›Jemand hat das Unglück beobachtet‹) nicht
zur Präsupposition der Frage (›Charlotte hat etwas beobachtet‹), der Hintergrund
kann in diesem Kontext nicht als alte Information gelten und der Fokus nicht als neue.
Ein großes Problem für die traditionelle Sichtweise ist, dass der Fokus nicht
immer neue Information darstellt. In den beiden Äußerungen von B stellt der Fokus
keine neue Information dar, da vom Kanzler ja bereits die Rede war.
(45) A: Die Schwester des Kanzlers hat der Opposition ihre Stimme gegeben.
B: Nein, sie hat ihre Stimme dem KANzler gegeben.
(46) A: Wem hat die Schwester des Kanzlers ihre Stimme gegeben?
B: Sie hat ihre Stimme dem KANzler gegeben.
246
6.8
Konversationsstruktur
der Hauptmann; und von diesen ›Alternativen‹ zu Eduard wird in dem Satz ausgesagt,
dass sie nicht abgereist sind.
Eine andere Fragestellung bei der Fokus-Hintergrund-Gliederung ist, welches
Wort bei Fokusprojektion den Akzent zu tragen hat, also was Fokusexponent sein
kann und was nicht. Während etwa (48a) eine akzeptable Sequenz darstellt, tut dies
(48b) nicht.
(48) a. Was hat Charlotte gemacht? Sie hat [ein UNglück beobachtet]F .
b. *Was hat Charlotte gemacht? Sie hat [ein Unglück beObachtet]F .
Unglück ist ein möglicher Fokusexponent für die Phrase ein Unglück beobachtet, aber
beobachtet ist kein möglicher Fokusexponent für die Phrase ein Unglück beobachtet.
Es sind ganz bestimmte Regeln, die für die richtige Platzierung des Akzents sorgen
(vgl. Uhmann 1991, § 5; Féry 1993, § 1.3; Korth 2014, § 4).
Wir haben es bei der Fokus-Hintergrund-Gliederung mit einem Phänomen
zu tun, bei dem Intonation, Syntax, Semantik und Pragmatik sehr eng miteinander
verwoben sind. In der Syntax erhält ein Satz eine Fokus-Hintergrund-Gliederung
dadurch, dass ein Teil des Satzes als Fokus ausgezeichnet wird. Davon ausgehend gibt
es einerseits Regeln, die festlegen, wo der Akzent in der fokussierten Phrase platziert
sein muss, und andererseits Regeln, die festlegen, wie der Kontext aussehen muss,
damit die Fokus-Hintergrund-Gliederung des Satzes zu dem Kontext passt (nämlich
die Regeln, die fordern, dass der Hintergrund sich aus dem Kontext ableiten lässt).
Wegen Letzterem ist es gerechtfertigt, die Fokus-Hintergrund-Gliederung mit in der
Pragmatik abzuhandeln. Einen breiten Überblick über die verschiedenen Aspekte
und theoretischen Ansätze zur Fokusproblematik bietet Kadmon (2001, §§ 12–21).
6.8 | Konversationsstruktur
Die Konversationsanalyse (auch Gesprächs-, Diskurs- bzw. Dialoganalyse genannt)
befasst sich mit der Aufzeichnung, Transkription und Analyse von Gesprächen (un-
terschiedlichster Art). Es wird anders als in anderen Bereichen der Linguistik größter
Wert darauf gelegt, authentisches sprachliches Material zu untersuchen, und sich
nicht auf Intuitionen und Erinnerungen zu verlassen. Dazu wurden verschiedene
Konventionen der Transkription (Verschriftlichung) von Gesprächen entwickelt (vgl.
Brinker et al. 2001, XV). Wir greifen im Folgenden einen Aspekt von Gesprächen
heraus und zwar ihre hochkomplexe ›sequentielle Organisation‹. Die Pionierarbeit
auf diesem Gebiet wurde in den 1970er Jahren von einer Gruppe von Soziologen um
Harvey Sacks und Emanuel A. Schegloff geleistet.
Stellen wir uns vor, A befindet sich auf einer Autofahrt, als ihm plötzlich das
Benzin ausgeht und er am Straßenrand anhalten muss. Glücklicherweise befindet er
sich in einer größeren Stadt und nicht auf dem platten Land. Und glücklicherweise
kommt auch gerade jemand vorbei, nämlich B. Es entwickelt sich folgender kleiner
Dialog:
247
6.8
Pragmatik
6.8.1 | Sprecherwechsel
Bei dem Dialog in (49) kommen die beiden Sprecher, A und B, abwechselnd zum
Zuge: A-B-A-B-A-B-A. Dieser Dialog, wie ein Gespräch allgemein, ist eine Abfolge
von aufeinander abgestimmten Redezügen der verschiedenen Gesprächsteilnehmer.
Unter einem Redezug (engl. ›turn‹) versteht man die Gesamtheit der Äußerungen eines
Sprechers in einem Gespräch, während deren es zu keinem Sprecherwechsel (engl.
›turn-taking‹) kommt. Der Sprecherwechsel, d. h. der Übergang vom Redezug des
einen Gesprächsteilnehmers zum Redezug des anderen, geschieht oft in Sekunden-
bruchteilen und ohne Überlappung – kommen Überlappungen vor, so sind sie meist
sehr kurz gehalten. Dass der Sprecherwechsel so reibungslos funktionieren kann,
ist umso erstaunlicher, als in informellen Gesprächen die Abfolge wie die Länge der
einzelnen Redezüge nicht von vorneherein fixiert ist, ebenso wenig die Länge und der
Inhalt des gesamten Gesprächs oder die Anzahl der Gesprächsteilnehmer.
Harvey Sacks, Emanuel A. Schegloff und Gail Jefferson haben in »A Simplest
Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation« (1974 [1978]) die
Regeln herausgearbeitet, die dafür sorgen, dass der Sprecherwechsel so reibungslos
vonstatten gehen kann: An bestimmten Stellen des Gesprächs kann der Sprecher den
nächsten Sprecher auswählen, geschieht dies nicht, kann sich der nächste Sprecher
selbst auswählen, indem er seinen Beitrag beginnt, geschieht auch dies nicht, kann
der Sprecher seinen Redezug einfach fortsetzen.
An welchen ›Stellen‹ kann ein Sprecherwechsel stattfinden? Offensichtlich wis-
sen die Gesprächsteilnehmer gut, wann dies möglich ist, und wann nicht (sonst würde
es viel öfter zu Überlappungen und langen Pausen kommen). Denn sie wissen, mit
welchen sprachlichen Einheiten man einen vollständigen Redezug realisieren kann.
Diese sprachlichen Einheiten können ganze Sätze sein (wie Entschuldigen Sie!), aber
auch kleinere Einheiten bis hin zu einfachen Worten wie Ja? Solche sprachlichen
Einheiten werden (rede)zugbildende Einheiten genannt. Da die Gesprächsteilnehmer
wissen, was eine zugbildende Einheit ist, wissen sie auch, wann diese zu Ende ist.
Dieses Ende ist eine Stelle, an der ein Sprecherwechsel stattfinden kann, d. h. eine
übergaberelevante Stelle. Die Regeln für den Sprecherwechsel – bzw. die Regeln für
die Zuweisung des Rederechts – nehmen auf diese übergaberelevanten Stellen Bezug
(Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, 704 [1978, 12 f.]):
248
6.8
Konversationsstruktur
Regel 1 Ist bei einem Redezug die erste Stelle erreicht, wo ein Sprecherwechsel möglich ist,
d. h., ist die erste übergaberelevante Stelle erreicht, dann gibt es folgende Möglich-
keiten:
a. Wenn der Redezug so gestaltet ist, dass der gegenwärtige Sprecher bereits einen
nächsten Sprecher ausgewählt hat, dann hat nur dieser Sprecher das Recht und die
Pflicht, an dieser Stelle den nächsten Redezug zu übernehmen (=Fremdwahl).
b. Wenn in dem Redezug keine Fremdwahl erfolgt ist, dann kann sich der nächste
Sprecher selbst auswählen. Das Rederecht erhält der Sprecher, der zuerst den neuen
Redezug beginnt (=Selbstwahl).
c. Wenn keine Fremdwahl erfolgt ist, dann kann der Sprecher seinen Redezug auch
fortsetzen, sofern keine Selbstwahl durch einen anderen Sprecher erfolgt.
Regel 2 Wenn es an der ersten übergaberelevanten Stelle des Redezugs nicht durch (1a) oder
(1b) zu einem Sprecherwechsel gekommen ist, und der Sprecher aufgrund von (1c)
seinen Redezug fortsetzt, dann kommen an der nächsten übergaberelevanten Stelle
die Regeln (1a) bis (c) erneut zur Anwendung. Erfolgt auch da kein Sprecherwechsel,
dann kommen die Regeln an jeder weiteren übergaberelevanten Stelle zur Anwendung
und zwar solange, bis ein Sprecherwechsel erfolgt.
Wenden wir nun dies alles auf den Dialog in (49) an. Der Dialog besteht aus sie-
ben Redezügen – vier von A und drei von B. Wie man an den Redezügen 4 bis 6
sieht, kann ein Redezug aus mehreren illokutionären Akten bestehen. In Redezug 5
etwa macht A erst eine Feststellung, dann bedankt er sich. In Gang gesetzt wird der
Dialog durch die Anrede Entschuldigen Sie, auf die B mit Ja? antwortet. Bei dem
Sprecherwechsel, der hier vor sich geht, handelt es sich um Fremdwahl (Regel 1a) –
der Sprecher wählt den nächsten Sprecher aus –, denn A hat eine Äußerung getan,
bei der vom Angesprochenen erwartet wird, dass dieser sprachlich darauf reagiert.
Ebenso verhält es sich bei Vielen Dank! – Keine Ursache und Auf Wiedersehen – Auf
Wiedersehen. Da Mir ist das Benzin ausgegangen eine indirekte Frage an B ist, auf
die A von B eine Antwort erwartet, liegt bei diesem Redezug auch eine Fremdwahl
vor. Einzig beim Übergang zu Redezug 5 Oh, da habe ich ja nochmal Glück gehabt.
Vielen Dank! liegt Selbstwahl (Regel 1b) vor. Dieser Redezug gibt auch ein Beispiel
für Regel 1c, die Fortsetzung des Redezugs durch den Sprecher, da kein Sprecher-
wechsel durch Fremd- oder Selbstwahl erfolgt. Nach Glück gehabt ist ein Satz zu
Ende, der alleine einen Redezug darstellen kann (d. h. der eine zugbildende Einheit
ist), eine übergaberelevante Stelle ist erreicht. Da A durch diese Feststellung B nicht
als nächsten Sprecher auswählt und dieser sich an dieser Stelle nicht das Rederecht
nimmt, was möglich wäre, führt A seinen Redezug fort. Erst an der nächsten über-
gaberelevanten Stelle und zwar am Ende der Dankesformel kommt es (nach Regel 2)
zu einem Sprecherwechsel. (Zum Sprecherwechsel von Redezug 2 zu 3 siehe unten.)
Eine der wichtigsten offenen Fragen auf diesem Gebiet ist die Frage, was genau
eine (rede)zugbildende Einheit ist (vgl. die Diskussion in Ochs et al. 1996).
6.8.2 | Paarsequenzen
Den Dialog (49) kann man in eine Reihe von sogenannten Paarsequenzen zerlegen:
Die Anrede Entschuldigen Sie und die Antwort Ja? bilden eine solche zusammenge-
hörige Sequenz aus zwei Teilen, mit der das Gespräch begonnen wird. Auf Wiederse-
hen – Auf Wiedersehen bildet eine Sequenz aus Abschiedsgruß und Erwiderung des
249
6.8
Pragmatik
Grußes, mit der das Gespräch beendet wird. Vielen Dank! und Keine Ursache bilden
eine Sequenz aus Dank und Erwiderung des Dankes. Schließlich gibt es noch eine
Sequenz aus Frage und Antwort: Mir ist das Benzin ausgegangen ist eine indirekte
Frage danach, wo A Benzin bekommen kann, Gleich hier um die Ecke gibt es eine
Tankstelle ist die Antwort auf diese Frage. Mit Oh, da habe ich ja nochmal Glück
gehabt kommentiert A diese Antwort – man kann also von einer Paarsequenz aus
Antwort und Kommentierung der Antwort reden.
Man kann diesen kleinen Dialog nicht nur fast vollständig in Paarsequenzen
zerlegen, die Sequenzen sind ineinander verwoben, insofern Äußerungen gleichzeitig
zu mehreren Paarsequenzen gehören können. Dies zeigt sich gut an Ja? in der zweiten
Zeile. Dies ist einmal die Antwort auf die Anrede, zum anderen ist es als Frage nach
dem Grund der Anrede zu verstehen. Diesen Grund nennt A dann auch in der fol-
genden Äußerung (Mir ist das Benzin ausgegangen). Diese ist selbst aber auch wieder
eine indirekte Frage danach, wo man hier Benzin bekommen könnte.
Die Paarsequenzen selbst geben dem Gespräch eine »lokale Organisation«,
die Art der Sequenzen und ihr Aufeinanderfolgen können dem ganzen Gespräch
aber auch eine ganz bestimmte »globale Organisation« geben: Eröffnungsphase –
Entfaltung der Gesprächsthemen – Beendigungsphase. Für Eröffnungsphasen typisch
sind sogenannte Aufruf-Antwort-Sequenzen: Entschuldigen Sie – Ja?; Eduard? – Ja?;
Mami! – Was gibt’s?; es klopft an der Tür – Herein!; es klingelt das Telefon – Wein-
haus Schmidt. Sie wünschen? (Das heißt, das Anklopfen und das Anrufen gelten als
›Aufrufe‹, die eine Antwort erwarten.) Charakteristisch für Aufruf-Antwort-Sequenzen
ist, dass sie zu etwas überleiten, normalerweise zum Grund für den Aufruf. Mit der
Einführung des (ersten) Themas beginnt der Hauptteil des Gesprächs, bei dem es zu
mehreren Themenwechseln kommen kann. Der Abschluss des (letzten) Themas leitet
zur Beendigungsphase über. In unserem Minidialog gehört zur Beendingungsphase
die Sequenz aus Dank (der sich auf den Anfang des Gesprächs bezieht, insofern er
ihn als eine Bitte um Information darstellt) und Erwiderung des Dankes sowie die
Verabschiedungssequenz.
Uhmann (1997, 77 f.) definiert: »Bei der Paarsequenzorganisation handelt es
sich um zwei zu einem Äußerungsformat fest verbundene, von zwei verschiedenen
Sprechern produzierte Äußerungen, wobei ein erstes Paarglied einem ganz bestimmten
zweiten vorangeht und dieses konditionell relevant (›conditionally relevant‹) macht,
d. h. für den Rezipienten obligatorisch und für den Produzenten erwartbar. Sobald ein
erstes Paarglied für den Rezipienten erkennbar produziert wurde, sollte der Sprecher
an der ersten übergaberelevanten Stelle seinen Redezug beenden, um dem Rezipien-
ten in dem vordeterminierten Raum Gelegenheit zur unmittelbaren Produktion des
zweiten Paarglieds zu bieten.«
6.8.3 | Reparatursequenzen
Wir sind noch nicht darauf eingegangen, dass B sich in unserem kleinen Dialog (49)
selbst unterbricht und sich korrigierend fortfährt: Beim Postamt, äh, gleich hier um
die Ecke gibt es eine Tankstelle. Der Grund liegt auf der Hand. B realisiert, dass es sich
bei A um einen Ortsunkundigen handeln muss, denn sonst hätte A nicht so gefragt,
wie er gefragt hat. Aber das heißt, dass A natürlich auch nicht wissen kann, wo das
Postamt liegt. Also würde A die Information, dass es beim Postamt eine Tankstelle
250
6.8
Literatur
gibt, nichts nutzen. Dies realisierend unterbricht B seinen Satz und setzt neu an. Hier
haben wir es mit etwas zu tun, was in der Konversationsanalyse Reparatur bzw.
Reparatursequenz genannt wird, nämlich um Aktivitäten, »in denen Konversations-
teilnehmer Probleme des Sprechens, Hörens oder Verstehens in vorausgegangenen oder
im Vollzug befindlichen Redezügen bearbeiten« (Uhmann 1997, 77). Die Reparatur
bezieht sich in unserem Fall auf die Präpositionalphrase beim Postamt. Initiiert wird
sie durch die Reparaturpartikel äh und sie besteht in der Ersetzung der PP durch die
Phrase gleich hier um die Ecke.
Man unterscheidet Selbstreparaturen und Fremdreparaturen je nachdem, ob
der Sprecher des zu reparierenden Redezugs selbst oder aber der Adressat dieses Re-
dezugs die Reparatur vornimmt. Eine Reparatur ist selbstinitiiert oder fremdinitiiert
je nachdem, ob der Sprecher des zu reparierenden Redezugs oder aber der Adressat
die Reparatur initiiert. Unser Beispiel in (49) ist eine selbstinitiierte Selbstreparatur.
In der Sequenz A: Ich habe die linke Seite freigelassen. B: Die LINke? A: Ich meine
natürlich die RECHte. liegt eine fremdinitiierte Selbstreparatur vor, in A: Ich habe die
linke Seite freigelassen. B: Halt! Du hast die RECHte Seite freigelassen. A: Ja, klar. eine
fremdinitiierte Fremdreparatur und in A: Dies ist ein – wie heißt das nochmal? B: Ein
Ergometer. eine selbstinitiierte Fremdreparatur. Der Begriff der Reparatur(sequenz) ist
so weit gefasst, dass er über die Korrektur von offensichtlichen Fehlern hinausgeht,
wie die Wortfindungsstörung in dem Beispiel für selbstinitiierte Fremdreparatur zeigt
(vgl. Schegloff/Jefferson/Sacks 1977, die grundlegende Arbeit zu Reparatursequenzen).
Literatur
Grundlegende Literatur
Altmann, Hans (1987): Zur Problematik der Konstitution von Satzmodi als Formtypen. In: Meibauer,
Jörg (Hg.): Satzmodus zwischen Grammatik und Pragmatik. Referate anläßlich der 8. Jahrestagung
der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, Heidelberg 1986. Tübingen: Niemeyer, 22–56.
Altmann, Hans (1993): Satzmodus. In: Jacobs, Joachim et al. (Hgg.): Syntax. Ein internationales
Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Berlin/New York: de Gruyter, 1006–1029.
Austin, John L. ([1961] 19793): Performative Utterances. In: Austin: Philosophical Papers. Oxford:
Oxford University Press, 233–252 (dt. in: Austin: Gesammelte philosophische Aufsätze. Stuttgart:
Reclam 1986).
Austin, John L. ([1962] 19752): How to do Things with Words. Cambridge, Mass.: Harvard University
Press (dt. Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Stuttgart: Reclam 1976).
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6.8
Pragmatik
Jürgen Pafel
254
7.1
7 | Spracherwerb
255
7.1
Spracherwerb
den. In der Schule und in Kursen findet ein gesteuerter Zweit- oder Fremdsprachen-
erwerb statt, d. h. die Aneignung der neuen Sprache erfolgt unter Anleitung. Von
ungesteuertem Zweitspracherwerb sprechen wir, wenn keine systematische Unter-
stützung durch Unterricht erfolgt. So haben viele der Gastarbeiter, die in den 60er
und 70er Jahren nach Deutschland kamen, ihre Deutschkenntnisse ohne Anleitung
erworben. Wie erfolgreich der Erwerb einer zweiten Sprache verläuft, wird von einer
Reihe von Aspekten beeinflusst, z. B. davon, in welchem Alter der L2-Erwerb beginnt.
Die kindliche Spracherwerbsfähigkeit ist dem Vermögen eines Erwachsenen, eine
Fremdsprache zu lernen, weit überlegen. Allerdings gibt es keine Einigkeit darüber, wie
lange Kinder diese Fähigkeit haben. Ändert sie sich schon mit fünf bis sechs Jahren,
also mit dem beginnenden Grundschulalter? Am Ende der Grundschulzeit? Oder ist
die Pubertät die kritische Entwicklungsperiode? Für Erwachsene gilt auf jeden Fall,
dass Faktoren wie der allgemeine Bildungsgrad, die persönliche Motivation, das
Beherrschen einer anderen Fremdsprache, die sozialen Kontexte, in denen die neue
Sprache gefordert und angeboten wird, und vieles andere mehr mitbestimmen, wie
gut eine Fremdsprache erworben wird.
Einen besonderen Fall des Spracherwerbs stellt der Wieder-Erwerb von Sprache
bei Menschen mit einer Aphasie dar. Unter Aphasie versteht man einen neurologisch
bedingten Verlust von sprachlichen Fähigkeiten (z. B. aufgrund eines Schlaganfalls
oder eines Hirntumors). Es gibt verschiedene Formen und Schweregrade von Apha-
sie. Allen gemeinsam ist, dass ein Teil des sprachlichen Wissens und meist auch der
Sprechfertigkeiten verlorengegangen ist und wieder erlernt werden muss. Der Sprach-
erwerb vollzieht sich hier anders als beim Kind, denn Aphasiker sind in der Regel
Erwachsene, die schon einmal eine Sprache erworben haben. Und er vollzieht sich
anders als der Erwerb einer Fremdsprache, weil zum einen der oder die Betroffene
nicht mehr über eine vollständig ausgebildete Erstsprachkompetenz verfügt, und
weil zum anderen die neurologische Schädigung meist nicht aufgehoben, sondern
nur gemildert und kompensiert werden kann.
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird der Begriff ›Spracherwerb‹ ausschließ-
lich auf den kindlichen Erwerb der Muttersprache bezogen, denn jede der genannten
besonderen Formen von Spracherwerb wäre ein Kapitel für sich wert.
Ausgangspunkt für alle unsere Überlegungen zum kindlichen Spracherwerb
sollte die Beobachtung sein, dass Kinder Sprache ohne besondere Anstrengung und
ohne besondere Anleitung erwerben. Doch – auch wenn die meisten Kinder Sprache
außerdem ohne Schwierigkeiten erwerben, dürfen wir die Komplexität der Erwerbs-
aufgabe nicht übersehen.
Aufgabe 1: Überlegen Sie, mit welchen Voraussetzungen ein Kind in den Sprach-
erwerb einsteigt im Unterschied zu einem Erwachsenen, der eine Fremdsprache
lernen will.
Schauen wir uns diese Aufgabe genauer an, erkennen wir, wie viele Teilaspekte zum
Spracherwerb dazugehören. Einige, mit Sicherheit nicht alle, sind die folgenden:
Das Kind muss erkennen, dass die lautlichen Äußerungen seiner Umgebung
absichtsvoll und bedeutungsvoll sind. Das Kind muss den akustischen Lautstrom
segmentieren und analysieren, um darin sprachrelevante Einheiten wie Phoneme,
Morpheme, Wörter und Sätze zu identifizieren. Es muss die komplexen artikulatori-
256
7.1
Was versteht man unter Spracherwerb?
257
7.1
Spracherwerb
Im folgenden Abschnitt 7.2 wird zunächst skizziert, wie der kindliche Spracherwerb
im Deutschen verläuft. Dabei sollen auch verschiedene Untersuchungsmethoden
vorgestellt werden, die in der Spracherwerbsforschung genutzt werden. Sowohl die
Fragestellung einer Untersuchung wie die Wahl eines Untersuchungsdesigns sind eng
verknüpft mit dem theoretischen Erwerbsmodell, in dem die empirisch gewonnenen
Daten interpretiert werden. Solche Erwerbsmodelle und Erklärungsansätze und ihre
258
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
Geschichte werden in Abschnitt 7.3 vorgestellt, aber sie spielen auch in der Darstel-
lung des Erwerbsverlaufs immer wieder eine Rolle.
259
7.2
Spracherwerb
fall, Lautstärke und Tonhöhe vermitteln Zuwendung und Aufmerksamkeit, und nur
gelegentlich Missbilligung und Tadel. Diese emotionale Färbung von Gesprochenem
erkennt der Säugling schon früh, wohl instinktiv. So wichtig diese Funktion aber auch
ist, wir wissen mittlerweile, dass sie allein noch nicht diese klare Bevorzugung von
Sprachlauten begründet, die sich beim Säugling beobachten lässt.
Tatsächlich ist das kindliche Gehirn neuronal auf Sprache ›gepolt‹. So reagieren
schon bei Säuglingen das rechte Ohr und die linke Großhirnhälfte stärker auf Sprach-
laute als auf andere Geräusche, beim linken Ohr ist es umgekehrt. Das entspricht
der Tatsache, dass sich bei den meisten Menschen die Sprachzentren in der linken
Großhirnrinde befinden. Die Wahrnehmung von Sprachlauten ist schon bei Säuglingen
auf phonematische Unterschiede ausgerichtet, während Unterschiede zwischen Lau-
ten, die nicht zu zwei verschiedenen Phonemen führen, uninteressanter sind – selbst
dann wenn die akustisch messbaren Unterschiede im ersten Fall viel geringer sind als
im zweiten (zum Phonembegriff s. Kap. 3.3.1). Das /k/ in Kiste wird beispielsweise
wesentlich weiter vorne im Mundraum artikuliert als in Kaste, weil die Artikulati-
onsstelle des folgenden Vokals schon auf die Verschlussbildung einwirkt. Daraus
kann man schließen, dass es in der auditiven Wahrnehmung von Lauten gar nicht
so sehr um alle akustischen Unterschiede gehen kann. Im Gegenteil, ziemlich viele
Aussprachevarianten müssen zu einer Phonem-Kategorie zusammengefasst werden
und als Realisierungen eines bestimmten Phonems akzeptiert werden. Unwichtige
Unterschiede werden ignoriert.
Interessanterweise funktioniert nun die Sprachwahrnehmung von Säuglingen
schon genau auf diese Weise und ist auf die Wahrnehmung von Phonemen vorbe-
reitet. Schon mit einem Monat reagieren Kinder zum Beispiel auf den Unterschied
zwischen /b/ und /p/; also auf einen Unterschied, der ausschließlich auf einer Dif-
ferenz der Stimmeinsatzzeit beruht (die dafür verantwortlich ist, dass wir /b/ als
stimmhafte Variante von /p/ wahrnehmen). Im Lauf der nächsten Monate werden
weitere minimale phonematische Kontraste im konsonantischen Phoneminventar
identifiziert, z. B. Unterschiede in der Artikulationsstelle wie sie zwischen /p/ und /t/
bestehen. Bemerkenswerterweise reagieren Kinder in dieser Phase auch auf akustische
Unterschiede, die zwar prinzipiell zu phonematischen Unterschieden in menschlichen
Sprachen führen können, die in ihrer Muttersprache aber nicht distinktiv sind. Diese
Beobachtung macht deutlich, dass Kinder eine besondere, von Geburt an angelegte
Aufmerksamkeit für Sprache haben, aber nicht für eine bestimmte Sprache, auch wenn
sie sehr früh schon die Umgebungssprache anderen Sprachen vorziehen.
Woher weiß man das? Wie kann man Sprachwahrnehmung bei Säuglingen
untersuchen? Es gibt verschiedene Untersuchungsmethoden, um mit Säuglingen zu
arbeiten. Eine davon, das ›Nuckelexperiment‹, soll hier kurz vorgestellt werden.
In diesem Design werden die Saugreflexe des Kindes kontrolliert. Das Kind
bekommt einen Schnuller, der mit einer Elektrode versehen ist, so dass die Saugfre-
quenz gemessen werden kann. Säuglinge reagieren auf etwas, was sie interessant
finden, durch verstärktes Saugen. Wenn also etwas die Aufmerksamkeit des Säuglings
erregt, beispielsweise ein neuer Laut oder eine neue Lautkombination, steigt die Nu-
ckelfrequenz. Wird etwas langweilig, weil bekannt, dann nimmt die Rate ab. Es gibt
so etwas wie eine Grundsaugrate, und die davon abweichenden Werte sagen etwas
über den Grad der Aufmerksamkeit des Säuglings aus. Dieser Experimenttyp kann
bei Säuglingen vom ersten Lebensmonat an durchgeführt werden.
260
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
261
7.2
Spracherwerb
soviel lautliche Ähnlichkeit mit zielsprachlichen Wörtern haben, dass sie interpre-
tiert werden können. Um dies erreichen zu können, muss das Kind schon vor der
Produktion erster Wörter seinen Artikulationsapparat und die neuronale Steuerung
der geforderten hochkomplexen Bewegungsabläufe ›trainieren‹.
Dieses ›Trainingsprogramm‹ beginnt mit dem ersten Schrei. Zunächst hat der
Säugling noch mit einem anatomischen Handicap zu ringen. So ist eine andauernde
Phonation nicht möglich, weil das Kind noch nicht zu einem längeren kontrollierten
Ausatmen mit konstantem Luftdruck in der Lage ist. Die erhöhte Lage des Kehl-
kopfes direkt am Ende des weichen Gaumens verhindert die separate Nutzung von
Mund- und Nasenraum, so dass die Bildung rein oraler Laute noch nicht gelingt und
alle Laute zunächst nasaliert sind. Die Zunge füllt fast den gesamten Mundraum, so
dass eine exakte Zungenpositionierung nicht möglich ist. Und die Zähne fehlen auch
noch. In den ersten Wochen kann das Kind zunächst nur schreien. Dann produziert
es allmählich verschiedene Laute, vor allem zentrale Vokale und velare Konsonanten.
Diese Lautproduktionen werden als Gurren bezeichnet. Zu Beginn des Aufbaus arti-
kulatorischer Fertigkeiten dominieren Vokale – es werden mehr als viermal häufiger
Vokale als Konsonanten produziert – und selbst am Ende des ersten Lebensjahres ist
das Verhältnis noch 2:1 (Kent/Miolo 1995).
Erst um den dritten Lebensmonat herum haben sich die physischen Bedingun-
gen so weit entwickelt, dass die notwendigen feinmotorischen Bewegungsabläufe,
die die Artikulationsorgane, also Zunge, Lippen, Kiefer usw. in Koordination
miteinander ausführen müssen, erworben werden können. Die Steuerung komple-
xer Bewegungen, wie sie für die Artikulation von Lauten, aber erst recht für die
Artikulation von Lautketten, also von Wörtern und Äußerungen, notwendig ist,
erwirbt das Kind durch Übung. Wie für andere Bewegungsabläufe, z. B. Krabbeln,
Greifen, Laufen müssen neuronale Netze geknüpft werden. Solche neuronalen Netze
entstehen nur, wenn das Kind aktiv ist, wenn es die Bewegungsabläufe ausprobiert
und ›Sprechen übt‹.
Ab dem dritten bis vierten Monat beginnt das Kind, Laute der Mutter nachzu-
ahmen und mit seiner Stimme zu spielen. Die Mutter sagt Guck-guck, und das Kind
ahmt den Tonfall dieser Äußerung mit den eigenen Lauten nach. Als die wichtigste
Phase in dieser vorsprachlichen Lautentwicklung gilt die Lallphase, die meist nach
dem sechsten Monat einsetzt und mehrere Monate andauert. Typisch sind einfache,
wiederholte Silben mit einer CV-Struktur wie bababa oder dadada, mit einem Ver-
schlusslaut und einem zentralen Vokal. Dieses reduplizierende Lallen dauert bis zum
zehnten Monat und wird dann von dem sogenannten ›bunten‹ Lallen abgelöst, in
dem mehrsilbige Lautketten mit Variation in der Artikulationsstelle auftreten (z. B.
daba) (Penner 2000).
Zu Beginn der Lallphase produziert das Kind ein Inventar an Lauten, das weit
über das der zu erwerbenden Sprache hinausgeht. Allerdings wird nur eine begrenzte
Menge davon häufig produziert. Im Sprachvergleich zeigt sich eine große Überein-
stimmung, welche Laute besonders häufig auftreten. Bei den Konsonanten sind das
[b], [m], [p], [d], [h], [n], [t], [g], [k], [j], [w] und [s], die im Alter von zehn Monaten
mehr als 90 % aller Laute ausmachen (Locke 1983). Bei den Vokalen dominieren
Vokale wie [´] und [A], während [i], [i:], [u], [u:] selten vorkommen. Im Erwerb des
Deutschen folgen dann bei den Konsonanten zwischen dem achten und vierzehnten
Lebensmonat Alveolare, dann Labiale und Velare. Hinsichtlich der Artikulationsart
262
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
dominieren Plosive, auch Frikative kommen häufig vor. Bis zum zehnten Monat etwa
hat das Kind seine Lautprodukte so weit dem Deutschen angepasst, dass man an
der Sprachmelodie und den verwendeten Lauten schon die Muttersprache erkennen
kann. Man kann sagen, das Kind lallt mit Akzent. Das ist die Phase, in der Kindern
zu ›schwätzeln‹ beginnen, d. h. Eltern berichten dann: ›Das hört sich schon an, als
würde sie mit uns sprechen, aber verstehen tun wir nichts davon.‹
263
7.2
Spracherwerb
Aufgabe 2: Welche Wort- und Silbenstrukturen produziert Hilde? Finden Sie Regu-
laritäten, die den oben beschriebenen entsprechen? Können Sie eine Entwicklung
entdecken? Und welche Schlüsse können Sie aus den Beispielen über den Input
ziehen, den Hilde von ihren Eltern bekommt?
Der phonologische Erwerb, also der Aufbau des phonologischen Systems, vollzieht
sich zunächst im Rahmen der Produktionsbeschränkungen, die die oben beschriebe-
nen kanonischen Formen vorgeben. Die Form eines möglichen Wortes ist beschränkt
– aber das ist sie in jeder vollständig entwickelten Sprache auch (s. dazu Fikkert/de
Hoop 2009). Es scheint plausibel, dass das phonologische System des Kindes zunächst
sehr rudimentär ist.
Ist es eine phonetische oder eine phonologische Beschränkung, die Hilde dazu
bringt, den Namen Paula als ala auszusprechen? Gegen die phonetische Erklärung
spricht, dass Hilde das [p] sprechen kann (s. (1)). Hat sie in ihrem mentalen Lexikon
die korrekte zielsprachliche phonologische Repräsentation gespeichert? Oder ent-
spricht die Form ala der mentalen Repräsentation, d. h. der phonologischen Form,
die im Lexikon gespeichert ist? Spiegelt sich also in dieser Form ihr phonologisches
Inventar und Regelwissen? Wenn das zweite der Fall ist, wie oder woran erkennt
das Kind, dass das Wort Paula, das es hört, und das Wort ala in seinem Lexikon zu-
sammengehören? Oder nimmt es Paula auch im Input als ala wahr? Gegen Letzteres
sprechen allerdings viele Beobachtungen über die kindliche Sprachwahrnehmung.
Diese Fragen sind bei weitem noch nicht geklärt, und sie betreffen nicht nur
die Phase der ersten 50 Wörter, sondern den gesamten phonologischen Erwerb. Es ist
davon auszugehen, dass es in den frühen Erwerbsphasen, also im zweiten und sicher
auch noch im dritten Lebensjahr, eine Interaktion zwischen phonetisch-artikulatori-
schen Fähigkeiten und phonologischem Wissen gibt. Auch ist sicher – das zeigen die
Untersuchungen zur Wahrnehmung – dass dieses Wissen im frühen Phonologieerwerb
weiter entwickelt ist als das artikulatorische Vermögen. Offen ist, wie viel weiter.
264
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
265
7.2
Spracherwerb
266
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
alle, unterspezifiziert, was dazu führt, dass mehrere Phoneme, die im zielsprachlichen
System distinkt sind wie /k/ und /t/, im kindlichen System zu einem unterspezifizierten
Phonem zusammenfallen. In dem /k/ –> /t/-Beispiel wären die Merkmale für Plosion
erworben, für die Artikulationsstelle noch nicht. Zusätzlich wird in solchen Modellen
angenommen, dass es Phoneme gibt, die grundsätzlich weitgehend unmarkiert sind,
d. h. ihre Merkmale ergeben sich durch generelle Redundanzregeln. /t/ gilt als ein
solches Phonem. /t/ muss also /k/ ersetzen, solange das Kind das Merkmal [+dorsal]
für /k/ noch nicht erworben hat. Dieser Zusammenhang zeigt sich in (4) im Kontrast
zur zielsprachlichen Repräsentation.
(4) kindliche Repräsentation zielsprachliche Repräsentation
/ Protophonem / /t/ /k/
[ Plosiv ] [ Plosiv ] [ Plosiv, +dorsal ]
Redundanzregel Redundanzregel
–> [ t ] –> [ t ] –> [k]
267
7.2
Spracherwerb
Wort werden eine Reihe von Informationen gespeichert, die in ihrer Gesamtheit als
Lexikoneintrag bezeichnet werden. Zu den Informationen, die mit einem Wort ge-
lernt und gespeichert werden müssen, gehören die phonetisch-phonologische Form,
Informationen zur Wortstruktur und Flexionsklasse, zur Wortart und vor allem die
Bedeutung (s. Kap. 2.1, 3.1, 4.3 und 5.2).
Allein diese wenigen Anmerkungen zum mentalen Lexikon sollten deutlich
machen, dass Kinder, wenn sie Wörter erwerben, mehr leisten müssen, als eine Liste
von Wörtern zu speichern. Indem ein Kind ein neues Wort lernt, muss es vielschich-
tige Informationen über dieses Wort entdecken und aufnehmen, diese Informationen
miteinander verknüpfen und Assoziationen zu schon bestehenden Lexikoneinträgen
aufbauen.
268
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
ein Wissen über Objekte, Lebewesen, Ereignisse und Handlungen und über Eigen-
schaften auf. Vertreter dieser Kategorien sind nun in der Sprache häufig, wenn auch
nicht absolut und eindeutig, mit bestimmten grammatischen Kategorien verbunden:
Objektkategorien mit Nomen, Ereignis- und Aktionskategorien mit Verben und Eigen-
schaftskategorien mit Adjektiven. Die semantic bootstrapping-Hypothese besagt, dass
Kinder diesen Zusammenhang nutzen und die semantischen Kategorien auf die mit
ihnen verbundenen Wortarten beziehen. Mit dieser Hypothese gibt es allerdings ein
Problem: Woran erkennt das Kind die Wortarten? Und woran erkennen wir, welcher
Wortart das Kinderwort angehört? Eigentlich können Wörter erst in ihrer Verwendung
im Satz, also an ihrer Stellung im Satz und an ihren morphologischen Markierungen
sicher als Nomen, Verben oder Adjektive erkannt und eindeutig verwendet werden
(sowohl von uns in der Analyse als auch vom Kind in der Sprachverarbeitung). Und
damit ergibt sich als entscheidender Entwicklungsschritt für den Erwerb von Wort-
arten der Einstieg in den syntaktischen Erwerb. Dieser Schritt findet am Ende der
50-Wort-Phase statt, wenn mit den Zwei-Wort-Äußerungen die ersten syntaktischen
Strukturen auftreten.
Zudem macht das Kind im Lauf des zweiten Lebensjahres auch in der kogni-
tiven Entwicklung entscheidende Fortschritte. Die meisten Kinder erkennen vor dem
Ende des zweiten Lebensjahres, dass Wörter Symbole sind; das heißt, sie erkennen,
dass Wörter Benennfunktion haben und als Symbole für Kategorien oder für Klassen
von Einheiten stehen. Es scheint, dass die Fortschritte im phonologischen und syn-
taktischen Erwerb sowie in der kognitiven Entwicklung zusammenwirken und dazu
führen, dass Kinder nun in ein neues Stadium der Sprachentwicklung eintreten, in
den sogenannten Wortschatzspurt.
269
7.2
Spracherwerb
kann es vorkommen, dass ein Kind das Wort Hund nur auf Dackel bezieht. Es ist in
dieser Verwendung nicht falsch, auch ein Dackel ist ein Hund. Logischerweise fallen
Unterdehnungen oft gar nicht auf. Überdehnungen kommen wahrscheinlich seltener
vor, aber sie fallen auf, weil eine Überdehnung eher als Fehler wahrgenommen wird.
Steht Hund für ›vierbeinige Haustiere‹, dann nutzt das Kind das Wort auch zur Be-
zeichnung von Katzen und Meerschweinchen.
Aufgabe 3: In den unter (1) genannten Beispielen finden Sie wauwau, das Hilde im
Alter von 14 bis 15 Monaten benutzt. Stern/Stern (1928, 22) geben den folgenden
Kommentar dazu: ›Zuerst für grauen Stoffhund, darauf für graue Stoffkatze und
für kleinen Gummihund. Bald auch zu lebendigen Hunden, seit 1;3 auch beim
bloßen Hören von Hundegebell und beim Anblick abgebildeter Hunde.‹
Interpretieren Sie dieses Beispiel im Hinblick auf Unter- und Überdehnung.
Über- und Unterdehnungen sind typisch für den frühen Wortschatzspurt bis etwa
zu einem Alter von 30 Monaten. Sie zeigen, dass die Bedeutung eines neuen Wortes
nicht von der ersten Verwendung an vollständig erworben ist.
270
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
gibt. Der Erwerb eines Wortes dehnt sich also auf mindestens zwei Phasen aus. Der
ersten Phase, dem fast mapping, folgt eine weitaus länger andauernde Phase, in der
die erste unvollständige Repräsentation immer weiter ausdifferenziert wird.
Man kann das fast mapping-Phänomen in vielen verschiedenen experimentellen
Anordnungen untersuchen. Eine Methode geht auf Rice/Woodsmall (1988) zurück.
Rice/Woodsmall nutzten dialogfreie Zeichentrickfilme, die sie mit einem dem Film
entsprechenden Text unterlegten, der eine Reihe seltener, für die Kinder unbekannter
Wörter enthielt. Diese Filme dienten als Input, in dem den Kindern neue Wörter prä-
sentiert wurden, die fast mapping-Prozesse anregen sollten. Andere Untersuchungen
arbeiten nur mit einem oder zwei neuen Wörtern, die einem künstlichen Gegenstand
zugeordnet werden. Die Fähigkeit, aus solchen Kontexten neue Wörter zu überneh-
men, lässt sich schon bei zweijährigen Kindern nachweisen.
Besonders zu Beginn des Lexikonaufbaus, also wenn sie erst wenige Wörter
kennen, stehen Kinder vor dem Problem, dass für ein neues Wort eine Vielzahl von
Referenten in Frage kommt. In der Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind ist
in diesen Situationen wichtig, dass sie einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus
haben (joint attention). Damit ist gemeint, dass sich die Aufmerksamkeit des Erwach-
senen und des Kindes auf dasselbe Objekt richten muss, damit referentielles Lernen
gelingt. Erwachsene achten darauf, dass das, was sie benennen oder kommentieren,
im Aufmerksamkeitsfokus des Kindes liegt. Das alleine reicht aber oft nicht. Zeigt ein
Erwachsener auf eine Tasse und nennt dieses Objekt Tasse, so – denkt man vielleicht
– sollte der Bezug, also die Referenz, und damit ein wichtiger Aspekt der Bedeutung
von Tasse dem Kind unmittelbar deutlich sein. Aber so einfach ist es nicht. Obwohl
wir davon ausgehen können, dass Zweijährige die Benennfunktion von Wörtern
erschlossen haben, folgt daraus nicht, dass dem Kind klar sein muss, dass sich das
Wort Tasse in unserem Beispiel auf den Gegenstand als Ganzes bezieht. Woher soll
das Kind wissen, dass sich das Wort nicht auf die Farbe des Gegenstandes bezieht?
Oder auf einen Teil des Gegenstandes, den Henkel beispielsweise? Und könnte nicht
auch die mit dem Gegenstand typischerweise verbundene Handlung des Trinkens
mit dem Wort gemeint sein?
Mit anderen Worten: Selbst, wenn es aus der Erwachsenensicht um einen
einfachen Fall von Zuordnung zwischen Objekt und Wort geht, muss die Art der
Beziehung für ein Kind zu Beginn des Lexikonerwerbs nicht so selbstverständlich klar
sein. Daher nehmen viele Spracherwerbsforscherinnen an, dass besonders im frühen
Spracherwerb lexikalische Prinzipien wirksam sind, die die möglichen Hypothesen
über den Bezug und die Bedeutung eines Wortes beschränken und steuern. Man kann
diese Prinzipien auch als unbewusste Erwerbsstrategien verstehen. Wie diese Prinzipien
zu formulieren sind, wieviele es gibt und zu welchem Zeitpunkt sie wirksam sind,
wird noch diskutiert (vgl. Clark 1993, Rothweiler 2001). Es gibt auch eine Reihe
von Autorinnen und Autoren, die die Annahme solcher Strategien für überflüssig und
generelle Lernmechanismen zur Erklärung des lexikalischen Erwerbs für ausreichend
halten (z. B. Bloom 2000).
Die grundlegendste Strategie, die whole object assumption (Markman 1989),
besagt, dass sich ein Wort immer nur auf ein Objekt als Ganzes bezieht, und nicht
auf Teile oder Eigenschaften von Objekten, wie das eben am Beispiel Tasse diskutiert
wurde. Diese Strategie hilft also, die Hypothesen über mögliche Bezüge und Bedeu-
tungen zu beschränken. Diese Strategie wirkt besonders im frühen Spracherwerb.
271
7.2
Spracherwerb
272
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
zum Alter von 12 bis 15 Jahren, und er durchläuft dabei verschiedene Stadien, wie
auch Szagun (1983) für Mut und andere Begriffe zeigen konnte.
Die Bedeutung und der Bedeutungserwerb von Objektwörtern wie Stuhl oder
Hund wird oft im Rahmen des Prototypenansatzes beschrieben. Der Prototypenansatz
stammt aus der Psychologie und besagt im Kern, dass viele unserer konzeptuellen
Kategorien (oder Begriffe) prototypisch strukturiert sind. Dabei vereint ein prototy-
pischer Kategorievertreter mehr und typischere Merkmale der Kategorie auf sich als
ein untypischer Vertreter. Eine klare Trennung zwischen sprachlicher Bedeutung und
konzeptueller Kategorie wird in diesem Ansatz nicht vorgenommen, und der Erwerb
von beidem ist eng miteinander verknüpft (zu Prototypen s. auch Kap. 5.2.4). Beson-
ders zur Erklärung von Über- und Unterdehnungen wird der Ansatz genutzt (s. o.).
Ein bekanntes Beispiel ist das folgende. Ein Kind hat als prototypischen Vertreter von
Mond die Vorstellung einer gelben Mondsichel. Aufgrund der Ähnlichkeit in Form
und/oder Farbe werden nun Croissants, Kuhhörner und Zitronenschnitze mit dem
Wort Mond bezeichnet, denn diese Objekte teilen visuell wahrnehmbare Merkmale
mit dem Prototyp Mond (Bowerman 1978). Der Auf- und Umbau der zielsprachlichen
Kategorie Mond und damit der Wortbedeutung erfolgt allmählich über die Aufnahme
von Kategorievertretern in die Kategorie (Extension) und über die Erschließung von
prototypischen Merkmalen (Intension). Falsche Kategorieexemplare wie Croissants,
Kuhhörner und Zitronenschnitze werden ausgeschlossen, sobald genügend Katego-
riemerkmale erworben sind, die auf diese Objekte nicht mehr passen, oder wenn für
diese Exemplare eigene Kategorien und Kategorienamen erworben sind.
Semantische Theorien, die Bedeutung als rein sprachliches Wissen fassen und
von konzeptuellem Wissen trennen, wie z. B. semantische Merkmalstheorien, spielen
in der aktuellen Diskussion zum Bedeutungserwerb vor allem im Bereich der Verbbe-
deutungen eine Rolle. So lässt sich beispielsweise bei Zustandsveränderungsverben
wie füllen sehr einfach eine Bedeutungskomponente ›Endzustand erreicht‹ ermitteln,
die diese Verben von reinen Handlungsverben wie schütten unterscheidet. Obwohl
diese Komponente relevant ist, ist sie selbst für viele achtjährige Kinder noch keine
notwendige Bedeutungskomponente. Die im Verb beschriebene Handlung steht im
Vordergrund, die Erreichung des Endzustands wird vernachlässigt (Wittek 1999).
In vielen Fällen verwenden Kinder Wörter, ohne dass sie ihre Bedeutung voll-
ständig erworben haben. So konnte Bryant (2012) zeigen, dass die Konzepte AUF, IN,
UNTER und ÜBER in einer ansteigenden Komplexitätsfolge stehen. Diese Konzepte
schlagen sich sowohl in den entsprechenden Präpositionen, aber auch in anderen
Lokalisationsausdrücken nieder und werden in der genannten Reihenfolge erworben,
wobei AUF, IN und UNTER noch im Lauf des vierten Lebensjahrs erworben werden,
aber selbst Fünfjährige noch Fehler mit AN und ÜBER produzieren.
Trotz vieler interessanter Einzelbefunde müssen wir mit Bloom (2000, 262)
sagen: Niemand weiß, wie Kinder die Bedeutung von Wörtern lernen. Insgesamt
wissen wir noch sehr wenig darüber, ob es verschiedene Erwerbswege gibt, wie sich
der Bedeutungserwerb von Wortart zu Wortart unterscheidet, inwieweit explizite
Definitionen durch Erwachsene eine Rolle spielen oder ab welchem Alter Definitio-
nen eine Erwerbsquelle sein können, und wie genau Kategorie- und Konzeptbildung
einerseits und Wortbedeutungserwerb andererseits in Beziehung zueinander stehen.
Im Bereich der Satzsemantik befassen sich Erwerbsforscherinnen damit, wie
Kinder semantisch komplexe Strukturen interpretieren. Die folgende Aufzählung
273
7.2
Spracherwerb
bezieht sich zwar auf Wörter, meist Funktionswörter, die aber jeweils auf die Inter-
pretation des gesamten Satzes einen entscheidenden Einfluss haben. Zur Illustration
wird gerne auf die unterschiedliche Satzbedeutung von ›alle Kinder reiten auf einem
Pferd‹ im Gegensatz zu ›jedes Kind reitet auf einem Pferd‹ verwiesen. Im ersten Fall
sind zwei Lesarten möglich (ein Pferd für alle vs. jedem sein Pferd), im zweiten Fall
nur eine (jedem sein Pferd). Zu den für Satzbedeutungen wichtigen Strukturen gehören
beispielsweise die Satznegation, w-Fragen, quantifizierende Ausdrücke wie jede/r, alle,
einige, die meisten, Fokuspartikeln wie auch und nur (Berger/Höhle 2012), Konjunk-
tionen wie sondern und aber, der Bedeutungskontrast von definiten vs. indefiniten
Artikeln, anaphorisch gebrauchte Personalpronomen (Bittner/Kühnast 2011) und
anderes mehr. Viele dieser semantisch-pragmatisch bedeutsamen Elemente werden
erst spät vollständig beherrscht, manche erst im Grundschulalter. So verstehen Kinder
erst im Alter von sechs Jahren Exhaustivität gepaarter w-Fragen wie ›Wer kann wo
malen?‹ so, dass sie die Frage mit einer vollständigen Liste der Subjekte und Orts-
angaben beantworten (Schulz/Roeper 2011). Zum Erwerb der Satznegation finden
Wojtecka et al. (2011), dass bereits Dreijährige korrekt negierte Sätze produzieren,
aber dass noch Vierjährige mit dem Verstehen solcher Sätze Schwierigkeiten haben.
Die Beispiele von Hilde stammen aus Stern/Stern (1928), das Beispiel von Jakob von
Geilfuß-Wolfgang (mdl. Mitteilung), die Beispiele von Gustav sind aus Meibauer
(1995) entnommen, und das Beispiel von David stammt aus meinen Daten.
Diese Beispiele zeigen vor allem den kreativen Umgang mit Wortbildungsmustern
des Deutschen, mit Komposition und Derivation (s. Kap. 2.3). Diese Neubildungen
wirken ungewöhnlich und irgendwie abweichend. Keines dieser Wörter kommt in
unserem ›Erwachsenen‹-Lexikon vor, zumindest nicht in der vom Kind intendierten
Bedeutung. Kinder nutzen – wie Erwachsene – Komposition und Derivation, um
lexikalische Lücken zu füllen (Clark 1993). Da diese Lücken bei Kindern bedeutend
größer sind als bei Erwachsenen, bilden sie häufig Wörter, die uns ungewöhnlich
vorkommen, weil wir in unserem Wortschatz bereits ein passendes Lexem haben. Das
Kompositum Brennlicht ist völlig regelhaft gebildet (wie das Wort Lauffeuer), aber es
274
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
konkurriert mit Stern. Stabiligkeit und Müller kommen uns – unter anderem – deshalb
ungewöhnlich vor, weil es Stabilität und Müllmann gibt. Wahrscheinlich sind Kinder
in ihrer Wortbildungsleistung noch weit kreativer, als wir denken. Wir können davon
ausgehen, dass viele Wörter, die sie neu bilden, gar nicht als neugebildet, höchstens als
neuerworben gewertet werden, weil es sich um Wörter der Zielsprache handelt. Können
Sie an Wörtern wie Gartenweg, Hundefloh oder wegpusten erkennen, ob es sich um
kindliche Neubildungen handelt? Nein, aber sie können es auch nicht ausschließen.
Es gibt drei Typen von Neubildungen, die als solche zu identifizieren sind:
Q Wörter wie Brennlicht, die korrekt gebildet sind, aber nicht im zielsprachlichen
Lexikon vorkommen;
Q Wörter, die es gibt, die das Kind vielleicht neu gebildet hat und mit abweichender
Bedeutung nutzt wie das abgeleitete Wort Müller;
Q Wörter, die gegen zielsprachliche Bedingungen und Beschränkungen des verwen-
deten Wortbildungsmusters verstoßen.
Offensichtlich hat das Kind in diesen Fällen noch nicht alle Bedingungen für den
jeweiligen Wortbildungsprozess aus dem Input durchschaut, sondern nur einen Teil.
In dem Beispiel Stabiligkeit hat das Kind bestimmte morphologische Regeln oder
Restriktionen zu Regeln noch nicht erworben. Wenn ein Kind also mit drei Jahren
eine Form wie Stabiligkeit bildet, kann man Folgendes daraus ablesen:
1. Das Kind bildet produktiv neue Wörter auf der Basis von bereits erworbenen
Wortbildungsregeln.
2. Das Kind hat erworben, dass mit dem Suffix -igkeit aus Adjektiven abstrakte
Nomen gebildet werden können.
3. Das Kind hat den besonderen Status von Adjektiven wie stabil, labil, fertil noch
nicht erkannt, sondern es behandelt diese Adjektive wie »deutsche« Adjektive.
4. Das Kind hat – möglicherweise – das Suffix -ität noch nicht erworben.
275
7.2
Spracherwerb
Aufgabe 4: Überlegen Sie zu den unter (5) genannten Beispielen zutraulich, Nas-
serei, Plattmacher, Komischheit und Steinmann, wie diese Formen gebildet sind
und welche zielsprachlichen Bedingungen möglicherweise nicht beachtet wurden.
7.2.5 | Flexionserwerb
Wortbildung und Flexion sind Teilbereiche der Morphologie. Beide beschreiben die
Bildung neuer Wörter: In der Wortbildung geht es um die Bildung neuer Lexeme. Wenn
wir von Flexion sprechen, meinen wir die Bildung von grammatischen Wortformen
für die Verwendung im Satz. Ein Schwerpunkt in Untersuchungen zum Flexionser-
werb ist der Zusammenhang zwischen morphologischer Markierung grammatischer
Relationen und syntaktischer Entwicklung (z. B. Clahsen 1988, Tracy 1991). In diesen
Arbeiten wird der morphologische Erwerb, d. h. der Erwerb der Flexionsformen, in
276
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
277
7.2
Spracherwerb
278
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
entstehen sowohl korrekte Formen, wenn das neue Verb ein reguläres Verb ist, und
überregularisierte Formen, wenn das neue Verb ein irreguläres Verb ist, zu dem das
Kind die irreguläre Partizipform noch nicht aus dem Input übernommen hat (vgl.
aber Szagun 2011).
Im Kontrast dazu steht ein Modell mit zwei unterschiedlichen Flexionsmecha-
nismen (Pinker/Prince 1988). In diesem Modell nimmt man an, dass schon Kinder
über zwei qualitativ unterschiedliche Flexionsmechanismen verfügen, wobei in der
regulären Flexion Regeln über symbolische Repräsentationen operieren. Das bedeutet,
dass eine reguläre Partizipform über eine Regelanwendung, die das Präfix ge- und das
Flexiv -t an den regulären Stamm anfügt, gebildet wird. Irreguläre Formen werden
in diesem Modell ähnlich behandelt wie im konnektionistischen Modell. Irreguläre
Formen werden als lexikalische Einträge beschrieben, die je einzeln gelernt werden
müssen. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Ansätzen ist die Frage nach
der mentalen Repräsentation regulärer Flexion. Analogiebildung zu irregulären Par-
tizipformen wird in beiden Modellen möglich, sobald die Repräsentationen dafür
stark genug sind, d. h. sobald eine bestimmte Menge solcher Formen gelernt worden
ist. Das ist erst bei älteren Kindern der Fall.
Die Darstellung dieser beiden Modelle ist hier stark vereinfacht. Im Englischen
sind die Häufigkeitsverhältnisse so, dass beide Modelle die Spracherwerbsdaten an-
gemessen erfassen. Im Deutschen sieht das etwas anders aus. Es gibt zwar viel mehr
reguläre Verben als irreguläre, aber die irregulären gehören zu den am häufigsten
gebrauchten. Außerdem wird das Flexiv -en bei irregulären Verben durchgängig
verwendet. Nach dem konnektionistischen Modell müssten Kinder im Deutschen
auf jeden Fall auch Überregularisierungen mit -en machen. Solche Formen kommen
aber nur sehr selten vor. Das Pinker/Prince-Modell hingegen besagt, dass Kinder für
den Status regulärer Flexive sensitiv sind und diese rasch im Input identifizieren, um
damit die Regel zu bilden, mit der sie dann reguläre Formen und eben auch Über-
regularisierungen generieren. Reguläre Flexive haben eine Reihe von Eigenschaften,
die sie von irregulären unterscheiden (vgl. dazu auch Clahsen/Fleischhauer 2014).
279
7.2
Spracherwerb
280
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
Man findet in dieser Phase Wörter aus allen lexikalischen Klassen, allerdings kaum
grammatische Funktionswörter wie Artikel, Konjunktionen, Auxiliare, Präpositio-
nen usw. und auch wenig Verben, eher Verbpartikeln wie auf oder weg. Es gibt erste
Negationen (nein! nicht!) und Einwortfragen, die nur intonatorisch markiert sind.
Das Ende dieser Erwerbsphase wird einerseits durch den Beginn des Wortschatzspurts
markiert, und andererseits dadurch, dass das Kind beginnt, zwei und gelegentlich auch
mehr Wörter miteinander zu kombinieren. Damit ist der Einstieg in das syntaktische
Prinzip gelungen. Ein typisches Beispiel ist der unter (8) wiedergegebene Text aus
Miller (1976, 246), ein Dialog zwischen Meike (1;10) und ihrer Mutter.
(8) Meike spielt mit einer Milchdose.
kipp um kippen
mam ummache Meike gibt der Mutter die Dose.
M: Nee. Mama will nichts umkippen.
leine mache Meike nimmt selbst wieder die Dose, will Milch in
eine Tasse gießen. (leine = alleine)
Es kommt nichts aus der Dose heraus.
geht nich Meike hält der Mutter die Dose hin.
M: Geht nicht?
mama suchen An die Mutter gerichtet. (suchen = versuchen)
M: Mama versucht’s. Na ja!
In diesen Äußerungen fehlen so gut wie immer obligatorische Elemente, oft das Sub-
jekt, und nach wie vor die meisten Funktionswörter. Die Beziehung zwischen den
Elementen in Zweiwortsätzen ist in manchen Kombinationen eher semantisch, in
anderen eher syntaktisch-funktional beschreibbar. Es sind Relationen wie Benennung
von Objekten, Vorhandensein und Nicht-Vorhandensein von Objekten, Aktion und
Agens oder Aktion und Objekt, Besitzer und Objekt, Lokalisation von Objekt oder
Handlung. Viele dieser Relationen lassen eine Verbindung zur kognitiven Entwicklung
281
7.2
Spracherwerb
des Kindes erkennen, beispielsweise zur Entdeckung der Symbolfunktion von Wörtern
und zur Kategoriebildung. Worüber noch Unklarheit besteht, ist die Frage, ob Kinder
in diesem Stadium schon verschiedene Wortarten grammatisch unterscheiden, also
sprachliche Kategorien wie Nomen, Verb und Adjektiv (s. Kap. 7.2.3).
Die qualitative Bestimmung der Phasen orientiert sich am Auftreten neuer morpho-
syntaktischer Formen und Satzstrukturen. In den Phasen II und III ist Verbendstellung
dominant, Verben kommen überwiegend in der Stamm- oder Infinitivform vor und
Subjekte, Auxiliare, Verben, Artikel und Präpositionen werden häufig ausgelassen.
Gegen Ende der Phase III tritt das Flexiv -t dazu, und Modalverben treten auch schon
282
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
mit einem Vollverb zusammen auf, d. h. in Phase III gibt es Belege dafür, dass das
Kind zwischen zwei verschiedenen Verbpositionen im Satz unterscheiden kann (s.
Kap. 4.2). Typische Äußerungen der Phase III sind unter (10) zusammengestellt. Die
Sätze stammen von Mathias und Daniel im Alter von 2;9 und 2;10 (Clahsen 1982,
Clahsen 1988) und von Hilde im Alter von 2;0 und 2;2 (Stern/Stern 1928, 46 f.).
(10) Mathias 2;9
auto umkipp
die auto kipp. die auto hier (boot) umkipp
ich jetzt hab (= eine Mundharmonika)
julia schere nich darf
diese scharfe scher
scharf
nur pier (= die ist nur für Papier)
julia nein
julia kann nich papp neiden (= Pappe zerschneiden)
Daniel 2;10
ich schaufel haben
Hilde 2;0
hommt da? (= wer kommt da?)
mama, zeig doch die bilder!
ball pieln! mama ball suchen! homm doch!
leich ba gehn un sand spieln, ja? (= gleich spazieren gehen … )
Hilde 2;2
keine trümpfe an! (= ich hab keine Strümpfe an.)
sieh doch! hab de trümpfe.
In Phase III richtet sich die Verbform nicht durchgängig nach den Merkmalen des
Subjekts, also nach Numerus und Person. Vor allem das Verbflexiv -n wird noch nicht
zur Markierung von Subjekt-Verb-Kongruenz verwendet (z. B. mama ball suchen),
während -t meist mit 3. Ps. Sg.-Subjekten vorkommt. Viele Verbformen sind nicht-
finit, d. h. sie werden entweder unflektiert in der Stammform verwendet (umkipp)
oder sind Infinitive. Diese Formen stehen am Satzende in der Position für nicht-finite
Verben, in der rechten Satzklammer. Schon in dieser Phase werden also zielsprachliche
Verbstellungsrestriktionen beachtet. Mit -t flektierte Verben oder Imperative hingegen
besetzen eher die linke Satzklammer, so dass (S)VX-Sätze gebildet werden.
Clahsen (1988) beobachtet in seinen Daten in der folgenden Phase IV zwei
miteinander verbundene Entwicklungen. Als letztes Flexiv des Verbflexionsparadigmas
tritt das -st auf. Dieses Flexiv wird von Beginn an korrekt eingesetzt und kommt nur
mit du-Subjekten bzw. in du-Kontexten vor. Alle Verben werden nun überwiegend
richtig flektiert, d. h. das Kind markiert Subjekt-Verb-Kongruenz.
Dass -st als letztes der SVK-Flexive auftritt, mag damit zusammenhängen,
dass es die höchste phonologische Komplexität hat, da es als einziges Flexiv aus
einem Konsonantencluster besteht und damit den Silbenauslaut der Silbe, an die
es anschließt, sehr komplex werden lässt. Der Erwerb der Silbenstruktur muss also
soweit vorangeschritten sein, dass solche komplexen Auslautstrukturen möglich
sind. Der Erwerb von -st als Flexiv mit der grammatischen Bedeutung 2. Ps. Sg.
führt zum Erwerb der morphosyntaktischen Dimension PERSON, und löst so die
283
7.2
Spracherwerb
korrekte Belegung der Flexive für die 1. und 3. Ps. Sg. aus. Der Kontrast zwischen
den Personmarkierungen im Singular und Plural dann ermöglicht es, dass auch das
Flexiv -n über die Dimension PLURAL hinaus mit der Information für PERSON belegt
wird. So kann man einerseits beobachten, dass die Flexive im Erwerb in der Abfolge
-n/-0 < -t < -st auftreten, dass aber andererseits für den Erwerb der SVK-Bedeutung
der Flexive die Abfolge 2. Ps. Sg. -st < 3. Ps. Sg. -t < 1./3.Ps.Pl. -n gilt (Clahsen/Penke
1992, Grijzenhout/Penke 2005).
Der Anteil von Sätzen mit korrekter Verbstellung steigt auf 90 % und mehr an,
so dass fast keine Verbstellungsfehler mehr auftreten. Fragen und Sätze mit Satzne-
gation werden mit der zielsprachlichen Wortstellung gebildet; in vielen Fällen liegt
dann Subjekt-Verb-Inversion vor. Vor allem die Distanzstellung verbaler Elemente
im Satz wird nun durchgängig vollzogen: in Modalverbkonstruktionen, in Perfekt-
sätzen, in Sätzen mit Kopula und prädikativem Adjektiv und in der Trennung von
Partikelverben. Unter (11) sind Sätze von Mathias im Übergang zur Phase IV (3;1)
und unter (12) aus der Phase IV (3;6) zusammengestellt (Clahsen 1982).
(11) Mathias 3;1
du sollst nich kochen
das geht doch kaputt. das schiff
hat ein hund
ich bau ein mast
ich kann ein tier mach(en)
wo is daniels messer?
ich baun für julia ein schiff
(12) Mathias 3;6
HC = Wo is denn die Mama?
die is weg. in der praxis HC = Heute nachmittag?
nein. heute HC = Wart ihr heute morgen auch weg?
wir waren aber bei dörke HC = Wo wart ihr?
bei dörke HC = Wo ist das denn?
ganz weit weg
da kann man mit den auto hinfahrn
Die letzte von Clahsen (1986) beschriebene Phase im Grammatikerwerb ist die Phase
V. In dieser Phase treten die ersten Nebensätze auf. Bei einer Reihe von Kindern findet
man eine kurze Übergangsphase, in der zwar finite Verben schon am Satzende stehen,
die einleitende Partikel aber oft noch fehlt (Rothweiler 1993); (s. (13), Beispiele aus
Rothweiler 1993, 34; Hilde aus Stern/Stern 1928).
(13) papa sieh mal __ hilde macht hat (__ was; Hilde 2;6)
du solls die mama sang __ ich immer einen umfall mach (__ dass; Daniel 3;2)
__ ich geburtstag hab (__ weil; Antwort auf Warum-Frage; Marianne 3;3)
(14) de puppe lacht immer, wenn de hilde kommt (Hilde 2;11)
ma sehn, ob da eine stadt drin is (Daniel 3;6)
ja, bis e mami kommt, ja? (Marianne 3;4)
Kurze Zeit später, bei vielen Kindern auch zur selben Zeit, treten die einleitenden
Partikeln auf: subordinierende Konjunktionen wie weil, wenn, dass und ob, und
w-Elemente (s. Beispiel (14)). Wenig später werden dann auch Relativsätze gebildet.
Damit ist der Erwerb des deutschen Verbstellungssystems im Wesentlichen vollzogen.
284
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
Mit den Strukturen, die Kinder in diesen ersten fünf Phasen des Grammatiker-
werbs aufgebaut haben, haben sie die Grammatik des Deutschen in den Grundzügen
erworben. Das Kasussystem gehört neben den Nebensätzen zu den grammatischen
Phänomenen, die in dieser Phase im Zentrum des Erwerbs stehen. Schon die frühen
Studien zum Kasuserwerb (Clahsen 1984, Tracy 1986) belegten eine eindeutige Er-
werbsfolge von Nominativ über Akkusativ zu Dativ, wobei Nominativformen zeitweise
auf Akkusativ- und Dativkontexte übergeneralisiert werden, und sobald der Akkusativ
erworben ist, auch Akkusativformen Dativformen ersetzen können. Es sah zunächst
so aus, als wäre der Erwerb des Kasussystems dann mit Ende des vierten Lebensjahres
abgeschlossen. Spätere Studien aber kommen zu dem Ergebnis, dass insbesondere die
Verwendung des Dativs bei indirekten Objekten noch über das fünfte Lebensjahr hinaus
schwierig sein kann (Eisenbeiß et al. 2006, Schönenberger et al. 2012, Szagun 2004). Im
Bereich der Genus- und Numerusflexion und Kongruenz innerhalb der Nominalphrase
kommen noch geraume Zeit Fehler vor. Auch in anderen grammatischen Bereichen gibt
es noch Unsicherheiten. Sätze mit Konjunktivformen, Passivsätze, satzwertige Infinitive
werden erst später sicher produziert, zum Teil erst im Grundschulalter.
Die in diesem Abschnitt vorgestellten Daten und Ergebnisse basieren vorwie-
gend auf Studien, die mit Spontansprachdaten arbeiten. Das gilt für einen bedeutenden
Teil der Studien zum Syntaxerwerb. Zur Erhebung von Spontansprachdaten wird
ein Kind über einen Zeitraum von einer halben Stunde bis zu mehreren Stunden
beobachtet und sein Sprechen und sein Verhalten über Audio- oder Videoaufnahmen
dokumentiert. Viele Studien arbeiten mit longitudinalen Daten. Das bedeutet, dass die
Sprachentwicklung eines Kindes über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet und
dokumentiert wird. Arbeitet man mit mehreren Kindern vergleichend, dann werden
zu den Longitudinaldaten auch Querschnittsdaten erhoben. In Spontansprachdaten
spiegelt sich das sprachlich-produktive Wissen eines Kindes. Allerdings können wir
über Formen und Strukturen, die spontan nicht produziert werden, nur dann eine
Aussage machen, wenn in den Daten obligatorische Kontexte für diese Formen
und Strukturen vorliegen. Ist es in einem bestimmten Kontext nicht grammatisch
notwendig, eine bestimmte Konstruktion zu verwenden, kann man aus dem Fehlen
dieser Konstruktion nicht schließen, dass das Kind diese Konstruktion noch nicht
beherrscht. Aus diesem Grund werden Spontanspracherhebungen häufig durch Elizi-
tationsverfahren ergänzt, wie sie z. B. oben im Zusammenhang mit der Pluralflexion
beschrieben wurden. Andere Verfahren, um Einblicke in die grammatische Kompetenz
eines Kindes zu bekommen, sind Verständnistests, Grammatikalitätsbeurteilungen und
Nachsprechtests. So kann man aus Nachsprechleistungen, besonders aus kindlichen
Reformulierungen beim Nachsprechen, Rückschlüsse über die sprachliche Kompetenz
ziehen. Empirische Erwerbsstudien mit traditionellen Verfahren werden schon seit
Längerem durch experimentelle Studien mit Reaktionszeitmessungen, elektrophysio-
logischen Verfahren (EEG und EKP = ereigniskorrelierte Potentiale) oder bildgebende
Verfahren (fMRT = funktionelle Magnetresonanztomographie) ergänzt.
Aufgabe 6:
a. Berechnen Sie in den Beispielen (7) und (8) jeweils den MLU-Wert.
b. Stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie mit einem fünfjährigen Kind ein
Bilderbuch anschauen. Was erwarten Sie in Bezug auf den MLU-Wert der kind-
lichen Äußerungen?
285
7.2
Spracherwerb
Aufgabe 7: Schauen Sie sich die Beispielsätze unter (10), (11) und (12) genau an
und überprüfen Sie sie hinsichtlich Verbflexion und Verbstellung, sowie hinsichtlich
der Auslassung von Subjekten und Artikeln. Beschreiben Sie die grammatischen
Fortschritte, die Sie entdecken. Können Sie etwas über Kasusmarkierungen sagen?
286
7.2
Der Verlauf des Spracherwerbs
immer zuverlässigerer Dialogpartner. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass die Be-
zugspersonen darauf achten, dass das Kind angemessen ›zu Wort kommt‹. Da kleine
Kinder noch nicht besonders kompetente und kooperative Gesprächspartner sind,
sind sie in der Interaktion mit Gleichaltrigen wesentlich weniger erfolgreich als mit
Erwachsenen. Ihre Versuche, miteinander ins Gespräch zu kommen, enden häufiger
einmal im Monolog anstatt im Dialog.
Ebenfalls sehr früh entwickelt sich die Fähigkeit, verschiedene Sprechakte
auszuführen. Pan/Snow (1999) beschreiben, dass Zweijährige etwa zwölf verschie-
dene Sprechakte nutzen, vor allem Aufforderungen (zu einer Aktion), z. B. geh weg!,
Zurückweisung oder Zustimmung zu Aufforderungen, die an sie gerichtet sind (ja/
nein), Feststellungen und Absichtserklärungen sowie Antworten auf Fragen. Diese
Sprechakte beziehen sich zunächst nur auf die konkrete Situation, d. h. auf Aktionen
und Objekte in der unmittelbaren Umgebung. Nach und nach erweitert das Kind
seine kommunikativen Aktivitäten auf Nicht-Präsentes. Sprache und Sprachhandeln
wird dekontextualisiert. Erst damit werden Sprechakte wie Drohen und Versprechen
möglich.
Das Erzählen von Geschichten oder Witzen gelingt Kindern erst im Grund-
schulalter in einer erwachsenensprachlichen Form. Es ist ein langwährender Erwerbs-
prozess, bis Kinder den Aufbau einer Geschichte und die Integration von einzelnen
Ereignissen in einen Gesamtrahmen beherrschen. Dazu gehören auch grammatische
Mittel, wie der angemessene Einsatz von direkter und indirekter Rede. Hier spielt
komplexe (Morpho-)Syntax in subordinierten Sätzen, in Passivkonstruktionen und
Konjunktivformen eine wichtige Rolle. Um eine Geschichte kohärent erzählen zu kön-
nen, muss das Kind die Perspektive des Zuhörers übernehmen können. Dazu müssen
deiktische Ausdrücke, wie hier und dort, davor und danach, verwendet werden, die
voraussetzen, dass die notwendigen räumlichen und zeitlichen Konzepte erworben
sind. Zudem müssen Personalpronomen, aber auch Verben wie kommen und gehen
richtig eingesetzt werden. Auch die Verwendung des unbestimmten Artikels bei
Einführung eines neuen Referenten, im Gegensatz zur Verwendung des bestimmten
Artikels zur Aufrechterhaltung des Bezugs, gehört zu dieser Fähigkeit. Ist ein neuer
Referent nicht sichtbar oder dem Zuhörer nicht bekannt, dann tun sich fünfjährige
Kinder schwer zu entscheiden, ob sie den definiten oder den indefiniten Artikel ver-
wenden sollen. Erst Neunjährigen gelingt es, die Referenz eindeutig herzustellen (vgl.
Hickmann 1995, 2000; Pan/Snow 1999; für weitere Details vgl. Matthews 2014).
Dass der Aufbau pragmatischen Wissens die Verknüpfung sozialer, kognitiver
und sprachlicher Fähigkeiten beinhaltet, sollte deutlich geworden sein. Das zeigt sich
besonders auch in der Entwicklung des Verstehens und Produzierens von indirekten
Sprechakten, Ironie und Witzen, aber auch im Zugang zu Phantasiegeschichten und
in der Fähigkeit zur ad hoc-Übernahme einer Rolle in einer Spielsituation, wobei
vielleicht sogar die Stimme verstellt wird. Viele dieser Teilfertigkeiten beinhalten
die Fähigkeit, über Sprache an sich nachzudenken, also metasprachliches Wissen.
All diese Fähigkeiten entwickeln sich im Vorschulalter, und sie werden im Lauf der
Grundschulzeit und bis ins Erwachsenenalter hinein weiter ausgefeilt. Die individuelle
Variation in diesem sprachlichen Bereich ist groß; so groß, dass selbst viele Erwachsene
erstaunlich unfähig sind, Zusammenhänge darzustellen, eine Geschichte kohärent
wiederzugeben oder die Regeln eines Gesellschaftsspiels zu erklären.
287
7.3
Spracherwerb
Aufgabe 8: Analysieren Sie den kleinen Dialog unter (8) zwischen Meike (1;10)
und ihrer Mutter hinsichtlich der Sprechakte, die Meike ausführt.
288
7.3
Erklärungsansätze in der Spracherwerbsforschung
289
7.3
Spracherwerb
kognitiven Ansätzen nimmt man an, dass das Kind Sprache erwirbt, indem es auf
der Basis kognitiver Strategien Schlüsse über Formen und Strukturen zieht. Der
zentrale Punkt im Kognitivismus ist, dass der Spracherwerb allein auf der generellen
Symbolisierungsfähigkeit und der allgemeinen kognitiven Entwicklung des Kindes
gründet. Die Annahme einer spezifischen, angeborenen Sprach(erwerbs)fähigkeit
wird abgelehnt. Vielmehr soll das Kind sprachliche Verarbeitungsstrategien aus
generellen kognitiven Prozessen ableiten und so Strategien formulieren, die zur Ent-
deckung struktureller Regularitäten führen. Der Zugang zur Sprache erfolgt über die
Bedeutungsseite. Der Zugang zur Grammatik basiert darauf, dass zwischen seman-
tischen Konzepten wie Agens und Aktion einerseits und grammatischen Relationen
wie Subjekt und Verb andererseits eine Beziehung besteht. Diesen Zusammenhang
nutzt das Kind mithilfe einer besonderen Verarbeitungsstrategie, dem sogenannten
semantic bootstrapping (s. Kap. 7.2.3), um die Sprachstruktur zu erschließen. Das
kann nur funktionieren, wenn es in Sprachen tatsächlich eine Korrelation zwischen
thematischen Rollen wie Agens und grammatischen Funktionen wie Subjekt gibt.
Tatsächlich bestehen solche Beziehungen, aber es sind keine 1:1-Beziehungen, und
sie sind vor allen Dingen nicht in allen Sprachen gleich. So ist dieses Konstrukt se-
mantic bootstrapping sehr umstritten und bisher in den Erwerbsdaten nicht eindeutig
nachgewiesen (vgl. Behrens 2009a, b).
Kognitivistische Ansätze sagen wenig über die Form kindlicher Spracherwerbs-
mechanismen aus. Auch wenn eine Beziehung zwischen nicht-sprachlicher kognitiver
Entwicklung und Spracherwerb intuitiv sinnvoll erscheint, dürfen wir nicht über-
sehen, dass es einerseits Kinder gibt, die trotz unauffälliger kognitiver Fähigkeiten
Probleme im Spracherwerb haben, und dass es andererseits auch Kinder mit deutlich
beschränkten kognitiven Fähigkeiten gibt, die das sprachliche System vergleichsweise
problemlos erwerben. Diese sogenannte doppelte Dissoziation zwischen kognitiver
Leistung einerseits und sprachlicher Leistung andererseits, also die Beobachtung, dass
gute kognitive Leistungen nicht mit guten Sprachleistungen bzw. schwache kognitive
Leistungen nicht mit Spracherwerbsproblemen verbunden sein müssen, wird von
Vertreterinnen eines modularen kognitiven Ansatzes als wichtiges Indiz für die Exis-
tenz eines sprachspezifischen Verarbeitungsmoduls gewertet. Sicherlich müssen wir
zwischen verschiedenen sprachlichen Dimensionen unterscheiden. Die semantische
und damit die konzeptuell gebundene Seite von Sprache, bestimmte pragmatische
Aspekte, die Vermittlung logisch komplexer Sachverhalte mit Hilfe komplexer syn-
taktischer Konstruktionen sind an kognitive Fähigkeiten geknüpft. Der Erwerb und
die Beherrschung von Grammatik, also der strukturellen Aspekte von Sprache, sind
weit unabhängiger von allgemeiner Kognition, also weitgehend autonom.
Spielt im Kognitivismus die kognitive Entwicklung die zentrale Rolle für den
Spracherwerb, spielen im Interaktionismus der Input und die Interaktion zwischen
Kind und Bezugspersonen eine entscheidende Rolle, und die kognitive Entwicklung
gibt den Rahmen für die sprachliche Entwicklung vor.
Interaktionistische Ansätze sind pragmatisch orientiert: Im Vordergrund stehen
Funktion und Gebrauch von Sprache und ihre sozialen Aspekte. Der Interaktionismus
wird seit den 70er Jahren z. B. von Bruner (1983) und Snow vertreten (Snow/Ferguson
1977, Snow 1995). Zentral ist die Annahme, dass die an das Kind gerichtete Sprache
ganz auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes ausgerichtet ist. Sie ist seman-
tisch und strukturell vereinfacht und prosodisch markiert. So soll der vorstrukturierte
290
7.3
Erklärungsansätze in der Spracherwerbsforschung
Input das Kind in die Lage versetzen, dem Input alle wichtigen Informationen für
den Erwerb (auch der Grammatik) zu entnehmen. Wichtig ist in diesem Ansatz der
Begriff motherese (›Mutterisch‹, auch baby talk, child directed speech). Die Existenz
dieser ›an das Kind gerichteten Sprache‹ wird als Gegenargument gegen das poverty
of stimulus-Argument genutzt (s. o.). Tatsächlich unterscheidet sich die an das Kind
gerichtete Sprache in Komplexität und Prosodie von Sprache, die an Erwachsene
gerichtet ist. Sie ist u. a. gekennzeichnet durch eine langsamere und flüssigere Sprech-
weise, durch eine stark übertriebene Sprachmelodie und Betonung und durch eine
hohe Stimmlage. Wir finden außerdem syntaktische und semantische Vereinfachungen,
d. h. einfache, kurze Frage- und Hauptsätze mit wenigen Funktionswörtern und vielen
konkreten Nomen, viele Imperative, Rückfragen und Wiederholungen, viele expan-
dierende Wiederholungen sowie inhaltliche Wiederholungen (= Reformulierungen),
thematische Weiterführungen der kindlichen Äußerungen und anderes mehr. Auch
die Verwendung von Formen in verschiedenen Sätzen kann helfen, die Struktur zu
durchschauen. So erschließt sich z. B. über verschiedene Verwendungen eines Verbs die
Verbsyntax, wozu die Anzahl und Art der Verbargumente zählen. Damit wiederum
hat das Kind Zugang zur Verbbedeutung. Dieser Aspekt der kindlichen Sprachanalyse
wird syntactic bootstrapping genannt, d. h. ausgehend von der syntaktischen Struktur
wird auf die Bedeutung geschlossen (Gleitman 1990).
Die sprachliche Interaktion ist also so ausgeklügelt, dass die Bezugspersonen
ihre Sprache immer genau den Fähigkeiten des Kindes anpassen. Man spricht von
Feinabstimmung. Die prosodischen und syntaktischen Merkmale der Sprache, die an
ein fünfjähriges Kind gerichtet wird, unterscheidet sich von der, die an ein zweijähriges
Kind gerichtet wird. Darüber hinaus hat diese Art zu sprechen vor allem affektive
und soziale Funktion (Snow 1995).
Nun wird aber nicht nur mit kleinen Kindern so gesprochen, sondern – und
das scheint der gemeinsame Nenner zu sein – mit allen Lebewesen, von denen man
annimmt, dass sie schlecht verstehen können, was wir ihnen sagen. So finden wir
Aspekte des motherese sowohl in Sprache, die an Kinder gerichtet ist, aber auch in
Sprache, die an Schwerhörige oder an Ausländer gerichtet ist. Die Forschungslage zum
motherese ist sehr widersprüchlich. Die wichtigste Frage ist, ob diese Aufbereitung
des Inputs eine notwendige Bedingung für den Spracherwerb ist oder vor allem ein
unterstützender Faktor. Dient die Feinabstimmung der sprachlichen Förderung oder
der optimalen Kommunikation?
Letztendlich gibt es keine Belege für einen unmittelbaren, ursächlichen und
notwendigen Zusammenhang zwischen motherese und Grammatikentwicklung oder
gar der Form grammatischer Regeln. Mit Sicherheit aber dient das motherese der
Verständlichkeit und damit der Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind und
liefert so einen günstigen Hintergrund für den Spracherwerb.
Es gibt viele Varianten der hier vorgestellten Ansätze, eine Reihe weiterer Ansät-
ze, und insgesamt sind die Grenzen zwischen den verschiedenen Positionen fließend.
Der Interaktionismus beispielsweise, wie ihn Bruner (1983) vertritt, konzentriert
sich auf den ganz frühen Spracherwerb (bis zum Alter von zwei Jahren etwa). Dieser
Ansatz ist eine ausführliche Beschreibung der Bedingungen, unter denen Spracherwerb
normalerweise abläuft. Eine Erklärung für den Erwerb von Sprache insgesamt und
besonders für den Erwerb der Grammatik kann der Ansatz nicht liefern. Bruner selbst
erhebt aber auch gar nicht diesen Anspruch. Er möchte das System erfassen, das den
291
7.3
Spracherwerb
frühkindlichen Spracherwerb unterstützt, und Bruner schließt dabei die Existenz einer
Universalgrammatik, die den Grammatikerwerb steuert, explizit nicht aus.
Andere Ansätze stellen besonders den Form-Funktions-Zusammenhang der
Sprache in den Vordergrund, so dass man von funktionalistischen Ansätzen spricht.
Dabei werden meist Merkmale des Interaktionismus und kognitiver Ansätze mit-
einander verbunden. Zu den funktionalistischen Ansätzen zählt das Competition-
Modell von Bates und MacWhinney (1987), in dem Sprachverarbeitung und auch
Spracherwerb über ein konnektionistisches Netzwerkmodell erklärt werden, d. h.
im Rahmen einer Kognitionstheorie, die von Piagets entwicklungspsychologischer
Theorie deutlich abweicht.
Aspekte der kognitivistischen, funktionalistischen und interaktionischen
Modelle werden in den aktuelleren usage based- und Konstruktions-Ansätzen oder
Emergenzmodellen zusammengeführt (Behrens 2009a,b, Tomasello 2005). Generelle
kognitive Erwerbsmechanismen und soziale und kommunikative Fähigkeiten allein
sind in diesem Ansatz für den Spracherwerb ausreichend. Konstruktionen (hier
schließt sich der Ansatz an die Konstruktionsgrammatik an) werden als Form-Funk-
tions-Paare verstanden, so dass sich das Kind u. a. über bootstrapping-Mechanismen
auch sprachstrukturelle Eigenschaften erschließen kann. Über Hypothesenbildung,
die aber anders als in generativ-nativistischen Ansätzen nicht durch sprachspezifische
Universalien gesteuert wird, nähert sich das Kind allmählich der zielsprachlichen
Kompetenz an. In diesen Modellen kommt einerseits Imitation, d. h. die Übernahme
und Verwendung von unanalysierten Einheiten (Wörtern oder Teilen von Sätzen) aus
der Erwachsenensprache zum Tragen, als auch andererseits die Analyse von Kons-
truktionen (auf Morphem-, Wort- oder Satzebene), was wiederum zu Konstruktio-
nen in der Kindersprache führt. Die vom Kind erstellten Analysen und Hypothesen
werden auf der Basis von positiver und indirekter negativer Evidenz, mit Hilfe von
pragmatischen und semantischen Hinweisen, über das Nutzen von Frequenzeffekten
(Lieven 2010) und weiteren Eigenschaften der Inputsprache, d.h. gebrauchsbasiert
(usage based), nach und nach weiterentwickelt.
Bisher wurde bewusst der Begriff ›Spracherwerbstheorie‹ vermieden. In den
einzelnen Abschnitten unter 7.2 wurde neben der Beschreibung von Erwerbsdaten
und Erwerbsverlauf auch immer wieder gezeigt, wie Aspekte des Spracherwerbs
in linguistischen Modellen erfasst werden können, und zwar sowohl deskriptiv
als auch explanativ. Eine stimmige Theorie aber, die den kindlichen Spracherwerb
insgesamt erklärt, gibt es nicht. Vielleicht wäre die beste Theorie eine, die zentrale
und besonders erklärungsstarke Elemente aus verschiedenen Ansätzen wie Bausteine
zu einer übergreifenden Theorie zusammenträgt. Fast jeder Ansatz, der bisher hier
vorgestellt wurde, hat Erklärungskraft für bestimmte Aspekte des Spracherwerbs,
aber jeder scheitert an der Erklärung bestimmter anderer Aspekte. Das Problem,
eine solche Patchwork-Theorie aufzustellen, liegt darin, dass die verschiedenen An-
sätze Grundannahmen über den kindlichen Spracherwerb machen, die sich zum Teil
gegenseitig ausschließen.
Wenn wir schon keine Spracherwerbstheorie ›basteln‹ können, dann kann
man zumindest formulieren, welche Bedingungen ein Erklärungsansatz und vielleicht
letztendlich eine übergreifende Spracherwerbstheorie erfüllen müsste. Jeder Ansatz
macht Annahmen über die Rolle der kognitiven Entwicklung, über die Funktion des
Inputs und über die Art der Sprachverarbeitung und den Umfang und die Reichweite
292
7.3
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8.1
8 | Sprachwandel
8.1 | Einleitung
Unsere Sprache wandelt sich unablässig. Beispiele dafür lassen sich in der Alltags-
sprache täglich aufs Neue entdecken. Meistens handelt es sich um Fälle lexikalischen
Wandels, wie die Entlehnung von Wörtern aus einer anderen Sprache in das Deut-
sche. Eine besondere Rolle spielt hier in den letzten Jahren das Englische. Bekannte
Beispiele solcher Entlehnungen sind Wörter aus der Computersprache wie scannen,
e-mailen, chatten, aber auch Punk oder Hooligan sind aus dem Englischen entlehnt.
Aus anderen Sprachen sind Lexeme wie Plateau (aus dem Französischen), Cello
(aus dem Italienischen) oder Fatzke (aus dem Polnischen) übernommen worden.
Informationen über die Geschichte einzelner Wörter lassen sich aus etymologischen
Wörterbüchern beziehen.
Mehr oder weniger bewusst sind den Sprechern einer Sprache oft auch Beispiele
für den Wandel von Wortbedeutungen: Um beispielsweise den hohen Grad einer
Eigenschaft auszudrücken, verwenden wir umgangssprachlich Wörter wie echt, irre,
schrecklich, tierisch oder wahnsinnig, wie in
(1) Paula hat einen tierisch interessanten Typen getroffen.
Mit einer Äußerung wie (1) meinen wir sicher nicht, dass der Mann, von dem hier
die Rede ist, der Tierwelt nahe steht, sondern dass es sich um einen ausgesprochen
interessanten Menschen handelt. Adjektive wie tierisch haben im heutigen Deutsch
Verwendungen, die in früheren Perioden der deutschen Sprachgeschichte nicht belegt
sind.
Sprachwandel beschränkt sich jedoch nicht auf den Bereich des Lexikons als
Teil unserer sprachlichen Kompetenz, sondern erfasst verschiedene Aspekte unserer
Sprache. Um zu sehen, wie stark sich die deutsche Sprache bereits in einem Zeitraum
von gut 500 Jahren verändert hat, betrachten wir einen kurzen Ausschnitt aus einer
Veröffentlichung des Jahres 1472, Ob einem manne sey zunemen ein eelichs weyb
oder nicht von Albrecht von Eyb:
(2) Socrates phylosophus Ein natu(rlich meister zu Athenas der do ist gewest 1
zu den zeytten Assweri des ku(nigs ward von einem Ju(ngling gefragt Ob
er ein weyb nemen solt oder nit Antwurt der meister vnd sprach zu im . 3
Wellichs du tust das wirt dich reu(en Wann nymstu ein weyb so bistu
allezeyt in sorge@ vnd angsten In stetem kriege mit dem weybe mit der 5
schwiger mit iren freu(ntten mit auffhebung des heirat guts In
verdechtlichkeit mit anndern mennern vnd in vngewisheit der kinder . 7
›Der Philosoph Sokrates, ein natürlicher Meister zu Athen, der dort zu den
Zeiten des Königs Assweri lebte, wurde von einem Jüngling gefragt, ob er
eine Frau nehmen solle oder nicht. Da antwortete der Meister und sprach zu
ihm: Was auch immer du tust, wird dich reuen. Denn nimmst du eine Frau, so
298
8.1
Einleitung
bist du allezeit in Sorgen und Ängsten, in dauerndem Streit mit deiner Frau,
der Schwiegermutter und ihren Freunden, was den Erhalt des Heiratsgutes
betrifft, hast Argwohn gegenüber anderen Männern und bist in Ungewissheit
in Bezug auf die Vaterschaft deiner Kinder.‹
Eine genauere Betrachtung des frühneuhochdeutschen Textes zeigt, welche Aspekte
eines Textes von Veränderungen betroffen sein können. Zunächst fällt auf, dass
Satzzeichen und Groß- und Kleinschreibung nicht immer eindeutige Hinweise auf
die Abgrenzung von Satzgefügen geben. So wird die Großschreibung an vier Stellen
im Text verwendet, an denen offensichtlich eine Satzeinheit abgeschlossen ist (Zeile
1: Ein, 2: Ob, 3: Antwurt, 4: Wellichs, Wann, 5: In, 6: In). Nur in einem Fall geht
der Majuskel jedoch auch ein Punkt voraus (Z 4: Wellichs). Großschreibung scheint
jedoch kein eindeutiges Indiz für einen Satzanfang zu sein, denn in den Zeilen 1, 2,
5 und 6 kann es sich nur um den Anfang von Teilsätzen in einem Satzgefüge han-
deln. Erschwerend für das Verständnis des Textes kommt die vom heutigen Deutsch
abweichende Graphematik hinzu, wie beispielsweise die Verschriftung des Lautes
/u/ als <v> oder die Zusammenziehung von Verben und folgenden Pronomina wie
in nymstu ›nimmst du‹ oder bistu ›bist du‹. Was die Flexionsmorphologie angeht, so
fällt die Form gewest (Z 1) auf, die anstelle von gewesen verwendet wird, das Präter-
itum ward (Z 2) von werden ist uns heute ebenfalls nicht mehr geläufig (stattdessen
wurde). Und obwohl wir das Wortbildungsprodukt verdechtlichkeit (Z 7) heute noch
verstehen, würden wir an seiner Stelle eher eine nominale Bildung wie Verdacht oder
das Verb verdächtigen gebrauchen. Hinsichtlich der Wortstellung fällt die Abfolge
von finitem Verb und Partizip in ist gewest (Z 1) auf, die in einem Verb-letzt-Satz
des Gegenwartsdeutschen nur in umgekehrter Reihenfolge (gewesen ist) möglich ist.
Sprachwandel beschränkt sich entgegen unseren ersten Überlegungen also nicht
auf die Erweiterung unseres Wortschatzes im Sprachkontakt und den allmählichen
Wandel von Wortbedeutungen, sondern betrifft neben den jeweils gültigen Schreibkon-
ventionen (Zeichensetzung, Groß- und Kleinschreibung) alle Komponenten unserer
Grammatik. Die beobachtbaren Veränderungen einer Sprache sind Gegenstand der
historischen Sprachwissenschaft. Die historische Sprachwissenschaft beschränkt sich
jedoch nicht auf die Beschreibung beobachtbarer Veränderungen in der Geschichte
einer Sprache: Ausgehend von den ältesten erhaltenen Textquellen versucht sie auch,
nicht mehr belegbare Vorläufersprachen zu rekonstruieren, wenn beispielsweise aus
sprachlichen Eigenschaften westgermanischer Sprachen wie dem Althochdeutschen,
Altenglischen und Altsächsischen einerseits und einer ostgermanischen Sprache wie
dem Gotischen andererseits auf das Proto-Germanische geschlossen wird, das diesen
altgermanischen Sprachen zugrunde liegen soll.
In diesem Kapitel werden wir uns auf denjenigen Teil der historischen Sprach-
wissenschaft beschränken, der sich mit beobachtbaren Veränderungen im Verlauf der
deutschen Sprachgeschichte beschäftigt. Wir fragen also danach, welche sprachlichen
Eigenschaften sich im Verlauf der Geschichte einer Sprache verändern, während an-
dere stabil bleiben. Richtet sich unser Interesse beispielsweise auf Veränderungen in
der Wortbildung, wie sie in der Ersetzung eines Lexems wie verdechtlichkeit durch
Verdacht zum Ausdruck kommen, so stellt sich die Frage, ob es sich hier um zufällige
Veränderungen in der Entwicklung eines individuellen Lexems handelt, oder ob dieser
Beleg auf systematische Veränderungen innerhalb der Wortbildungskomponente der
Grammatik hinweist. Unser nächster Schritt wird deshalb sein, uns Informationen
299
8.1
Sprachwandel
über die bei der Ableitung der Bildung beteiligten Wortbildungsmuster, also keit- und
lich-Bildungen im Gegenwartsdeutschen zu verschaffen, um auf dieser Grundlage die
entsprechenden historischen Daten sammeln und interpretieren zu können. Da unser
erstes Beispiel aus einem Text des 15. Jahrhunderts stammt, liegt es nahe, andere Texte
aus der Zeit des Frühneuhochdeutschen zur Basis unserer Belegsammlung zu machen.
Denn erst eine größere Zahl von Belegen zu einem ausgewählten Phänomen erlaubt
zuverlässige Aussagen über Veränderungen, die nicht zufälliger Natur sind, sondern
einen Teil unseres Sprachsystems betreffen. Bei der Zusammenstellung eines solchen
repräsentativen Textkorpus gilt es, verschiedene Punkte zu beachten. So sollten die
Texte verschiedenen Textsorten angehören, um auszuschließen, dass es sich bei dem
vermeintlichen Sprachwandel allein um ein stilistisches Phänomen handelt. Gleichfalls
ist sicherzustellen, dass die ausgewählten Texte von Autoren aus unterschiedlichen
Dialektgebieten stammen, denn auch die Präferenzen von Dialektsprechern für
bestimmte Formen können einen vermeintlichen Sprachwandel suggerieren. Neben
der Erhebung von Belegen durch die eigene Textlektüre kann die Verwendung von
Glossaren und Konkordanzen das Auffinden von einschlägigem Material ergänzen:
In Glossaren werden die in einem historischen Text verwendeten Lexeme aufgelistet
(teilweise mit Belegstelle), so dass bestimmte Lexeme im Text rasch aufzufinden sind.
Es folgt ein Beispiel aus dem Glossar, das der althochdeutschen Tatianausgabe von
Eduard Sievers (1892) beigegeben ist:
(3) oli st. n. oleum: acc. sg. 128,9. 148,2 (2). gen. oles 108,3. dat. ole 148,5.
instr. olu 44,29. oliu 138,12.
In diesem Glossar erscheint das althochdeutsche Lexem oli ›Öl‹ mit der Angabe von
Wortart und Flexionsklasse sowie der lateinischen Übersetzung. Des Weiteren werden
nicht nur die auftretenden Flexionsformen, sondern auch deren Belegstellen angege-
ben. Anders als Glossare bestehen Wortkonkordanzen zu bestimmten historischen
Texten aus Listen von Belegstellen für einzelne Lexeme, so dass der fragliche Kontext
unmittelbar zur Verfügung steht und nicht mehr in einem zusätzlichen Arbeitsschritt
zu ermitteln ist.
Auf der Grundlage einer repräsentativen Zahl von Belegen können dann nicht
nur der Befund des Gegenwartsdeutschen und der historische Befund, sondern auch
die zu beobachtenden Veränderungen beschrieben werden. Indem wir eine Beziehung
zwischen ausgewählten Wortbildungsmustern in zwei zeitlich aufeinanderfolgenden
Sprachzuständen herstellen, betrachten wir Sprache aus einer diachronen Perspekti-
ve. Davon zu unterscheiden ist der synchrone Zugang zu ausgewählten sprachlichen
Phänomenen, wobei das Interesse sich in diesem Fall auf ausgesuchte sprachliche
Eigenschaften in einem historischen Moment richtet (de Saussure 1967).
Der Beschreibung dessen, was sich ändert, folgt die Frage, warum sich etwas
ändert. Welche Faktoren lösen bestimmte sprachliche Veränderungen aus? Für die
Beantwortung dieser Frage werden innersprachliche von außersprachlichen Fakto-
ren unterschieden. Im ersten Fall ist der fragliche Wandel durch Veränderungen in
anderen Teilen der Grammatik bedingt, im zweiten Fall sind es Veränderungen in
den historisch-sozialen Rahmenbedingungen, die einen bestimmten Wandel auslösen.
Die Untersuchung eines sprachlichen Wandels im Verlauf der Geschichte einer
Sprache beruht auf dem Vergleich von mindestens zwei verschiedenen Sprachperioden,
so wie wir in unserem Beispiel das Frühneuhochdeutsche und das Gegenwartsdeutsche
300
8.2
Lautwandel
einander gegenübergestellt haben. Damit wir uns eindeutig auf bestimmte zeitliche
Abschnitte der deutschen Sprachgeschichte beziehen können, ist es sinnvoll, sich auf
eine chronologische Gliederung des Deutschen zu beziehen. Aufgrund sprachinterner
und sprachexterner Kriterien werden für die deutsche Sprache vier Perioden gegen-
einander abgegrenzt:
Die angegebenen Daten verstehen sich ausschließlich als Richtlinien für eine grobe
Orientierung in der Sprachgeschichte des Deutschen (für eine Übersicht verschiedener
Schematisierungsvorschläge vgl. Hartweg/Wegera 1989).
Im Folgenden geht es um Typen sprachlicher Veränderungen in den verschie-
denen Komponenten unserer Grammatik, die an Beispielen aus der Geschichte des
Deutschen illustriert werden. Exemplarisch wird außerdem auf mögliche Erklärungs-
muster eingegangen.
8.2 | Lautwandel
Veränderungen in der phonologischen Komponente der Grammatik betreffen neben
Einzelsegmenten und Folgen von Lautsegmenten auch die Silbenstruktur und die
Akzentverhältnisse in einer Sprache. Wir werden uns auf diejenigen Veränderungen
konzentrieren, die mit Abfolgen von Segmenten sowie Einzelsegmenten zu tun haben.
301
8.2
Sprachwandel
Wir unterscheiden die Fernassimilation, wie sie beim Umlaut vorliegt, von der
Kontaktassimilation, in der sich die Angleichung der Lautsegmente auf unmittelbar
benachbarte Lautsegmente bezieht (vgl. dazu die Beispiele unter (6)).
Der zweite systematische Assimilationsvorgang in der deutschen Sprach-
geschichte ist der Prozess der Auslautverhärtung, der sich im Übergang vom Alt-
302
8.2
Lautwandel
Wenn ein Lautsegment einem anderen weniger ähnlich wird (partiell oder total),
sprechen wir von Dissimilation, ein Wandel, der deutlich seltener als die Assimilation
zu beobachten ist. Obwohl prinzipiell Kontaktdissimilation und Ferndissimilation
möglich sind, finden sich vor allem Beispiele für die Ferndissimilation, wie in den
folgenden mittelhochdeutschen Beispielen, in denen die Nähe von zwei identischen
oralen Konsonanten vermieden wird:
(11) Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch
kliuwel kniuwel ›Knäuel‹
klobelouch knobelouch ›Knoblauch‹
mûrbere mûlbere ›Maulbeere‹
Ein anderes Beispiel ist die mittelhochdeutsche tartuffel, aus der im 17. Jahrhundert
durch Dissimilation das heutige Kartoffel wird. Die Dissimilation unterscheidet sich
von der Assimilation auch darin, dass die Dissimilation vor allem sporadisch erfolgt,
sich folglich auf einzelne Lexeme beschränkt, während Assimilationsphänomene
häufiger regelhaften Charakter haben (vgl. Umlaut und Auslautverhärtung).
Unter Epenthese versteht man einen Lautwandel, bei dem in einer spezifischen
Umgebung ein Konsonant oder Vokal eingeschoben wird, um die Artikulation einer
Lautkette zu erleichtern. Das zusätzliche Lautsegment kann vor, hinter oder zwi-
schen anderen Lauten eingefügt werden. Häufig findet sich ein angefügter alveolarer
Verschlusslaut:
(12) Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch
a. ieman jemand
spinnel Spindel
b. obez Obst
palas Palast
c. habech Habicht
dornach Dornicht
d. enkleiden entkleiden
offenlich öffentlich
303
8.2
Sprachwandel
Auch Vokale können eingeschoben werden, wenn eine Abfolge von Lauten schwierig
zu artikulieren ist. Das betrifft beispielsweise solche Lexeme, in denen durch Diph-
thongierungsvorgänge die Abfolge aus Diphthong und Sonorant (/R/) entsteht:
(13) Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch
vîre Feier
gîr Geier
lîre Leier
sûr sauer
schiure Scheuer
Infolge der Abschwächungsvorgänge sind dann seit dem 13. Jahrhundert Tilgungen
von Mittelsilben (Synkope) und Endsilben (Apokope) zu beobachten. So wird das
unbetonte Schwa zwischen haupt- und schwachbetonter Silbe synkopiert, wie in den
genitivischen Formen aus dem Mittelhochdeutschen. Später wird diese Tilgung auf
die Nominativform übertragen:
(15) abbet, abbtes > Abt, Abtes
market, marktes > Markt, Marktes
dienest, dienstes > Dienst, Dienstes
Tilgungsvorgänge sind auch bei Konsonanten zu beobachten, wenn etwa der alveolare
Verschlusslaut /t/ zwischen zwei Konsonanten ausfällt, wie die mittelhochdeutschen
Varianten lustsam und lussam ›lieblich‹ zeigen, oder das Nebeneinander von wintbrâ
neben winbrâ ›Wimper‹.
Lautwandel umfasst nicht nur qualitative Veränderungen von Lautseg-
menten wie bei Assimilation und Dissimilation oder quantitative Veränderungen
wie das Einschieben und Tilgen von Segmenten, sondern auch die Umstellung
von Lautsegmenten innerhalb einer Silbe oder über eine Silbengrenze hinweg.
Dieses Phänomen bezeichnet man als Metathese. Beispiele hierfür liefern das
304
8.2
Lautwandel
althochdeutsche Verb brestan, aus dem sich das heutige bersten entwickelt, sowie
das nieder- und mitteldeutsche Born für Brunnen, das sich bis heute in Ortsnamen
wie etwa Kühlungsborn erhalten hat. Ein bekanntes Beispiel liefert schließlich der
offensichtliche etymologische Zusammenhang zwischen dem deutschen Ross und
dem englischen horse.
8.2.2 | Segmentvereinfachungen
Lautsegmente werden auch unabhängig von ihrem Kontext vereinfacht. Zu solchen
Vereinfachungen gehört die Denasalisierung von Nasalvokalen, weil es durch den
Wegfall der zusätzlichen Senkung des Gaumensegels bei der Vokalproduktion zu einer
artikulatorischen Vereinfachung kommt. Beispiele für die Denasalisierung liefert die
lautliche Integration französischer Lehnwörter in das Deutsche:
(17) Balkon [bal'koÜn] oder [bal'koN]
Parfum [paRfyÜm]
Sortiment [zoRtI'ment]
305
8.2
Sprachwandel
306
8.2
Lautwandel
Reflexe dieser Veränderungen lassen sich heute noch im Vergleich von germanischen
und romanischen Sprachen feststellen:
(26) Spanisch Französisch Deutsch
a. *p > f pie pied Fuß
padre père Vater
por pour für
b. *k > h ciento cent hundert
corazón cœur Herz
c. *g > k grano grain Korn
genu genou Knie
Auf ähnliche Weise werden Veränderungen im System der Vokale erklärt. Dabei wird
das Vokaltrapez als phonologischer Raum verstanden, der von Vokalen besetzt wird.
Offensichtlich besteht die Tendenz, die Verwendung des Raumes zu maximieren, da
Sprachen mit drei Vokalen in der Regel über die Vokale /i/, /a/ sowie /u/ oder /o/ und
nicht über die Vokale /i/, /e/ und /E/ verfügen. Entsprechend werden die fünf Vokale
einer Sprache im phonologischen Raum verteilt sein:
(28) a. /i/, /e/, /a/, /o/, /u/
b. */u/, /U/, /a/, /o/, /O/
In Sprachen mit einer großen Anzahl von Vokalen kann man als Reaktion auf die
Überladung des phonologischen Raumes Diphthongierungsprozesse beobachten. Im
Althochdeutschen sind es die mittleren Vokale, die durch Diphthonge ersetzt werden:
(29) a. Althochdeutsche Diphthongierung
i: u:
ia uon
l
e: o:
J: O:
a:
b. Voralthochdeutsch Althochdeutsch
ê > ia hêr hiar ›hier‹
mêta miata ›Miete‹
ô > uo brôπar bruoder ›Bruder‹
fôz fuoz ›Fuß‹
307
8.3
Sprachwandel
8.2.4 | Zusammenfassung
Lautliche Veränderungen können phonetisch wie auch phonologisch motiviert sein.
Da Lautwandel sowohl individuelle Lautsegmente als auch Folgen von Lauten be-
trifft, spielt die Kontextabhängigkeit von Lautwandel eine wichtige Rolle bei der
Untersuchung lautlicher Veränderungen. Ein dritter Aspekt von Lautwandel bezieht
sich auf seine jeweilige Reichweite: Sind nur wenige Wörter betroffen, spricht man
von sporadischem Wandel. Von regelmäßigem Lautwandel wird gesprochen, wenn
der Wandel ein Lautsegment ausnahmslos betrifft.
8.3.1 | Morphemabbau
Die Abschwächung und anschließende Tilgung von Nebensilbenvokalen ist eine
artikulatorische Vereinfachung, die weitreichende Konsequenzen vor allem für die
Flexionsmorphologie hat. Denn durch diese lautlichen Prozesse verliert eine flektie-
308
8.3
Morphologischer Wandel
rende Sprache wie das Deutsche ein wichtiges Mittel zum Ausdruck grammatischer
Informationen. Betrachten wir die Deklination von Nomina, indem wir die althoch-
deutschen und neuhochdeutschen Formen am Beispiel von Tag vergleichen, das nach
der a-Deklination stark flektiert:
(30) Althochdeutsch Neuhochdeutsch
Singular Plural Singular Plural
Nominativ/Akkusativ tag tag-a Tag Tag-e
Genitiv tag-es tag-o Tag-es Tag-e
Dativ tag-e tag-um Tag(e) Tag-e-n
Instrumental tag-u
Wie die beiden Flexionsparadigmen zeigen, verfügt das Lexem Tag im Althochdeut-
schen noch über sieben verschiedene Wortformen in seinem Flexionsparadigma, wäh-
rend es im Gegenwartsdeutschen nur noch vier verschiedene Formen sind. Bereits im
Althochdeutschen fallen die Formen von Nominativ und Akkusativ im Singular und
Plural zusammen, im heutigen Deutsch ist auch die Form des Dativs im Singular nicht
mehr von Nominativ und Akkusativ zu unterscheiden, erscheint doch die dativische
Form Tage heute ausschließlich in stilistisch markierten Kontexten. Im Plural fällt
die Form des Genitivs mit den Formen von Nominativ und Akkusativ zusammen.
Den formalen Zusammenfall von Wortformen nennt man Synkretismus. Schließlich
erscheint im Flexionsparadigma des althochdeutschen tag ein Kasus, über den das
Gegenwartsdeutsche nicht mehr verfügt: der Instrumental.
Sprachen mit reicher Flexionsmorphologie wie das Althochdeutsche heißen
synthetisch gebaute Sprachen, weil sie grammatische Relationen in erster Linie durch
morphologische Mittel ausdrücken. Durch den lautlich bedingten Abbau dieser
Mittel entwickelt eine Sprache einen stärker analytischen Charakter. Kasusrelationen
werden ersatzweise durch die Verbindung einer Nominalphrase mit einer Präposi-
tion ausgedrückt, wie im Fall des verlorenen Instrumental. In (31) bezeichnen die
Präpositionen durch und mit die ursprünglich durch den Instrumental ausgedrückte
Bedeutung:
(31) a. Durch eine einzige Schraube hielt das Gestell zusammen.
b. Mit einer Säge teilte er das alte Brot.
309
8.3
Sprachwandel
Der Verlust an lautlicher Substanz kann des Weiteren dazu führen, dass Produkte von
Wortbildungsprozessen nicht mehr als solche erkennbar sind. So ist die morpholo-
gische Struktur vieler Kompositionsbildungen aus früheren Perioden der deutschen
Sprachgeschichte heute nicht mehr transparent, weshalb hier von verdunkelten
Komposita gesprochen wird (Harnisch 2000):
(33) ahd. elilenti > Elend
(*alja-landja- ›außer Landes seiend‹)
weralt > Welt
(*wera- ›Mensch, Mann‹)
mezzi-sahs > Messer
(›Speise‹ + ›Schwert‹)
wîn-garto > Wingert
mhd. kirch-messe > Kirmes
junc-herre > Junker
Ein letztes Beispiel für die Auswirkungen lautlicher Veränderungen betrifft die
Morphologisierung einer phonologischen Regel: In einem bestimmten phonetischen
Kontext wird der Vokal der Haupttonsilbe palatalisiert (s. oben, totale Assimilation).
Mit dem Verlust des Nebensilbenvokals entfällt dann die phonetische Motivierung
für den Umlaut, der als grammatischer Marker zum Ausdruck von Plural reinter-
pretiert wird. Das lässt sich unter anderem daran ablesen, dass der Umlaut nun auch
in Kontexten verwendet wird, in denen eine lautliche Herleitung ausgeschlossen
ist:
(34) Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch
der garte – die garten der Garten – die Gärten
das clôster – diu clôster das Kloster – die Klöster
der bruoder – die bruoder der Bruder – die Brüder
Andere stark flektierende Verben gehören weiterhin zu diesem Flexionstyp. Hier ist
im Frühneuhochdeutschen ein Ausgleich im Ablautsystem zu beobachten. An die
Stelle eines vierstufigen Ablautsystems tritt ein dreistufiges System, wie sich an den
folgenden Beispielen von Verben der Ablautreihen I bis III ablesen lässt.
310
8.3
Morphologischer Wandel
Andere Verben reflektieren noch heute grammatischen Wechsel, vgl. leiden – gelitten,
ziehen – gezogen.
In der nominalen Flexion wird im Althochdeutschen noch zwischen verschie-
denen Flexionsklassen unterschieden. Unterscheidungskriterium sind die Stammbil-
dungselemente, die allerdings im Althochdeutschen nur noch resthaft erhalten sind.
Während das Gotische also noch Formen wie dag-a-ns aufweist, die eine Identifikation
von Wurzel, Stammbildungselement und Flexionssuffix (= Akkusativ Plural) pro-
blemlos zulassen, erscheint im Althochdeutschen die entsprechende Form als tag-a.
Das einstige Stammbildungselement ist als Flexionssuffix umgedeutet worden. Eine
Unterklasse dieser a-Deklination sind die Nomina mit dem Stammbildungselement
-ir/-ar. Dieses Stammbildungselement geht infolge von Abschwächungs- und Tilgungs-
vorgängen im Auslaut (Nominativ/Akkusativ Singular) verloren:
(39) rind vs. rind-ar-es
RindNOM/AKK RindesGEN
Durch den Verlust des stammbildenden Elements werden die Formen von Nomi-
nativ/Akkusativ Singular identisch mit den entsprechenden Formen der Neutra der
a-Deklination, zu denen beispielsweise wort ›Wort‹ gehört. Durch analogischen
Ausgleich verlieren Lexeme wie Rind ihr stammbildendes Element schließlich in allen
Singularformen des Paradigmas. In der Flexion von lamb ›Lamm‹ und wort ›Wort‹ sind
die beiden althochdeutschen Flexionsparadigmen im Singular nebeneinander gestellt:
311
8.3
Sprachwandel
Das stammbildende Element -ir wird als Pluralmarker, also als ein Flexionssuffix
reinterpretiert. Dieses Flexionssuffix bedingt im Plural auch den Umlaut des Wurzel-
vokals, wie die Anhebung des Wurzelvokals in lamb – lembir zeigt.
Ein zweiter Typ analogischen Wandels ist die proportionale Analogie, die
Ausdehnung einer Regel auf neue Formen. Dieser Typ internen morphologischen
Wandels kann ebenfalls am Beispiel der gerade behandelten Neutra der a-Deklination
illustriert werden. Nur für eine Teilklasse dieser Nomina gilt, dass sie ihren Plural im
Althochdeutschen mittels -ir, im Mittelhochdeutschen mittels -er bilden:
(41) Mittelhochdeutsch
Singular Plural
lamp lember ›Lämmer‹
blat bleter ›Blätter‹
huon hüener ›Hühner‹
kalp kelber ›Kälber‹
rint rinder ›Rinder‹
tal teler ›Täler‹
Von dieser Teilklasse der Neutra wird die Pluralmarkierung allmählich auf die ande-
ren Neutra der a-Deklination ausgedehnt. Seit dem Spätmittelhochdeutschen findet
sich immer häufiger die Pluralbildung mittels -er, einschließlich der Umlautung des
Wurzelvokals:
(42) a. Pluralformen
Mittelhochdeutsch Frühneuhochdeutsch
wort wörter
kint kinder
kleit kleider
b. der wirt het an im warmiu kleit (Parzival 231.1)
Ein weiterer Typ von analogischem Wandel ist die Volksetymologie: Ein komplexes
Wort mit opaker Struktur wird nach dem Vorbild vergleichbarer Wortbildungsmuster
reinterpretiert, wobei eine falsche Etymologie zugrunde gelegt wird. Die folgende Text-
passage stammt aus der Wettinischen Kleiderordnung von 1482 (Quelle aus Wolff 1986):
(43) Die frawen in den cleynen stettin vnd merckten, der menner in reten sind, die mogen
sleyer von leynwat tragen, der man vier eln umb eynen guldenn kauft.
312
8.3
Morphologischer Wandel
8.3.3 | Wortbildungswandel
In diesem Abschnitt geht es noch einmal um internen morphologischen Wandel. Am
Beispiel von Wortbildungsprozessen werden zwei weitere Typen morphologischen
Wandels präsentiert. Der erste Typ von Wandel betrifft den diachron veränderbaren
Status von Morphemen, und lässt sich an den gegenwartssprachlichen Derivations-
suffixen -heit, -schaft und -tum zur Ableitung von Nomina vorführen. Diese Suffixe
werden im Althochdeutschen noch als ungebundene Morpheme in den folgenden
Bedeutungen verwendet:
(44) heit ›Person, Persönlichkeit‹
scaf ›Beschaffenheit‹
scaft ›Schöpfung‹
tuom ›Urteil‹
Auf der Grundlage von Bildungen wie unter (46) entwickeln sich die gebundenen
Morpheme des Gegenwartsdeutschen, zu denen neben den schon genannten Beispielen
auch die adjektivbildenden Suffixe -haft und -lich gehören. Im heutigen Deutschen
treten diese Morpheme nur noch in gebundener Form auf:
(47) a. Klugheit, Frechheit
b. Ortschaft, Mannschaft
c. Altertum, Heiligtum
313
8.3
Sprachwandel
Ein weiteres Beispiel für die Veränderung der Anwendungsdomäne einer Wortbil-
dungsregel liefern die im heutigen Deutschen sehr produktiven ung-Bildungen. Der
Vergleich möglicher Bildungen im Gegenwartsdeutschen und Frühneuhochdeutschen
zeigt, dass bestimmte Verbklassen im Gegenwartsdeutschen keine möglichen Basen für
ung-Ableitungen sind. Andererseits finden sich im Mittelhochdeutschen und Frühneu-
hochdeutschen deverbale Nomina auf -ung auf der Basis von Wahrnehmungsverben
und anderen stativen Verben (dazu ausführlich Demske 2000).
8.3.4 | Univerbierung
Die Teutschen haben die Freiheit, alle Tage neue zusammengesetzte Wörter zu machen
(C.F. Aichinger: Versuch einer teutschen Sprachlehre, 1754)
314
8.3
Morphologischer Wandel
315
8.3
Sprachwandel
in höher oder besser. Das Prinzip der morphosemantischen Transparenz sagt nun
voraus, dass sich sprachlicher Wandel von eher opaken Formen zu transparenteren
Formen hin vollzieht. Markiertheit wird dabei unterschiedlich stark abgebaut:
(54) ahd. guot – baz > guot – bess-er
mhd. übel – wirser > übel – übl-er
frnhd. rauch – rauher > rau – rau-er
nhd. krank – kränker > krank – krank-er
Die Bildung der Komparativform ist für das Adjektiv gut im Althochdeutschen ma-
ximal komplex, denn die Basis ist stark suppletiv, und die Steigerungsform weist kein
Komparationsaffix auf. Obwohl auch im Gegenwartsdeutschen eine suppletive Form
des Adjektivs verwendet wird, hat die Form insgesamt an Transparenz gewonnen,
weil nun -er als Komparationsmarker erscheint. Beim Adjektiv krank wird in jün-
gerer Zeit die morphologische Alternation des Adjektivs aufgegeben und die Form
dadurch maximal transparent.
Ein zweites morphologisches Markiertheitsprinzip soll den Übertritt stark
flektierender Verben zum schwach flektierenden Flexionstyp erklären:
(55) Konstruktioneller Ikonismus
Eine semantisch komplexere, abgeleitete morphologische Form ist hinsichtlich des kon-
struktionellen Ikonismus unmarkiert, wenn sie formal aufwändiger symbolisiert wird
als ihre semantisch weniger komplexe Grundform. Sie ist umso markierter, je stärker
ihre Symbolisierung davon abweicht.
Im verbalen Paradigma wird das Präteritum im Vergleich zum Präsens als semantisch
komplexer verstanden. Aus diesem Grund sollte das Präteritum formal aufwändiger
gebildet werden als das Präsens. Die schwach flektierenden Verben entsprechen diesem
konstruktionellen Ikonismus, indem sie ein Dentalsuffix zur Bildung des Präteritums
verwenden, wie der Vergleich von sie malen vs. sie malten zeigt. Die stark flektierenden
Verben entsprechen diesem morphologischen Markiertheitsprinzip dagegen nicht:
Die Bildung des Präteritums mittels Ablaut führt nicht zu einem Mehr an lautlicher
Substanz. Das Prinzip des natürlichen grammatischen Wandels sagt demzufolge den
Übertritt vom stark zum schwach flektierenden Flexionstyp wie bei den folgenden
Verben voraus:
(56) sie molk > melk-t-e
sie sog > saug-t-e
sie buk > back-t-e
316
8.3
Morphologischer Wandel
8.3.6 | Zusammenfassung
Veränderungen in der morphologischen Komponente der Grammatik zeigen sich im
Inventar gebundener Morpheme, das vermindert, angereichert oder modifiziert wird.
Durch analogische Prozesse werden Flexionsparadigmen ebenso wie individuelle
Wörter an bestehende Muster angeglichen. Auslöser für analogische Prozesse sind
häufig Schwächungs- und Tilgungsprozesse von Nebensilbenvokalen. Neue Kompo-
sitionsmuster können durch die Usualisierung syntaktischer Verbindungen entstehen,
neue Derivationsmuster durch die Reinterpretation freier Morpheme als gebundene
Morpheme. Auch die Anwendungsdomäne von Wortbildungsregeln ist im Verlauf
der Sprachgeschichte Veränderungen unterworfen.
Aufgabe 4: Rekapitulieren Sie die Geschichte des Wortes mûlwerf seit dem Mit-
telhochdeutschen in einem einschlägigen Wörterbuch. Beschreiben Sie die Ver-
änderungen im Einzelnen. Welcher Typ von morphologischem Wandel liegt vor?
Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch
mûlwerf > Maulwurf
317
8.4
Sprachwandel
8.4.1 | Wortstellungswandel
Wie wir im 4. Kapitel gesehen haben, lässt sich die Struktur von Sätzen durch die
Annahme aufeinander folgender Felder beschreiben. Übertragen wir dieses Felder-
modell auf das Althochdeutsche, finden wir genau wie im Gegenwartsdeutschen V1-,
V2- und VL-Sätze:
(58) a. uuas thar ouh sum uuitua In thero burgi (T 201.2)
›es war dort auch eine Witwe in dieser Stadt‹
b. guot hirti tuot sina sela furi siniu scaph (T 225.16)
›ein guter Hirte gibt seine Seele für seine Schafe‹
c. ther the sunnun úfgangen tuot (T 65.28)
›der die Sonne aufgehen lässt‹
Ein weiterer Unterschied in der Wortstellung betrifft das Vorfeld, das im Gegenwarts-
deutschen im Regelfall von genau einem Satzglied besetzt wird. Im Althochdeutschen
können in diesem Feld produktiv zwei Satzglieder auftreten:
(61) a. thar dar sint zuuene odo thri gisamonate in minemo namen (T 158.6)
›wo nämlich zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind‹
b. Erino portun ih firchnussu (I 157)
eiserne Tore ich zerstöre
›ich zerstöre eiserne Tore‹
318
8.4
Syntaktischer Wandel
Doch nicht nur die Stellung von Satzgliedern im Satz scheint in früheren Perioden der
deutschen Sprachgeschichte nicht so festgelegt zu sein wie im Gegenwartsdeutschen,
sondern auch die relative Abfolge von Konstituenten innerhalb von Satzgliedern ist
freier als heute. Diese Beobachtung gilt zum einen für die Anordnung von Verben im
Verbalkomplex, die im Standarddeutschen klar geregelt ist: In der rechten Satzklam-
mer folgt das regierende Verb dem regierten Verb (62a). Die Abweichung von dieser
Grundabfolge ist obligatorisch, wenn mindestens drei Verben in der RK erscheinen,
und das finite Verb das Auxiliarverb haben ist, von dem seinerseits ein Modalverb
abhängt (62b). Steht anstelle von haben das Auxiliarverb werden oder ein Modalverb,
ist die Abweichung von der Grundreihenfolge fakultativ (62c).
(62) LK MF RK
weil er diese Autobiographie zu lesen3 versuchen2 will1
weil er diese Autobiographie hat1 lesen3 wollen2
weil er diese Autobiographie wird1 lesen3 müssen2/lesen3 müssen2 wird1
Wenn wir uns einen Text vom Ende des 15. Jahrhunderts anschauen, sehen wir schnell,
dass die Abfolge von Verben in den zwei- und dreigliedrigen Verbalkomplexen des
Frühneuhochdeutschen nicht so strikt geregelt ist wie heute: In zweigliedrigen Ver-
balkomplexen kann das regierende Verb im Unterschied zum heutigen Deutsch auch
vorangehen (63b), in dreigliedrigen Verbalkomplexen sind auch die Abfolgen unter
(64) möglich, die im Standarddeutschen ausgeschlossen sind (Ebert 1981, Härd 1981).
(63) a. so es dem schulmeiǕter die tafeln an dem kopff [VK erschlagen2 hat1] (EB 10a)
b. das Ǖie die liebǕt [VK Ǖeý1 geweǕt2] (EB 3a)
(64) a. das er so™lliche lieb biß in den tod [VK hett1 mu(gen2 verpergen3]
b. War durch ein man nit vnbillich in zweyfel [VK gefu(rt3 mag1 werden2]
Auch innerhalb von Nominalphrasen finden sich in der deutschen Sprachgeschichte
Abfolgen, die im Gegenwartsdeutschen nicht wohlgeformt sind (Demske 2001). Am
deutlichsten zeigt sich das in der Stellung des Genitivattributs, das im Althochdeut-
schen seinem Bezugsnomen im Allgemeinen vorausgeht, im heutigen Deutsch diesem
Nomen jedoch folgt. Eine Ausnahme hinsichtlich der Nachstellung im Gegenwarts-
deutschen bilden die Eigennamen sowie Verwandtschaftsbezeichnungen, die als
Eigennamen verwendet werden können.
(65) Gegenwartsdeutsch
a. das Haus [der Freunde]GEN
b. *[der Freunde]GEN Haus
c. [Annas]GEN Teddybär
(66) Althochdeutsch
a. thaz uuirdit ginennit [gotes]gen barn (T 28.30)
›das (dieses Kind) wird Gottes Sohn genannt‹
b. fona [paradises]gen bliidhnissa (I 29.8)
›von der Freude auf das Paradies‹
Über diesen Stellungswandel hinaus kann in früheren Perioden der deutschen Sprach-
geschichte der Genitiv alternativ zu der Position unmittelbar vor oder nach dem
Bezugsnomen in Distanzstellung auftreten. Diese Distanzstellung, die in (67) für zwei
Beispiele aus dem Frühneuhochdeutschen gezeigt wird, ist im Gegenwartsdeutschen
ausgeschlossen:
319
8.4
Sprachwandel
(67) Frühneuhochdeutsch
a. Diser undanckbaren leüt findt man noch seer vil (RB 69)
b. Der Hühner waren doch zwei, wa ist das ein hinkumen? (DU 34.16)
Ein Stellungswandel ist schließlich mit der Herausbildung der Negation nicht verbun-
den. Diese Negation erscheint im heutigen Deutschen typischerweise im Mittelfeld:
(68) Lotta hat heute morgen mal wieder nicht auf mich gewartet.
320
8.4
Syntaktischer Wandel
321
8.4
Sprachwandel
Ein Wandel der Selektionsbeziehung liegt schließlich auch vor, wenn sich das
Abhängigkeitsverhältnis zwischen zwei Konstituenten umkehrt. Solch einen Wandel
beobachten wir im Verhältnis von Quantitätsausdrücken und partitiven Attributen.
Noch im Frühneuhochdeutschen ist viel ein nominalisiertes Adjektiv, dessen partitives
Attribut im Genitiv erscheint:
(77) es werben [NP vil [NP alter eerlicher reicher mann]pl.gen]nom umb mich (RB 76.25)
In konsistenten Sprachen, in denen das Objekt (oder Komplement) dem Verb nach-
folgt, erscheinen auch die Komplemente von Adpositionen, Nomina und Adjektiven
als rechte Erweiterungen des Kopfes. Geht das Objekt dem Verb dagegen voraus, dann
treten die Komplemente anderer syntaktischer Kategorien ebenfalls linksseitig auf.
Hier begegnen wir einem strukturalistisch geprägten Erklärungsmodell wieder,
das auch in der Erklärung von Lautverschiebungen eine Rolle spielt. Die fragliche
Sprache wandelt sich von einem konsistenten Typ zum anderen. Gestört wird die
Symmetrie durch den Wandel in der relativen Abfolge einer einzigen Kopf-Komple-
ment-Beziehung. Die Motivation für diesen initialen Wandel wird im Abbau von
Flexionsmorphologie gesehen.
322
8.4
Syntaktischer Wandel
Wie das Beispiel (81b) zeigt, ist am Nomen in den meisten Fällen nicht erkennbar,
welcher Kasus im Einzelfall vorliegt. Diese Funktion kann von Funktionswörtern
wie den Artikelwörtern übernommen werden, die in dem gegebenen Kontext den
Minister als Nomen im Nominativ, die Präsidentin aber als Nomen im Dativ auswei-
sen.
Mit der Endsilbenabschwächung und dem anschließenden Verlust von Flexi-
onssuffixen geht der deutschen Sprache ein wichtiger Träger grammatischer Infor-
mationen verloren, ein Verlust, der tiefgreifende Auswirkungen auf die Syntax der
Sprache hat. Auf diesen wichtigen Zusammenhang zwischen Flexionsmorphologie
und Wortstellung wird bereits von Johann Gottfried Herder hingewiesen:
(82) Man muß die Worte so ordnen, dass sie bei aller möglichen Kürze keine doppelte
Beziehung der Abhängigkeit leiden: Diese Zweideutigkeit ist am ersten in Sprachen zu
besorgen, die wenige Casus z. E. den Nominativ und Accusativ gleich haben.
(J.G. Herder: Fragmente über die neuere deutsche Literatur, 1766/67, 234)
Sprachen, die wie das Deutsche durch lautlichen Wandel eine maßgebliche Schwä-
chung ihrer Flexionsmorphologie erfahren, müssen andere Mittel bereitstellen, um
die notwendigen grammatischen Informationen zu liefern. Eine Option besteht darin,
grammatische Informationen an bestimmte Positionen im Satz zu knüpfen, so dass
aus der Abfolge von Konstituenten ihre Funktion im Satz abgeleitet werden kann. Es
ist deshalb zu erwarten, dass Sprachen mit einer relativ armen Flexionsmorphologie
eine festere Wortstellung haben als Sprachen mit einer reicheren Flexionsmorpho-
logie.
Möglicherweise kann die Einschränkung in der Stellungsfreiheit genitivischer
Attribute seit dem Frühneuhochdeutschen damit erklärt werden, dass der Genitiv als
Kasus für Attribute zunehmend durch andere Attributformen wie von-Phrasen sowie
Nominalphrasen mit Kongruenzkasus ersetzt wird. Noch im Frühneuhochdeutschen
können genitivische Attribute in Distanzstellung zu ihrem Bezugsnomen auftreten,
eine Serialisierung, die im heutigen Deutsch vollkommen ausgeschlossen ist:
(83) a. [NP Der heiden]gen ward wol [NP hundert mal tusent __ ]nom erschlagen
b. *[NP Giftige-r Pilze]gen hat sie [NP zwei Dutzend __ ]akk gesammelt
Auch der Wandel von Selektionsbeziehungen kann durch den Abbau von Flexions-
morphologie motiviert sein. So lässt sich die Umkehr im Abhängigkeitsverhältnis
von Quantitätsausdruck und Mengenbezeichnung darauf zurückführen, dass durch
Schwächungsprozesse seit dem Althochdeutschen der Genitiv im Frühneuhochdeut-
schen nur noch bei den stark flektierenden Maskulina und Neutra im Singular von
den anderen Kasus formal distinkt ist. Bei allen anderen Nomina fällt die Form des
Genitivs mit den Formen anderer Kasus im Singular und Plural zusammen:
323
8.4
Sprachwandel
(84) Frühneuhochdeutsch
Singular
Nom tag bild farbe has(e) nas(e)
Gen tag(e)s bild(e)s farbe hasen nasen
Dat tag(e) bild(e) farbe hasen nasen
Akk tag bild farbe hasen nasen
Plural
Nom tag(e) bilder farb(e)/farben hasen nasen
Gen tag(e) bilder farb(e)/farben hasen nasen
Dat tagen bildern farben hasen nasen
Akk tag(e) bilder farb(e)/farben hasen nasen
Wenn aber in einer Nominalphrase formal nicht mehr zwischen Kopf und Komplement
unterschieden werden kann, wird die Nominalphrase strukturell mehrdeutig: In (85)
ist viel entweder der Kopf der Phrase und Personen ein partitives Attribut im Genitiv,
oder Personen ist der Kopf der Phrase mit viel als attributivem Quantitätsadjektiv.
(85) in welchem Scharmützel auch [NP viel Personen] vmbkommen (A 23.27)
a. (…) in welchem Scharmützel auch [NP viel [NP Personen]gen]nom vmbkommen
b. (…) in welchem Scharmützel auch [NP viel Personen]nom vmbkommen
Wie die Flexionsparadigmen in (84) exemplarisch zeigen, gilt diese Mehrdeutigkeit für
die Mehrzahl der Nomina. Da es sich um Mengenbezeichnungen handelt, fehlt außer-
dem der Artikel als möglicher Kasusanzeiger und auch disambiguierende Adjektive
sind eher selten: Die Adjektive edle/vnedle können aufgrund ihrer Flexionsendungen
nur Nominativ, nicht aber Genitiv sein.
(86) welches viel Edle vnd Vnedle Personen gesehen (A 31.10)
Dass diese strukturelle Mehrdeutigkeit im Frühneuhochdeutschen tatsächlich besteht,
zeigt sich daran, dass bei stark flektierenden Maskulina und Neutra beide Strukturen
nebeneinander vorkommen:
(87) a. welche neben jhrer Fraw Schwiger teglich zur Gutschen spacirn fahren/ vnd
viel Geldes vnter die Armen spendirn. (A 303.28)
b. Jhr Kön. Mayst. hetten gern von den Mären viel Geldt (A 85.27)
In beiden Fällen liegt eine Nominalphrase im Akkusativ vor, deren Kopf in (87a)
das nominalisierte Quantitätsadjektiv viel ist, in (87b) aber die Mengenbezeichnung
Geld. Im Fall der nominalisierten Quantitätsadjektive viel, mehr, lützel, genug, we-
nig, minder wird die Umdeutung der strukturellen Beziehungen im Sinne von (85b)
durch die Wortart des Quantitätsausdrucks unterstützt: Sie werden dann nicht mehr
als nominalisierter Kopf, sondern als attributives Adjektiv aufgefasst.
Ein weiteres Beispiel dafür, welche Rolle der Abbau von Flexionsmorphologie
beim Wandel der Selektionsbeziehungen spielen kann, liefert der bereits besprochene
Wandel in der Steuerung der Adjektivflexion: Im Althochdeutschen hängt die Ver-
teilung von starker und schwacher Adjektivflexion von der Definitheit der Nomi-
nalphrase ab, im heutigen Deutsch dagegen entscheidet die Form des Artikelworts
über den Flexionstyp des Adjektivs. Voraussetzung für die systematische Verteilung
der schwachen und starken Adjektivflexion ist aber die mögliche Differenzierung
beider Typen. Die Endsilbenabschwächung ist im Frühneuhochdeutschen jedoch so
weit fortgeschritten, dass diese Differenzierung in zahlreichen Fällen kaum noch zu
leisten ist (vgl. Philipp 1980, Ebert et al. 1993).
324
8.4
Syntaktischer Wandel
(88) Frühneuhochdeutsch
stark Singular Plural
Maskulinum Neutrum Femininum
Nom klein-er klein-(e)s klein-(e) klein-(e)
Gen klein-(e)s >-en klein-(e)s > -en klein-er klein-er
Dat klein-em klein-em klein-er klein-en
Akk klein-en klein-(e)s klein-(e) klein-(e)
schwach
Nom klein-(e) klein-(e) klein-(e) klein-en
Gen klein-en klein-en klein-en klein-en
Dat klein-en klein-en klein-en klein-en
Akk klein-en klein-(e) klein-en > (-e) klein-en
Das Problem der Differenzierung von adjektivischen Flexionstypen betrifft einerseits
die Formen im Nominativ Singular des Femininums sowie Akkusativ Singular des
Maskulinums und den Dativ Plural aller Genera. Andererseits betrifft dieses Problem
alle Formen mit auslautendem Schwa, das im Frühneuhochdeutschen häufig entfällt.
Auch diese durch Apokopierung von Flexionssuffixen entstandenen unflektierten
Formen lassen sich sowohl dem schwachen wie dem starken Flexionstyp zurechnen.
Die Schwierigkeit, zwischen beiden Flexionstypen zu differenzieren, zeigt sich
auch in der wechselseitigen Übernahme von Formen: Der schwache Flexionstyp
übernimmt im Akkusativ Singular des Femininums das Flexionssuffix -e der starken
Form, während der starke Flexionstyp im Genitiv Singular des Maskulinums und
Neutrums das Flexionssuffix -en der schwachen Flexion übernimmt. Den Übergang
belegen die folgenden Beispiele:
(89) a. von euch bin ich freudenreich-es wesens beraubt (AB III.12)
a’. 6. Eymer rot-en Wein (A 294.16)
b. darnach sein sie die ganntz-en nacht schwetzig (EB 6.27)
b’. in die gemeldt-e Landsart (LB 12.19)
Nach einer Zeit der Unsicherheit im Gebrauch der beiden Flexionstypen im Frühneu-
hochdeutschen etabliert sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts die Relation zwischen
Artikelwort und adjektivischen Flexionstypen als eine morphologisch begründete
Relation (vgl. Demske 2001).
Aufgabe 7:
Beschreiben Sie die Struktur der markierten Verbalkomplexe in den folgenden
Teilsätzen, indem Sie die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Verben durch
Indizierung anzeigen.
a. Der ander Articul/ damit die Restanten zu abzahlung des Kriegßvolcks in Berck-
stätten/ zu des Landtags beschluß/ vnverzogenlich eyngefordert sollen werden.
b. Von den gefangnen Türcken/ wie dann solches auch von andern mehr orthen
bestettiget worden/ haben sie vernommen/ das in gantz Türckey grosser Sterbend
vnd Thewrung seye/ vnd alles/ doch nit wol zubekommen/ vmb dryfach Gelt
bezahlt werden müsse.
c. daß es vast 14. tag aneinander geregnet/ dahero das Wasser Themis/ zweymal
dermassen angelauffen/ daß man im Läger das Wasser auß den Gräben hat führen
müssen.
325
8.5
Sprachwandel
Aufgabe 8: Bestimmen Sie für das neuhochdeutsche Verb sehen die Argument-
struktur (kategoriale und semantische Charakterisierung; s. Kap. 4).
a. Welche Unterschiede beobachten Sie zu der Verwendung dieses Verbs im Alt-
hochdeutschen in den folgenden Sätzen?
b. Wie können die althochdeutschen Verhältnisse erklärt werden?
a. [Then jamar allan]AKK sahun thi mithont quamun gahun (O III.24.69)
›den ganzen Jammer sahen die, die soeben gekommen waren, sofort‹
b. So er tho zi einen duron quam […] zi imo harto thar tho sprah thaz wib
›als er zu einem Tor kam, sprach da dort zu ihm die Frau
thaz [thero duro]GEN sah (O IV.18.6)
die das Tor beobachtete‹
Mit der althochdeutschen Bedeutung von Tier passt auch das abgeleitete Adjektiv
tierlich zusammen, das wörtlich übersetzt ›ungeheuer‹ meint. Diese Bedeutung hat
das Adjektiv tierisch im heutigen Deutsch allerdings nur in der Umgangssprache
(tierischen Durst haben im Sinne von ›ungeheuren Durst haben‹).
326
8.5
Semantischer Wandel
Eine umgekehrte Entwicklung hat das altenglische Lexem deor genommen, das sich
zunächst ebenfalls auf das wilde Tier bezieht, während deer im heutigen Englisch
›Rotwild‹ meint, also eine Bedeutungsverengung erfahren hat.
Ein weiteres Beispiel für eine Bedeutungserweiterung liefert der Stamm hel-,
der im Althochdeutschen im Sinne von ›tönend, laut‹ ausschließlich auf akustische
Eigenschaften bezogen wird, wie etwa in dem althochdeutschen Verb hellan ›tönen‹.
Im heutigen Deutsch bezieht sich das Adjektiv hell neben akustischen (mit heller
Stimme) auch auf optische Eigenschaften (auf glänzendem Hintergrund).
Die Verengung einer Wortbedeutung zeigt sich im Gebrauch des Verbs faran,
das im Althochdeutschen für jede Art der Fortbewegung verwendet werden kann. Im
Gegenwartsdeutschen bezieht sich fahren allein auf die Bewegung eines Fahrzeugs
oder einer Person mit einem Fahrzeug im weitesten Sinne.
Die ursprüngliche Bedeutung von fahren hat sich in solchen Kontexten wie was ist
denn in dich gefahren erhalten. Ebenfalls eine Verengung der Wortbedeutung ist in der
Geschichte des Lexems hôchgezîte zu beobachten, das sich im Mittelhochdeutschen
auf kirchliche und weltliche Feste bezieht. Heute bezeichnet Hochzeit allein das Fest
anlässlich der Eheschließung.
(93) hin zem knappen sprach si dô ›du bist Gâwânes kneht.‹ (Pz 645.8)
›da sagte sie zu dem Knaben: du bist Gaweins Knecht‹
327
8.5
Sprachwandel
Den Wandel sozialer Bewertungen und die in der Folge unterschiedlichen konnota-
tiven Bewertungen lassen sich im Deutschen beispielhaft an den Veränderungen im
Wortfeld Frau vorführen (nach König 1978):
(95) Althochdeutsch Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch
allgemein wîb wîp Frau
sozial hochstehend frouwa vrouwe Dame
juristisch quena ›Ehefrau‹ hûsfrouwe/wirtin Ehefrau/-gattin
kebisa ›Nebenfrau‹
biologisch wîb ›verheiratet‹ wîp ›verheiratet‹ Fräulein ›unver-
heiratet‹
magad ›unverheiratet‹ maget ›unverheiratet‹ Mädchen ›jung‹
diorna ›jung‹
funktionell diu ›Dienerin‹ dierne ›Dienerin‹ Magd
moralisch huora ›Prostituierte‹ huore/kebese Hure/Dirne
Andere Beispiele sind das alte Wort krane ›Kranich‹, das auf das gleichnamige He-
bewerkzeug übertragen wird, Flügel ›Vogelschwinge‹, der auch ein Musikinstrument
328
8.5
Semantischer Wandel
respektive einen Gebäudeteil oder den Teil einer (politischen) Bewegung meinen
kann. Auch der Wendehals als ›eine Person, die sich politischen Änderungen schnell
anpasst‹, gehört zu diesem Typ von semantischem Wandel. Neben einzelnen Lexemen
können aber auch ganze Wortfelder von einer Bedeutungsübertragung betroffen
sein wie die sprachlichen Ausdrücke aus dem Bereich der Luftfahrt, die der Seefahrt
entnommen worden sind:
(97) Schiff, Navigation, Mannschaft, Kapitän, Deck, an Bord, steuern, segeln
Von Bedeutungsverschiebung oder Metonymie wird gesprochen, wenn ein sprach-
licher Ausdruck durch eine sachlich verwandte Bezeichnung ersetzt wird. Im Unter-
schied zur Metapher beruht die Metonymie also auf der Kontiguität von Bedeutungen.
Ein Beispiel hierfür ist das mittelhochdeutsche berille ›Beryll‹, eine Bezeichnung für
einen Halbedelstein, aus dem Brillen hergestellt wurden. Im Gegenwartsdeutschen
wird das Produkt als Brille bezeichnet. Weitere Beispiele, in denen der Name eines
Ortes (98a) oder einer Person (98b) zum Namen für einen charakteristischen Gegen-
stand geworden ist, sind:
(98) a. Denim < (Serge) de Nîmes – Stadt in Frankreich
Gouda – Stadt in Holland
Champagner – Region in Frankreich
b. Sandwich – John Montagu, 4th Earl of Sandwich
Guillotine – Joseph-Ignace Guillotin, frz. Physiker
röntgen – Wilhelm Conrad Röntgen, dt. Physiker
Auch die Verbindung von Metapher und Metonymie ist belegt: Zunächst wird die
Bedeutung des althochdeutschen klawa ›Kralle‹ auf die menschliche Hand übertra-
gen, später kann Klaue metonymisch dann auch auf ›schlechte Handschrift‹ bezogen
werden (vgl. Burkhardt 1996).
8.5.4 | Zusammenfassung
Semantischer Wandel verändert die Bedeutung eines Wortes in quantitativer oder
qualitativer Hinsicht. Ersteres ist der Fall, wenn die Bedeutung eines Lexems erweitert
oder eingeschränkt wird, Letzteres, wenn eine Verbesserung oder Verschlechterung
der Bedeutung eintritt. Auch die Übertragung und Verschiebung von Wortbedeu-
tungen kann zu Bedeutungserweiterungen führen. Semantischer Wandel lässt sich
ebenso auf Einzellexeme wie auf ganze Wortfelder beziehen. Seine Ursachen liegen
vor allem in sprachexternen historischen Faktoren, also Veränderungen der sozialen
Rahmenbedingungen. Von semantischem Wandel zu unterscheiden ist der lexikalische
Wandel, der sich auf die Vergrößerung oder Verkleinerung unseres Wortschatzes
bezieht (s. Kap. 8.6.2).
329
8.6
Sprachwandel
Aufgabe 10: Bestimmen Sie in den folgenden Beispielen den Typ semantischen
Wandels:
Lexem alte Bedeutung neue Bedeutung
lousy (Engl.) ›mit Läusen verseucht‹ ›wertlos, nichtsnutzig‹
viande (Frz.)/meat (Engl.) ›Nahrung‹ ›Fleisch‹
siesta (Span.) ›Mittagshitze‹ ›Mittagsschlaf‹
pariente (Span.) ›Elternteil‹ ›Verwandter‹
8.6.1 | Kontaktsituationen
Für die deutsche Sprachgeschichte lassen sich Kontaktsituationen ausmachen, in denen
die deutsche Sprache unter dem Einfluss des Keltischen, Lateinischen, Französischen,
Italienischen, Spanischen, Englischen und slawischer Sprachen wie dem Polnischen
gestanden hat. Der folgende Überblick erfasst schlagwortartig die Kontaktsprachen
330
8.6
Sprachwandel durch Sprachkontakt
und die Kontaktsituationen, die für die Entwicklung des Deutschen eine besondere
Rolle gespielt haben oder noch spielen:
(99)
Deutsch-Latein Deutsch-Französisch Deutsch-Englisch
Germanenreiche, Römerzeit hohes Mittelalter: Angelsächsische
(6. Jh.) Kultur des Rittertums Mission (8. Jh.)
Christianisierung, Missionierung,
Gründung zahlreicher Klöster, aktuelle
Bildungsreform Karls des Großen Globalisierungseffekte
(8.–10. Jh.) 16.–18. Jh.: Alamode-
Humanismus (15.–16. Jh.) wesen, Hugenottenkriege
Andere Lehnwörter aus den Bereichen Landwirtschaft, Obst- und Weinbau, Militär
und Verwaltung, Haushaltung, Handel und Bauwesen aus dieser Zeit sind
331
8.6
Sprachwandel
332
8.6
Sprachwandel durch Sprachkontakt
333
8.6
Sprachwandel
334
8.6
Sprachwandel durch Sprachkontakt
Der Radius dieser Abweichungen gegenüber der lateinischen Vorlage geht jedoch
kaum über die Textzeile hinaus (dazu Masser 1997). Aus diesem Grund ist auch der
Vergleich mit der lateinischen Vorlage bei Untersuchungen althochdeutscher Syntax
auf der Basis von Übersetzungsliteratur unabdingbar.
Sicher auf lateinischem Einfluss beruht auch das Auftreten von AcI-Kon-
struktionen nicht nur nach Wahrnehmungsverben wie sehen und hören (112a) oder
kausativer Verben wie heißen und lassen (112b), sondern auch nach Verba Dicendi
(112c). Dieser Typ von AcI-Konstruktion ist in Übersetzungsliteratur wie dem Tatian
belegt, fehlt aber im althochdeutschen Otfrid, der als Umdichtung einer lateinischen
Vorlage wesentlich freier gegenüber dieser Vorlage bleibt. Im heutigen Deutsch fehlt
der dritte Typ von AcI-Konstruktion (Speyer 2001).
(112) a. mittiu ir gisehet abraham […] Ingangan In gotes richi (T 186.6)
›wenn ihr Abraham […] in Gottes Reich eingehen seht‹
b. er lâzit sunnûn sîna scînan filu blîda (O II.19.21)
›er lässt seine Sonne sehr fröhlich scheinen‹
c. únde iího íh iz álso uuésen. sô du chîst (I 310)
und zustimme ich es so sein wie du sagst
›und ich stimme zu, dass es so ist, wie du sagst‹
Die zunehmende Verwendung der Verlaufsform zeigt sich nicht nur qualitativ in der
wachsenden Zahl von Umgebungen, in denen die Form auftreten kann (vgl. 113),
sondern ist auch quantitativ nachweisbar.
335
8.6
Sprachwandel
8.6.3 | Zusammenfassung
Der sprachinternen Motivation sprachlichen Wandels stehen sprachliche Verände-
rungen gegenüber, die externen Faktoren zuzuschreiben sind. Der Einfluss anderer
Sprachen unter verschiedenen politisch-sozialen und kulturellen Vorzeichen hat die
deutsche Sprache in allen Komponenten ihrer Grammatik verändert. Motive für die
Entlehnung liefert einerseits die Deckung sprachlicher Bedürfnisse, ein Motiv, das
vor allem die Beeinflussung des Deutschen durch die lateinische Sprache während der
Römerzeit und der Zeit der Christianisierung bestimmt. Andererseits wird der Einfluss
anderer Sprachen auf das Deutsche durch das hohe Prestige einer Kontaktsprache
motiviert: In der deutschen Sprachgeschichte ist sicher der Einfluss des Französischen
im 16. bis 18. Jahrhundert Ausdruck der sozialen Dominanz dieser Sprache. Diese
als Transfereffekte bezeichneten Veränderungen müssen von Konvergenzeffekten
unterschieden werden, die Kontaktsituationen mit einem stabilen Bilingualismus
kennzeichnen.
Aufgabe 11: Bestimmen Sie für die folgenden Lehnwörter, aus welcher Sprache
und wann diese Wörter ungefähr in die deutsche Sprache entlehnt worden sind.
Skizzieren sie mit Hilfe geeigneter Literatur, welche außersprachlichen Rahmen-
bedingungen zu diesen Entlehnungen geführt haben.
a. ôstarûn ›Ostern‹, sunnûnâbant ›Sonnabend‹, gotspel ›Evangelium‹
b. Schtorkipper ›Ladenbesitzer‹, Gleederschtor ›Kleiderladen‹, schuur ›sicher‹
c. pilucare ›pflücken‹, porta ›Pforte‹, pilarium ›Pfeiler‹
Aufgabe 12: Aus welcher Sprache hat das Deutsche die folgenden Verben entliehen?
Konsultieren Sie für Ihre Antwort einschlägige Wörterbücher.
importieren, marschieren, pausieren, reparieren, rezitieren, sortieren
Aufgabe 13: Die folgenden Daten stammen aus deutschen Dialekten, die in Texas
gesprochen werden (der Einfachheit halber in der Orthographie des Standarddeut-
schen). Beschreiben Sie ausgehend von diesen Daten das Kasussystem der Dialekte.
a. Die Erziehung von die Kinder lässt viel zu wünschen übrig.
b. Sie ist eine Schwester von meine erste Frau.
c. Er trocknete ihn den Schweiß ab.
d. Das Pferd ist ihn weggelaufen.
e. Die Frau ihre Kinder sind groß.
f. Das war mich sehr unangenehm.
g. Das Bild hängt über das Bett.
336
8.7
Die Ausbreitung von Sprachwandel
Tatsächlich lässt sich beim Übergang einer Form in die andere, einer Bedeutung in die
andere immer ein Zwischenstadium beobachten, in dem ein sprachlicher Ausdruck
formal auf zwei verschiedene Arten realisiert werden kann, genauso wie Polysemie
ein notwendiges Zwischenstadium in semantischem Wandel darstellt:
(115) Stadium I: A q Stadium II: A/B q Stadium III: B
337
8.7
Sprachwandel
man vorrangig auf indirektem Weg, d. h. durch die Verwendung von Varianten in
der Sprachgemeinschaft.
Im Unterschied zu Fragestellungen, deren Fokus auf der Geschichte eines
spezifischen Sprachwandelphänomens liegt, nimmt die Variationslinguistik folglich
auch nicht an, dass eine Sprachgemeinschaft in ihrem Sprachgebrauch homogen ist.
Vielmehr liegt strukturierte Heterogenität vor, wie sich beispielweise an der Verteilung
der Modalpartikeln halt und eben im Gebrauch der Berliner Sprachgemeinschaft in
Abhängigkeit von Raum, Alter, Geschlecht und sozialer Gruppe zeigen lässt (nach
Dittmar 1997).
(116) OST, männlich Alter eben halt
Beleuchter 43 21 0
Elektriker 26 19 17
Altenpfleger 38 1 2
Krankenpfleger 40 6 31
Angestellter 30 100 0
Musiker 33 36 0
Schlosser 33 7 0
Lehrer 44 13 0
OST, weiblich
Kindergartenleiterin 48 2 0
Studentin 23 20 5
Zahnarzthelferin 23 67 35
Kinderärztin 36 15 11
Lehrerin 38 11 0
Sozialpsychologin 59 17 0
Arzthelferin 27 4 28
WEST, männlich
Jurastudent 30 1 24
Student 27 0 6
Lehrer 37 14 14
Krankenpfleger 34 8 6
Verkäufer 28 7 2
Erzieher 39 0 1
Vertreter 57 3 2
WEST, weiblich
Sozialpsychologin 46 0 0
Studentin 27 10 8
Altenpflegerin 51 3 12
Krankenpflegerin 29 5 4
Schulleiterin 48 1 0
Zahnärztin 50 8 10
Erzieherin 55 2 0
Hausfrau 41 3 0
Laut Dittmar sind beide Modalpartikeln Indikatoren der Stärke, die Schlussfolge-
rungen markieren, wobei stilistische Unterschiede bestehen. Aufgrund dialektaler
Vermischung hat sich neben dem für den Norden typischen eben auch halt in der
Berliner Sprachgemeinschaft ausgebreitet. Insgesamt benutzen deutlich mehr West-
berliner als Ostberliner die Modalpartikel halt. Dittmar zufolge breitet sich die mit
Prestige behaftete halt-Variante zunehmend unter Ostberliner Sprechern aus, was
338
8.7
Die Ausbreitung von Sprachwandel
Diese Zahlen vom Beginn des 16. Jahrhunderts weisen eine deutliche soziale Schich-
tung in Abhängigkeit von Beruf und Ausbildung auf: Am häufigsten erscheint die
gegenwartssprachliche Normalfolge bei Männern in städtischen Ämtern mit Uni-
versitätsausbildung, am seltensten bei den weltlichen Frauen, die in dieser Zeit nur
Zugang zu ausgesprochen kurzen Bildungsgängen haben. Gleichzeitig findet sich die
Abfolge Infinitum vor Finitum häufiger in Geschäftsbriefen und amtlichen Schriften
als in Privatbriefen, Chroniken, Tagebüchern und sonstigen Aufzeichnungen. Es ist
spekuliert worden, dass diese Verteilung durch die Wortstellung im Lateinischen
beeinflusst worden ist. Anders ausgedrückt, es wird vermutet, dass sich die progres-
sive Variante von einer lateinkundigen sozialen Gruppe auf den Sprachgebrauch der
anderen Gruppen ausweitet.
Da sich die Rekonstruktion außersprachlicher Kontexte für frühere Perioden
der Sprachgeschichte allgemein schwierig gestaltet (die von Ebert untersuchten Text-
zeugnisse stellen einen außergewöhnlichen Glücksfall in der Überlieferungsgeschichte
der Stadt Nürnberg dar), versucht die Variationslinguistik, aus der Verteilung sprach-
licher Varianten in der Gegenwart und Veränderungen dieser Verteilung innerhalb
eines beobachtbaren Zeitraumes in verschiedenen Altersgruppen von Probanden
Rückschlüsse auf bereits abgeschlossene Sprachwandelprozesse zu ziehen, wie sie
beispielsweise in der Korpusbeschreibung zum Gebrauch der Modalpartikeln in der
Berliner Sprachgemeinschaft vorliegt.
339
8.7
Sprachwandel
Literatur
Quellen
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[N Ps] = Notker der Deutsche: Der Psalter, Psalm 1–50. Hg. v. Petrus W. Tax. Tübingen: Niemeyer
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Tatian. Lateinisch und altdeutsch mit ausführlichem Glossar. Hg. v. Eduard Sievers. Paderborn:
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Baufeld, Christa (1996): Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Tübingen: Niemeyer.
Bechert, Johannes/Wildgen, Wolfgang (1991): Einführung in die Sprachkontaktforschung. Darmstadt:
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Haider, Hubert (1993): Deutsche Syntax - generativ. Vorstudien zur Theorie einer projektiven
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Duden (1993²ff.): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden. Mannheim: Du-
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Duden 7 (20135): Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim: Du-
denverlag.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1854-1971): Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. (33 Bde.). Leipzig:
S. Hirzel. Neubearbeitung Bd. 1ff. Leipzig 1983ff.: S. Hirzel.
Kempcke, Günter et al. (1984): Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Berlin: Aka-
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Klappenbach, Ruth/Steinitz, Wolfgang (1964ff.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache.
Berlin: Akademie-Verlag.
Kluge, Friedrich (201125): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin/Boston: de
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Muthmann, Gustav (2001³): Rückläufiges Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Handbuch
der Wortausgänge im Deutschen, mit Beachtung der Wort- und Lautstruktur. Tübingen: Niemeyer.
348
9.6
Fachzeitschriften
9.6 | Fachzeitschriften
Listen der wichtigsten Fachzeitschriften finden sich in Bußmann (20084) (s. 9.2) und Eisenberg/
Wiese (1995) (s. 9.7). Zugang zu den noch nicht bibliographisch erfassten Fachzeitschriften bietet
CCL (s. 9.7).
Applied Psycholinguistics
Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB),
Child Development
Cognition
Cognitive Linguistics
Deutsch als Fremdsprache
Deutsche Sprache
First Language
Folia Linguistica
Folia Linguistica Historica
Intercultural Pragmatics
International Review of Pragmatics
Journal of Child Language
Journal of Linguistics
Journal of Pragmatics
Journal of Semantics
Language
Language Acquisition
Language Variation and Change
Lingua
Linguistic Compass
Linguistics
Linguistics and Philosophy
Linguistische Berichte
Morphology
Natural Language and Linguistic Theory
Semantics and Pragmatics
Sprache und Kognition
Word Structure
Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik
Zeitschrift für Germanistische Linguistik
Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi)
Zeitschrift für Sprachwissenschaft
349
9.7
Allgemeine Bibliographie
9.7 | Bibliographien
BL. Bibliographie Linguistique/Linguistic Bibliography. 1939ff. (jetzt:) Dordrecht/Boston/London:
Kluwer.
BLL. Bibliographie linguistischer Literatur. Bearbeitet von Elke Suchan. 1976ff. Frankfurt a.M.:
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CLL. Currents Contents Linguistik. Inhaltsverzeichnisse linguistischer Fachzeitschriften. 1976ff.
Frankfurt a.M.: Stadt- und Universitätsbibliothek.
Eisenberg, Peter/Gusovius, Alexander (19882): Bibliographie zur deutschen Grammatik 1965-1986.
Tübingen: Niemeyer.
Eisenberg, Peter/Wiese, Bernd (1995): Bibliographie zur deutschen Grammatik 1984-1994. Tübingen:
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Frosch, Helmut et al. (Hgg.) (2003): Bibliographie zur deutschen Grammatik. Tübingen: Stauffenburg.
GERMANISTIK. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen. 1960ff. Tübin-
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LLBA. Linguistics and Language Behavior Abstracts. 1966ff. San Diego, Calif.
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Munske, Horst Haider (1999³): Erlanger Bibliographie zur germanistischen Sprachwissenschaft.
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Nuyts, Jan/Verschueren, Jef (1987): A Comprehensive Bibliography of Pragmatics. 4 Bde. Amsterdam/
Philadelphia: John Benjamins.
350
10
10 | Glossar
Adjunkt: [Auch: Modifizierer, Angabe, Supplement] Eine Konstituente, die nicht selegiert wird.
Affix: Oberbegriff für Präfix und Suffix. Affixe kommen nicht frei vor und haben keine lexi-
kalische Bedeutung.
Affixoid: [Auch: Halbaffix] Element, das Eigenschaften von Wörtern und Affixen aufweist,
z. B. das Präfixoid Bomben- in Bombenstimmung oder das Suffixoid -arm in verkehrsarm.
Akzent: [Auch: Betonung] Hervorhebung sprachlicher Einheiten (Laute, Silben, Wörter,
Wortgruppen) innerhalb einer Äußerung durch Verstärkung der Muskelaktivitäten der
Sprechorgane, die zu einer Erhöhung der Lautstärke, Tonhöhe oder Quantität führt.
Allomorph: Realisierungsvariante eines Morphems.
Allophon: Realisierungsvariante eines Phonems.
Ambiguität: [Auch: Mehrdeutigkeit] Man unterscheidet zwischen lexikalischer Ambiguität, syn-
taktischer (struktureller) Ambiguität und Skopusambiguität (q Homonymie, q Polysemie).
Analogie: Sprachveränderung nach dem Vorbild bestehender Muster; Analogie produziert
Regelmäßigkeit z. B. in Flexionsparadigmen.
Analogiebildung: Neubildung nach dem Vorbild eines schon vorhandenen Wortes, z. B. Haus-
mann zu Hausfrau.
Anapher: Typischerweise ein Pronomen, das einen Gegenstand bezeichnet, auf den in der Rede
schon mit einem anderen Ausdruck (dem Antezedens der Anapher) Bezug genommen wurde.
Beispiel: In Hier sehen Sie Eduard, wie er versucht, den Garten neu anzulegen. ist er die
Anapher und Eduard das Antezedens.
Antonymie: Semantische Relation des Bedeutungsgegensatzes zwischen skalierbaren lexikali-
schen Ausdrücken wie z. B. kalt und warm oder jung und alt. Im Gegensatz zur q Komple-
mentarität impliziert die Negation des einen Ausdrucks nicht sein antonymes Gegenstück.
Aphasie: Erworbene zentrale Sprachstörung als Folge einer Hirnschädigung (z. B. durch Schlag-
anfall oder Tumor). Alle sprachlichen Bereiche und alle Modalitäten (Sprechen, Verstehen,
Lesen, Schreiben) können betroffen sein.
Argument: Verben und viele Adjektive und Nomen sind semantisch gesehen Prädikate (nicht
zu verwechseln mit der syntaktischen Funktion Prädikat) und bezeichnen bestimmte Per-
sonen und Dinge oder Situationen, in denen bestimmte Personen und Dinge auftauchen.
Diese Personen und Dinge sind die Argumente der Prädikate. Oft werden allerdings auch
die Konstituenten, die die Argumente syntaktisch realisieren, Argumente genannt. In dem
Satz Valentine zerreißt das Geschenkpapier sind dann die beiden Konstituenten Valentine
und das Geschenkpapier Argumente des Verbs zerreißt.
Argumentstruktur: In der Argumentstruktur sind die Anzahl, die syntaktischen Realisierungen
und die semantischen Rollen der Argumente angegeben.
Artikulation: Bewegung der Sprechorgane zur Produktion von Lauten und Lautketten; die
Artikulation im weiteren Sinne erfasst alle Sprechaktivitäten des Atemapparates, des Kehl-
kopfes (= Larynx) und der Organe des Rachen-, Nasen- und Mundraumes (= supraglottaler
Raum), die Artikulation im engeren Sinne nur die Letzteren.
Assimilation: Prozess und Ergebnis der Angleichung eines Lautes in einer oder mehreren Ei-
genschaften an einen Laut im Äußerungskontext.
Äußerungsbedeutung: Ebene der Bedeutung, auf der unter Rückgriff auf den Äußerungskon-
text u. a. deiktische Variablen gefüllt werden (q Satzbedeutung, q Sprecherbedeutung).
Basis: Element, das affigiert werden kann, z. B. Stamm oder Wurzel.
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Glossar
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Glossar
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Glossar
Komposition: [Auch: Zusammensetzung] Bildung eines komplexen Worts aus zwei oder mehr
vorhandenen Wörtern, z. B. Not+arzt, dunkel+rot.
Konfix: Wortbildungselement, das nicht frei vorkommt, aber lexikalische Bedeutung hat, z. B.
Bio- in Bio+bauer.
Kongruenz: Syntaktische Beziehung zwischen Wörtern und Phrasen, bei der sich die morpholo-
gischen Merkmale des einen Ausdrucks nach den morphologischen Merkmalen des anderen
Ausdrucks richten. So richten sich bei der Subjekt-Verb-Kongruenz im Deutschen Numerus
und Person des finiten Verbs nach Numerus und Person des Subjekts: Ich bin müde, *Ich
ist müde, *Er bin müde, Er ist müde.
Konnotation: Allgemeiner, sozial und kulturell festgelegter Bedeutungsaspekt, der Teil der
wörtlichen Bedeutung eines lexikalischen Ausdrucks ist und oft pejorativen Charakter
hat.
Konsonant: Sprachlaut, der mit einer Behinderung (Verengung oder Blockade) des Luftstroms
im supraglottalen Raum gebildet wird, die beim Hörer als Geräusch wahrgenommen wird.
Konstituente: Einheiten einer morphologischen oder syntaktischen Struktur.
Konstituentenstruktur: Die Art, wie die Bestandteile eines komplexen Ausdrucks, seine Kon-
stituenten, miteinander kombiniert sind. Konstituentenstrukturen kann man mit indizierten
Klammerungen oder Baumdiagrammen beschreiben.
Konstituententest: Ein Test, mit dem man entscheiden kann, ob eine bestimmte Wortfolge
eine Konstituente bildet. Beim Ersetzungstest wird die Wortfolge durch ein Wort ersetzt,
beim Umstellungstest wird die Wortfolge in eine andere Satzposition bewegt und beim Ko-
ordinationstest wird die Wortfolge mit einer anderen gleichartigen Wortfolge koordiniert.
Kontradiktion: Semantische Relation zwischen den Bedeutungen von zwei Sätzen. Zwei Sätze,
die kontradiktorisch sind, können nicht beide gleichzeitig wahr oder falsch sein. Wenn der
Satz Oli hat den Ball aus dem Strafraum gefaustet wahr ist, dann ist der Satz Oli hat den
Ball nicht berührt falsch. Auf der Ebene der lexikalischen Bedeutung entspricht der Kon-
tradiktion die q Komplementarität.
konventionelle Implikatur: Implikatur, die zur konventionellen Bedeutung eines Ausdrucks
(wie aber, deshalb etc.) gehört. Beispiel: In Sie haben gut gespielt, aber nicht gewonnen
wird durch aber nahe gelegt (konventionell implikatiert), dass gut Spielen normalerweise
mit Gewinnen einhergeht.
konversationelle Implikatur: [Auch: Konversationsimplikatur] Implikatur, die auf der Basis
von Kooperationsprinzip und Konversationsmaximen entsteht. Wurde von Paul Grice für
die Sprachtheorie entdeckt. Beispiel: Mit der Äußerung Ich glaube, am Postamt gibt es eine
Tankstelle legt der Sprecher nahe (»implikatiert er konversationell«), dass er sich nicht so
ganz sicher ist, ob es am Postamt eine Tankstelle gibt.
Konversion: Umkategorisierung eines Worts, z. B. treffen q Treff oder Nerv q nerven.
Kopf (morphologisch): Der morphologische Kopf ist das rechte Element einer Komposition oder
Derivation. Er bestimmt die Kategorie, das Genus und die Flexionsklasse der Wortbildung.
Kopf (syntaktisch): Der lexikalische Ausdruck, der die Eigenschaften einer größeren Konstitu-
ente festlegt und nicht wegfallen kann. So ist das Adjektiv altes der Kopf der Konstituente
erst zwei Tage altes und die Präposition vor der Kopf der Konstituente vor der Grenze.
Kunstwörter: [Auch: nonsense words] sind zum Zweck experimenteller Untersuchungen
erfundene Wörter.
Lautverschiebung: Umordnung im Phonemsystem einer Sprache; für die Geschichte der deut-
schen Sprache sind die erste Lautverschiebung (Herauslösung der germanischen Sprachen
aus der indoeuropäischen Sprachfamile) und die zweite Lautverschiebung (Herauslösung
des Althochdeutschen aus den germanischen Sprachen) von Bedeutung.
Lexem: Im Lexikon aufgeführte Einheit, z. B. Idiome, Wörter oder Affixe.
lexikalische Kategorie: Eine Menge oder Klasse von Wörtern, die bestimmte charakteristische
Eigenschaften teilen, auch Wortart genannt. Diese Eigenschaften können morphologischer
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Glossar
Art sein (Flexion), syntaktischer Art (mögliche Satzpositionen, Kombinierbarkeit mit anderen
Kategorien) oder auch semantischer Art. Lexikalische Kategorien werden typischerweise
mit dem ersten Buchstaben ihres Namens abgekürzt, etwa N für Nomen, V für Verb, A für
Adjektiv oder P für Präposition.
Lexikon: Menge von Lexikoneinträgen.
Lexikoneintrag: Informationen zu einem Lexem im Lexikon. Diese Informationen sind in der
Regel phonologischer (bzw. orthographischer), morphologischer, syntaktischer, semantischer
und pragmatischer Art.
Matrixsatz: Ein Satz, der einen eingebetteten Satz enthält. Matrixsätze sind nicht immer selbst-
ständig, sondern können auch selbst eingebettet sein.
Merkmalklassen: Klassen von Flexionsmerkmalen. Zu unterscheiden sind Numerus, Genus,
Person, Kasus, Tempus, Modus, Genus Verbi und Komparation.
MLU: Abkürzung für ›mean length of utterance‹, also für die durchschnittliche Äußerungslänge
(berechnet aus der Anzahl von Wörtern (im Deutschen) oder Morphemen (im Englischen)
geteilt durch die Anzahl der Äußerungen). Gilt für frühe Erwerbsstufen als zuverlässigeres
Vergleichsmaß als das Alter.
Morphem: Kleinstes bedeutungstragendes Element einer Sprache. Komplexe Wörter bestehen
aus zwei oder mehr Morphemen.
Morphologie: Lehre vom Strukturaufbau der Wörter. Die Morphologie unterteilt man in
Flexionslehre und Wortbildungslehre.
Motherese: [Auch: Baby Talk, Ammensprache, child directed speech] Erwachsene modifizieren
ihre an kleine Kinder gerichtete Sprache systematisch. Die Sprache ist langsamer, die Äuße-
rungen sind hoch-toniger, mit ausgeprägter Intonation, kürzer und syntaktisch vereinfacht.
Es wird diskutiert, inwieweit motherese eine notwendige oder nur eine förderliche Bedingung
für den Spracherwerb ist.
Natürlichkeitstheorie: [Auch: Markiertheitstheorie] Theoretisches Modell zur Bewertung von
sprachlichen Einheiten als mehr oder weniger natürlich; Natürlichkeit wird im Lautsystem
einer Sprache mit artikulatorischer und/oder perzeptiver Einfachheit begründet, im mor-
phologischen System mit der Einfachheit von Form-Bedeutungszusammenhang.
Neubildung: Komplexes Wort, das neu im Lexikon ist, z. B. Elchtest.
Paarsequenz: Zwei standardmäßig aufeinander bezogene Äußerungen zweier Sprecher. Beispiele:
Frage-Antwort, Gruß-Erwiderung des Grußes, Dank-Erwiderung des Dankes.
Parameter: Ein Teil der q universalgrammatischen Prinzipien ist parametrisiert, d.h. sie bein-
halten zwei Optionen, die sprachspezifisch auf einen der beiden möglichen Werte festgelegt
werden (= Parameterfixierung oder -festlegung).
performative Äußerung: [Auch: explizit performative Äußerung; explizites Performativ] Eine
Äußerung, durch die die Handlung vollzogen wird, die von der Äußerung bezeichnet wird.
Beispiel: Ich verspreche hiermit, meine Pflichten gewissenhaft zu erfüllen. Die Beschäftigung
mit explizit performativen Äußerungen durch John L. Austin führte zur Entwicklung der
Sprechakttheorie (q Sprechakt).
performatives Verb: Sprechaktbezeichnendes Verb, das in (explizit) performativen Äußerungen
dazu verwendet werden kann, den Handlungstyp zu bezeichnen, der durch die Äußerung
realisiert wird. Beispiele: fragen, auffordern, behaupten, versprechen.
Phonem: Kleinste segmentierbare Einheit einer Sprache mit distinktiver (= bedeutungsunter-
scheidender) Funktion.
Phonetik: Wissenschaftsdisziplin, die sich mit allen lautlichen Aspekten des Kommunikations-
vorgangs beschäftigt. Sie untersucht die Teilprozesse der Sprachproduktion (artikulatorische
Phonetik), der Übertragung der Äußerung als Schallsignal (akustische Phonetik) und der
Wahrnehmung des Gesprochenen durch das Gehör (auditive/perzeptive Phonetik).
phonetische Transkription: Schriftliche Fixierung der gesprochenen Sprache mit Hilfe eines
auf alle natürlichen Sprachen anwendbaren speziellen Symbolsystems. In der Regel wird zu
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10
Glossar
diesem Zweck das allgemein anerkannte Alphabet der International Phonetic Association
(= IPA) verwendet.
Phonologie: Teildisziplin der Linguistik, die sich mit allen Eigenschaften von Äußerungen befasst,
die für das Lautsystem einer Sprache relevant sind. Die Phonologie ermittelt u. a. das Pho-
nemsystem, die distinktiven Merkmale und die prosodischen Charakteristika einer Sprache.
phonologische Regel: Formale Repräsentation eines phonologischen Prozesses, in der ein
festgelegtes Notationssystem benutzt wird. Dieses System enthält u. a. distinktive Merkmale
und Symbole für Grenzen phonologischer Einheiten.
phonologischer Prozess: Alternation in der Aussprache sprachlicher Einheiten in Abhängigkeit
von bestimmten Bedingungen, zu denen Lautkontext, morphologische Merkmale, Position
in der Äußerung, Sprechtempo, Stil u. a. zählen.
Phonotaktik: Gesamtsystem der Abfolgeregularitäten für die Segmente einer Sprache in größeren
phonologischen Einheiten wie Silbe, Morphem und Wort.
Phrase: Nach dem X’-Schema eine maximale Konstituente, wobei eine Konstituente maximal
ist, wenn es keine größere Konstituente gibt, die sie enthält und denselben Kopf wie sie
hat. Phrasen werden nach ihren Köpfen benannt und mit P abgekürzt. So enthält eine NP
ein N als Kopf, eine AP ein A als Kopf, eine VP ein V als Kopf und so weiter. Nach dem
X’-Schema sind auch Sätze Phrasen.
Phrasenkompositum: Kompositum, dessen Erstglied eine Phrase ist, z. B. das Graue-Maus-Dasein.
Phrasenstruktur: Die Konstituentenstruktur einer Phrase.
Phrasenstrukturbaum: Eine Notation für Phrasenstrukturen, die sowohl die lineare Abfolge
der Teile als auch die hierarchische Struktur darstellt. Phrasenstrukturbäume bestehen aus
Knoten, die für Konstituenten stehen und mit Kategoriennamen versehen sind, und Ästen,
die die Konstituenten mit ihren Teilen verbinden.
Polysemie: Lexikalische Mehrdeutigkeit, die auf einen gemeinsamen Bedeutungskern zurück-
geführt werden kann. Ein polysemer Ausdruck wie Oper, mit dem man u. a. ein konkretes
musikalisches Bühnenwerk, eine Institution oder das Gebäude, in dem musikalische Büh-
nenwerke aufgeführt werden, bezeichnen kann, hat mehrere Bedeutungen, die sich aus einer
unterspezifizierten Kernbedeutung systematisch durch konzeptuelle Spezifizierung ableiten
lassen (q Homonymie).
Prädikat (semantisch): In der Semantik ist ein Prädikat ein sprachlicher Ausdruck, der ein
oder mehrere Argumente selegiert. Je nachdem, wie viele Argumentstellen ein Prädikat hat,
unterscheidet man zwischen einstelligen Prädikaten (z. B. schlafen), zweistelligen Prädikaten
(z. B. lesen) und dreistelligen Prädikaten (z. B. geben). Bei nicht-symmetrischen zwei- und
mehrstelligen Prädikaten spielt die Reihenfolge der Argumente eine wesentliche Rolle.
Präfix: Wortbildungselement, das der Basis vorausgeht, z. B. un- in unschön.
Pragmatik: Je nach sprachwissenschaftlichem Ansatz Theorie über kontextabhängige Bedeutung,
Theorie der Sprachverwendung, Theorie der pragmatischen Kompetenz. Als pragmatische
Kerngebiete betrachtet man meist Deixis, Präsupposition, Implikatur, Sprechakt und Kon-
versationsstruktur.
Präsupposition: Annahme, die der Sprecher einer Äußerung macht und die von einem bestimm-
ten sprachlichen Element der Äußerung ausgelöst werden kann. Beispiel: Mit der Äußerung
»Ottilie bedauert, dass sie einen Fehler gemacht hat« präsupponiert der Sprecher, dass Ottilie
einen Fehler gemacht hat; mit der Äußerung »Ottilie glaubt, dass sie einen Fehler gemacht
hat« präsupponiert der Sprecher dies nicht. Auslöser für die (faktive) Präsupposition ist
das Verb bedauern.
Produktivität: Ausmaß der Anwendung von Wortbildungsregeln bei Neubildungen.
Proposition: [Auch: Sachverhalt] Der wahrheitsbewertungsfähige Inhalt einer Äußerung. So
ist z. B. die Proposition der beiden Sätze Hans schläft und Schläft Hans? gleich, nämlich
›dass Hans schläft‹. In der wahrheitsfunktionalen Semantik entspricht die Proposition eines
Satzes der Menge aller Situationen, die diesen Satz wahr machen.
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Glossar
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Glossar
Silbe: Aus einer Lautfolge bestehende Einheit, die im Sprechvorgang eine Phase zwischen zwei
Zeitpunkten bildet, zu denen der Mund- und Nasenraum den geringsten Öffnungsgrad
aufweist. Dieser Phase entspricht im akustischen Bereich ein Zeitintervall zwischen zwei
Minima der Schallintensität.
Sinnrelation: q Semantische Relation.
Sprechakt: [Auch: Sprechhandlung] Sprachliche Handlung, die aus einem Äußerungsakt, einem
propositionalen, illokutionären und perlokutionären Akt bestehen kann. Oft versteht man
unter Sprechakt auch nur den illokutionären Akt, d. h. eine Handlung wie Fragen, Auffor-
dern, Behaupten oder Versprechen. John L. Austin ist der Begründer der Sprechakttheorie.
Sprecherbedeutung: [Auch: kommunikativer Sinn] Die Bedeutung eines Sprechaktes, die sich in
einer spezifischen Interaktionssituation ergibt (q Äußerungsbedeutung, q Satzbedeutung).
Stamm: Morphem oder Morphemkonstruktion, an die Flexionselemente treten können, z. B.
un+schön+e, schön+geist+ig+en.
Suffix: Element, das der Basis angefügt wird, d. h. ein Flexionssuffix oder ein Derivationssuffix,
z. B. unschön+e, geist+lich.
Synchrone Sprachwissenschaft: Die synchrone Sprachwissenschaft untersucht die Beziehungen
zwischen Einzelelementen in einem Sprachsystem.
Synkretismus: Formaler Zusammenfall verschiedener Wortformen, wie z. B. der Form des
Dativ Singular (dem) Freunde q (dem) Freund mit der Form des Nominativ Singular (der)
Freund. Eine Form kodiert verschiedene grammatische Merkmale (q Homonymie innerhalb
eines Flexionsparadigmas).
Synonymie: [Auch: semantische Äquivalenz] Semantische Relation der Bedeutungsgleichheit
zwischen sprachlichen Ausdrücken wie z. B. beginnen und anfangen oder Briefmarke und
Postwertzeichen.
Syntactic Bootstrapping: Kinder nutzen syntaktische Informationen, um die Bedeutung von
Wörtern zu erschließen. Aus der q Argumentstruktur eines Verbs z. B. kann das Kind
Bedeutungsaspekte des Verbs entnehmen.
syntaktische Funktion: [Auch: syntaktische Relation] Syntaktische Beziehung zwischen Wörtern
und Phrasen, bei der der eine Ausdruck für den anderen Ausdruck eine bestimmte Funktion
hat. Syntaktische Funktionen sind unter anderem für Kongruenz, Wortstellung und Satzbe-
deutung relevant. Nur Wörter und Phrasen können eine syntaktische Funktion haben. So
ist in dem Satz Valentine zerreißt das Geschenkpapier das Nomen Valentine das Subjekt,
das Verb zerreißt das Prädikat und die NP das Geschenkpapier das Objekt.
syntaktische Kategorie: Eine Menge oder Klasse von Ausdrücken, die bestimmte syntaktische
Eigenschaften teilen.
Syntax: Die Regeln der Grammatik einer Sprache, die festlegen, wie die Wörter dieser Sprache
zu grammatischen Sätzen kombiniert werden können.
Überdehnung: [Auch: Übergeneralisierung] Die q Extension eines Wortes wird weiter ge-fasst
als in der Zielsprache, so dass Fehler entstehen (z. B. Hund für alle vierbeinigen Haustiere).
Überregularisierung: [Auch: Übergeneralisierung] Kinder flektieren gelegentlich Nomen und
Verben, die irregulärer Flexion unterliegen, regulär (geschwimmt anstelle von geschwom-
men).
ungrammatisch: Entspricht nicht den Regeln der Grammatik. Ungrammatische Sätze werden
mit dem Zeichen * am Satzanfang markiert.
Universalgrammatik (UG): Begriff aus der generativen Syntaxtheorie. Umfasst die Prinzipien
oder Eigenschaften, die in der Grammatik aller Sprachen gelten. So gibt es in allen Sprachen
Nomen und Verben. Die Prinzipien der UG bestimmen den kindlichen Grammatikerwerb,
da sie als angeborenes, abstraktes sprachliches Wissen gelten.
Unterdehnung: [Auch: Untergeneralisierung] Die Extension eines Wortes wird enger gefasst
als in der Zielsprache, so dass Fehler entstehen, (z. B. Hund nur für Dackel oder für den
eigenen Hund).
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10
Glossar
359
11
Bilabiol Labiodenlal Dcnwl J Ahcolar 1J>oslal\'c..'Oia Re1rol1cx Palmal Velar Uvular Glouul
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Phill)•ngc~ l
l,losiw: p b t d [ ct c j -k 9 q G
Nasal m llJ_1-- n J1 r-- IJ, I - -N
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Fricative
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Approximam u J { J U(
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Wherc S) mbol$ nppeur in pairs. thc one to thc righl n:presents a voiced conS(ma.nL .Shadcd areas dcn(ltc artic:ul:uions judg_cd impossible.
CONSONANTS (NON-PULMONIC)
(Pos()Qiveolar
J PaJ:~.tal t' Dental/alveol:u-
OTHER SYMBOl-S
M
M. Voiceless labi3l·vela.r fricative ww Alveolo·pahunl frieativc.s
360
11
Internationales Phonetisches Alphabet (IPA-Stand 2005)
A--u
VOWELS SUPRASEGMENTALS
Front Central Back
Primary stress
Closc 11 y w Secondary stress
I y W • U ,foun;;J'tiJ;;Jn
Long e:
Closc-mid e C/> - 5 e -- Y 0 Half-long e•
g
\
Extra-shon e
Opcn-mid e ce- 3\ G - A • ::> Minor (foot) group
e., 11
LEVEL CONTOUR
€ or l l!xtrn
Rising
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high
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Jtish Fallins
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low e 1 Rising-
fallins
J. Downstep /' Globalri$C
t Ups<ep '\, Global fa ll
0
OIACRITICS Diacritics may bc placed above a symbol with a descender. e.g. l)
Voiced
s t.-~ ~ J
hdh ~
Cr!!aky voiced
Asplr~ued t
Apical
1-':'- - u
h L inguol3biul ! g Lamina! t d
0- 2-
)
More tounded y w Lnbialized tw dwl -
D
Nasali.zed e
(
Lcss roundc.>d y J Palatalitcd tJ dJ n Nasal rclcasc d"
t" d~ La~eral release d'
--·ue
Advanced 'I Vci3J'ized
~--~--
~haryngcali1..cd t~ d~ , d,
..
Rclractc..-d No audible relcase
1-x-
Ccntrali1.W e - Vdnrizcd or pharyngealizcd t -
e
X
Mid·Centralized
... Raised ~ l} • \'Oiced nlveolar fricaüve)
'
Syllabic n
' T
l..owen:d y (.!? •voiccd bilabial opproximanl)
Non·syllabic ~ - Advanced Tonguc Rom e -
..."
~~ ~
Rhotitity ~ ct'-
•
Rct.rncted Tongue Root e•
Quelle: IPA Chart, http://www.langsci.ucl.ac.uk/ipa/ipachart.html, available under a Creative Commons Attribution-
Sharealike 3.0 Unported License, Copyright © 2005 International Phonetic Association
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Sachregister
A annulliert 217
Abkürzung 19, 33 Anomalie 168
Abschwächung 304 Ansatz 114
Accomplishment 197–200 Antonymie 184
Achievement 197–200 apex 76–77
Ach-Laut 78, 86 Aphasie 6–7, 171, 256
Activity 198–200 – Broca-Aphasie 7
Adhortativ 27 – globale Aphasie 7
Adjektiv 24–25, 133–134, 170, 298, 309, – Wernicke-Aphasie 7
321–322, 324–325 apikal 76–77, 88
Adjektiv-Komposition 49 Apokope 304
Adjektivphrase 138 Appendix 111
Adjunkt 160 Arbeitszeugnis 224
Adverb 22, 25, 30, 48, 55, 59, 61–62, 131, arbiträr 24, 175
133–134, 155, 321 Argument 42, 147, 149–152, 160, 161, 196,
Adverbial 133–134, 157–161 204–205
Adverb-Komposition 49 Argumentstruktur 58, 149–151, 153–154,
Adverbphrase 138, 155 160
Affix 29–32, 56, 58–59 Argumentvererbung 58
Affixoid 57, 171 Artikel 22, 25, 132, 321, 324
Affrikaten 77, 112, 266, 331 Artikulation 7, 74, 76, 77–81, 90, 91, 99,
Agens 41–42, 153, 196, 200 106, 108, 111, 116, 306
Akkusativ 6, 17, 22–24, 26, 42, 58, 132, 142, Artikulationsart 76, 77, 91, 301
147, 149, 151, 154–155, 160, 309, 311, Artikulationsartmerkmal 91
320, 324–325 Artikulationsort 76–77, 78, 83, 86–87,
Akkusativobjekt 28, 58, 155–158, 160 97–98, 100, 102, 105, 114, 301
Akronyme 19, 33 Artikulator 78
Akt des Aufforderns 239 artikulatorisch 73–74, 79, 88– 91, 108, 112,
Aktionsart 196, 198–200 305–306
akustisch 73, 89 Arytenoid 75
Akzent 115–117, 119, 170 Aspiration 83–84, 89
Allomorph 310 Assertiv 240, 243
Allomorphie 32 Assimilation 86, 97–99, 101, 103, 301
Allophon 84–88, 95 – Fernassimilation 98, 302
Alphabetschrift 71 – Kontaktassimilation 98, 302
Alternativensemantik 246 – partielle 301
alveolar 76–78, 92, 262, 301–302 – progressive 98, 101
ambig 53, 127, 167 – regressive 98, 101
Ambiguität 35, 167, 170, 220 – totale 302
– lexikalische 167 assimiliert 97
– Skopusambiguität 167 Assoziationsexperiment 20
– strukturelle 167 Assoziationslinie 107
Analogie 39–40, 310–312 asymmetrische Koordination 206
Analogiebildung 39–40, 279 atelische Verben 197–201
analogischer Ausgleich 310–311 Attribut 133, 154–155, 159–161, 322–323
analogischer Wandel 308, 310, 312, 316 auditiv 72, 74–75, 82, 84, 89, 115
analytisch 27, 39, 309 Aufforderung 237–239, 242
Anapäst 118 Aufforderungssatz 3, 27, 243
Anapher 212, 215–216 Aufruf-Antwort-Sequenzen 250
annullierbar 225 Auslautverhärtung 96, 100–101, 302
363
11
Sachregister
364
Sachregister
E freie Variation 87
egressiver Luftstrom 74 Fremdreparatur 251
einfaches Prädikat 158 Fremdspracherwerb 256
eingebetteter Satz (Nebensatz) 139–146, 161 Frikativ 77–79, 83, 86, 91–92, 95, 100, 102,
eingeleiteter VL-Satz 140–145 110–112, 263, 265–266, 307
Einwortäußerung 281–282 Fugenelement 32, 35, 50–51, 315
Elision 97, 99 Funktion 205–206, 323
Elizitationsverfahren 277 funktionalistische Ansätze 292
Entlehnung 20–21, 64, 298, 330–332, 336 Funktionswort 134, 170, 206, 281, 323
Entrundung 305 Fuß 118
enzyklopädisches Wissen 174–176, 187, 192
Epenthese 99, 102–303 G
Epentheseregel 102 Gebärdensprache 12, 175, 255
Ereignis 196 Geisteswissenschaft 10
Ersetzungsbildungen 40 Genitiv 22–24, 26, 50–51, 132, 159, 304,
Ersetzungstest 127–128 309, 312, 314–315, 319–325, 334
erste Lautverschiebung 306–307, 331 Genitivobjekt 155, 157
Erstspracherwerb (L1) 2, 255 Genus 22–24
Erwerbsmodell 257–258, 289–293 germanistische Linguistik 3, 10
Erwerbsphase 264, 281 Gesagtes 223, 226–227
Erwerbsstadien 288 geschlossene Klasse 25, 171
Erwerbsstrategie 270–272 geschriebene Sprache 2, 17
Erwerbsverlauf 257, 259, 288, 292–293 Gespanntheit/gespannt 80, 87, 93–94
Existenzpräsupposition 228–229 gesprochene Sprache 2, 17, 73
Exklamativsatz 244 glottal stop 75–76
exklusive Disjunktion 206 Glottis/glottal 74–79, 83, 90
Experiencer 153 Glottisverschlusslaut 75, 77, 85
explizites Performativ 234–236 Grammatikalisierung 314
Expressiv 241 Grammatikalitätsbeurteilungen 285
Extension 178–182, 184, 188, 190, 193–194, grammatisch 122–123
203, 205 grammatischer Wechsel 311, 313, 317
externe Regelordnung 103 Graphematik 2, 299
extrasilbisch 111
H
F Halbvokal 265
Face-to-face-Kommunikation 97 Harmonisierungsprozesse 266
faktive Präsupposition 229 harter Gaumen 76
fakultativ 133, 319 Hauptakzent 117
Familienähnlichkeit 192 Hebung 79, 302
fast mapping 270 Hemisphäre 7
feeding order 104 heteronym 184
Fehlschlag 234 hierarchische Struktur 128
Feinabstimmung 291 hinten 78–80, 90–94, 101–102
finit 27, 122–126, 334 Hinzufügung von Segmenten (Epenthese) 99,
flap 77 102, 303
Flexion 21–27, 132, 136, 276–279, 311, 317, historische Linguistik 13
321, 325 historische Sprachwissenschaft 5–6, 299–340
Flexionselement 18, 22, 26, 29 hoch 79, 89–93, 104, 106, 116
Flexionsparadigma 22, 24–26, 277, 309 Holzwegsatz 10
Fokus 116, 245 Homonymie 45, 194
Fokus-Hintergrund-Gliederung 245–246 Homonymievermeidung 44–45
forensische Linguistik 12 Hyperkorrektion 337
Fragesatz 3, 105, 243 Hyperonymie 19, 185, 189
Fragetest 128 Hyponymie 19, 185, 189
Frame 20, 170, 175, 186
freier Relativsatz 141
365
11
Sachregister
I Kernbedeutung 174
Ich-Laut 78 Kernsilbe 111
idiomatisiert 20, 169 kindliche Spracherwerb 255–294
Idiome 19, 167, 169 Klassifizierung 71–72, 123–125, 133, 140, 142
idiosynkratisch 95, 103, 149, 200 Knoten 106, 117, 137, 139
idiosynkratische Eigenschaften 149 – nicht-verzweigende 139
Illokution 237–244 – verzweigende 139
illokutionärer Akt 238 Koartikulation 71
illokutionärer Indikator 243 Koda 114
illokutionäres Verb 240 kognitive Entwicklung 269, 272, 280, 290
Imitation 289, 292 kognitive Linguistik 8–10
Imperativ 27, 29 Kognitivismus 289
Imperativsatz (Aufforderungssatz) 3, 27, 243 Kohyponyme 185
implikatieren 221 Kollokation 19
Implikation, semantische 166 Kommissiv 241
Implikatur 215, 217–227 Kommunikation 73, 219
– generalisierte konversationelle 225 kommunikativer Sinn 177
– konventionelle 223, 226 Komparation 25
– konversationelle (auch: Konversationsim- Kompetenz 12, 298
plikatur) 217, 224 Komplement 24, 150–151, 160–161,
– partikularisierte konversationelle 225 320–322, 324
implizite Derivation 33 komplementäre Distribution 85–87, 95
implizites Performativ 236 Komplementarität 184
Indikativ 22, 27 Komplementsatz 161
indirekter Sprechakt 241–242 komplexes Prädikat 158
Individuenprädikate 199 Komponentenanalyse 187
infiniter Satz 140–142, 145–146 Kompositaakzent 117
infinites Verb 27 Komposition 29, 32–33, 36, 48–49, 274
Information 41–42 Kompositionalitätsprinzip 169, 201
inhaltsbasiert 225 Konfix 31, 51–52, 58
Inhaltswort 134, 170 Kongruenz 23, 26, 156
Initiation 74 kongruieren 141
inkompatibel 184 Konjugation 27
Inkompatibilität 184 Konjunkte 132
Input 100, 290 Konjunktion 125, 131–134, 206
Instanz 84 Konjunktiv 22, 27
Instrument 42, 54, 153 konnektionistisches Modell 292
Intension 179–180, 182, 187, 272 Konnotation 181, 183
Interaktionismus 290 Konsonant 75–76
Interferenz 330 konsonantisch 89
interne Regelordnung 103 konstative Äußerung 234
Interrogativsatz (Fragesatz) 3, 105, 243 Konstituente 35–37, 114–115, 123, 126–130,
Intonation 116 136, 320, 322
Intonationssprache 105 – einfache 130
Ironie 177 – komplexe 132, 135–138
– Konstituentenstruktur 129–130, 138
J – Konstituentenstruktur der Silbe 114–115
Jambus 118 – Konstituententest 127–128
Jugendsprache 4, 5 – maximale 137
– mittelbare 35
K – unmittelbare 35–37
kalkulierbar 225 Kontamination 33
kanonische Formen 263 Kontext 64, 100
Kasus 23, 132–134, 142, 147, 309, 314, 323 – intensional 180
Katapher 215 – opak 180
Kehlkopf 74, 76 kontextfrei 53, 100
Kern 114 kontinuierlich 90–92, 104
366
Sachregister
367
11
Sachregister
Modul 9 O
Monophthong 306 Oberklassenmerkmal 89, 91, 93, 106
Morphem 17, 29, 169–170, 267, 308, 313, 317 Objekt 136, 147, 154–161, 322
Morphemvariante 31 objektbezogene Prädikative 158
Morphologie 9, 12, 15–69, 164, 170, 212 Objektsprache 203
morphologische Ebene 72, 257 obligatorische Bestandteile 135
morphologische Faktoren in der Wortbildung obligatorische Kontexte 285
46, 134 Obstruent 75, 89–92, 95–97, 100, 102,
morphologische Kriterien der Wortartbestim- 105–106, 111–114, 306
mung 134 offene Klasse 171
morphologisches Kriterium der Worthaftigkeit offenes Prestige 337
17 Öffnungsminimum 108
morphologische Trennbarkeit 60 okkasionelles Wort 21
motherese 291 Onset 114
motiviert 20, 302, 304, 308, 315, 330 Opposition 82–83, 86, 95–96
Mundraum 74, 76–77, 79–80, 91, 94, 106 Optativsatz 244
Mutter 35 oral 76–77, 83, 88
oraler Laut 77, 88
N Ordnung der phonologischen Regeln 99
Nachfeld 124, 126, 128–129, 133, 142–147, orthographisches Kriterium für Worthaftigkeit
318 17
Nachsprechtest 285 Output 100–101
nasal 76, 92
Nasal 77–78, 92, 97–103, 110–111, 301, 305 P
Nasenraum 76–77, 88 Paarsequenz 249
Nativismus 289 Paarsequenzorganisation 250
natürliche Klasse 92 palatal 76–78, 86–87, 92
Natürlichkeitstheorie 305, 315 Palatalisierung 302
Naturwissenschaft 10 Palatalvokale 79
Nebenakzent 117 palato-alveolar 78
Nebensilbe 111, 304 Palatum 76
negative Wohlgeformtheitsbedingung 113 Paradigma 72–73, 316
Nennformen 17 paradigmatisch 72, 183
Neologismus 21 Parameter 79, 115, 280
Neubildung 20 Paraphrase 165
neuhochdeutsche Monophthongierung 306 Paraphrasieren 165
neuroanatomisches Lexikon 16 parole 12
Neurolinguistik 8, 186 partielle Blockierung 44
neutralisiert 95 Partikel 60, 133
Neutralisierung 100 Partikelpräfix-Verben 60
nicht eindeutig 226 Partikelverb 60
nicht-faktive Präsupposition 229 Passiv 28, 166
nicht-freier Relativsatz 141 Patiens 41, 153
nicht ikonisch 175 Performanz 12
nicht konventionell 226 performative Äußerung 233
N+N-Komposition 48, 52–54, 167, 176 performatives Verb 236
Nomen 23, 130–135, 156, 159 perlokutionärer Akt 238
Nomen-Komposition 48 pharyngal 76
Nominalphrase 138, 154–155, 323 Phon 71
Nominativ 17, 22–24, 26, 32, 42, 58, 142, Phonation 74
147, 149, 151, 156, 304, 309, 311, Phonationsphase 74
323–325 Phonem 82–88, 95, 170, 265, 307
Nukleus 114 Phonetik 73–74, 88, 212
Numerus 23, 134, 141, 156, 311 – artikulatorische 73–81
– auditive 73
phonetisch 73, 77–78, 82–83, 85, 87, 89, 94,
106–107, 109–110, 112, 115–116, 305
368
Sachregister
369
11
Sachregister
370
Sachregister
stimmhaft 75, 77–79, 83, 86, 88, 90–91, thematische Rolle (semantische Rolle) 152,
95–96, 99–100, 102, 106, 303, 307 196–201
stimmlos 75, 77–78, 83–84, 87–88, 90–91, Thyroid 74
95–96, 100–102, 106, 110–111, 303, 307, tier 105
331 Tilgung (Elision) 97, 99, 102–103, 304, 308
stimmloser, dorsaler Frikativ 87 Tilgungsregeln 102–103
Stimmritze 74–76, 78 timing tier 105
Stimmton 74 token blocking 44
Stop 77 Tonschicht 105
Struktur 72, 312, 318 Tonsprache 105
– morphologische 119, 310 topologische Felder 122–126, 142–143
– syntaktische 119, 167–168, 308 Transfer 330, 335
strukturierte Heterogenität 338 trill 77
Subjekt 156, 323 Trochäus 46, 118
subjektbezogene Prädikative 158 turn-taking 248, 286
Subjunktion 131 type blocking 44
Subjunktionalsatz 141
Substitutionsprozess 266 U
Suffix 29, 59, 63, 66, 302, 313–315, 333–334 Überdehnung 269
Suffixoid 57 übergaberelevante Stelle 248
Superreim 115 übergeordneter Satz 140
supraglottaler Raum 76, 78 Überregularisierung 277
suspendiert 230 umgangssprachlich 99–100, 298
syllable peak 108, 114 Umlaut 23, 97–99, 103, 302–303, 305, 310,
synchron 57, 99, 171, 300 312
Synkope 304 Umstellungstest 128
Synkretismus 26, 309 uneingeleiteter VL-Satz 141
synonym 166 ungrammatisch 5, 73, 122
Synonymie 19, 183–184 unikales Morphem 31
Synonymievermeidung 45 Univerbierung 49, 314
Synsemantika 170 universal 110, 226, 289
syntactic bootstrapping 291 Universalgrammatik 3, 292
Syntagma 72–73 Universalien 3
syntagmatisch 72, 183 Universalität 89
syntaktische Distribution 131 unsilbisch 108–109
syntaktische Ebene 72, 257 unspezifische Lesart 181
syntaktische Faktoren in der Wortbildung 47 Unterdehnung 269
syntaktische Funktion 23, 25, 154, 323 untergeordneter Satz 140
syntaktische Kategorie 130, 154, 322 Unterspezifikation 193, 195
syntaktische Kriterien der Wortartbestimmung Urschöpfung 20–21
134 usuelles Wort 20
syntaktische Position 131 Uvula/uvular 76–78, 80, 92
syntaktische Wörter 17
syntaktisch trennbar 60 V
Syntax 9, 12, 55, 64, 122–164, 170, 323, V2-Bewegung 147
330, 334 Vagheit 190
synthetisch gebaute Sprachen 309 Valenz 149
systematische Lücken 72 Variable 100–101
Variante 31–32, 75, 77, 80, 82, 84, 87, 95,
T 100, 337–339
Tagebuchstudie 276, 288 Variation 85, 96
Tautologie 179 Variationslinguistik 337–339
telische Verben 197–198, 200 Varietäten 3
template (Schablone) 113 velar 76–78, 86–87, 92, 98, 101, 111, 262
Tempusform 27 Velarnasal 78, 111
Textsemantik 169 Velarvokal 79
Thema 54, 153, 196, 199 Velum 76–77, 79, 83, 88
371
11
Sachregister
372