Jahrbuch Sexualitäten 2021 Melanie Babenhauserheide Jan Feddersen Benno Gammerl Rainer Nicolaysen Benedikt Wolf HRSG PDF Download
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Jahrbuch Sexualitäten 2021
Jahrbuch Sexualitäten
2021
Herausgegeben im Auftrag der
Initiative Queer Nations
von
Melanie Babenhauserheide, Jan Feddersen,
Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen
und Benedikt Wolf
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Essay
Marco Kammholz
Sexualität in Zeiten der Coronakrise . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Queer Lectures
Aaron Lahl
Das Veralten der sexualutopischen Psychoanalyse?
Herbert Marcuse 1968 und heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Jan-Henrik Friedrichs
»Verbrechen ohne Opfer«?
Die »Pädophiliedebatte« der 1970er Jahre in Sozialwissenschaft
und Schwulenbewegung aus machttheoretischer Perspektive . . . . 62
Antoine Idier
Eine homosexuelle Politik der Zerstreuung
Zu Guy Hocquenghems »Das homosexuelle Begehren« . . . . . . . 85
Monty Ott
Übersetzungsfehler oder Ausdruck deutscher Erinnerungsabwehr?
(Queere) Jüd:innen als lebende Widersprüche
zu intersektionaler Analyse in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . 108
Eszter Kováts
Zwischen Phobien und Hegemonien
Gender als Feindbild der Rechten und die Probleme
mit einer progressiven Einheitsfront . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Im Gespr äch
Mini aturen
Benedikt Wolf
Für eine komplexe Ungleichheits- und Ressentimentforschung
Über einige Probleme des Intersektionalitätsansatzes . . . . . . . . 189
Jan Feddersen
Queer – Vokabel der Vereindeutigung
Warum das Wort »schwul« aus der öffentlichen Wahrnehmung
gerät und durch »queer« ersetzt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Götz Wienold
Friedrich Hölderlin – Dichter mann-männlicher Liebe
Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Peter Rausch
Johannes im Johannis-Eck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Janin Afken
Subjekträume – Ein Dokumentarfilm über Pelze Multimedia . . . . 240
Mesaoo Wrede
Queer(ing) Xmas – Positionen der Zuneigung
Kunst und Kultur zu queerem Weihnachten mit der Familie,
der Wahlfamilie und den Wahlverwandten –
eine Ausstellung im Sonntags-Club, Berlin . . . . . . . . . . . . . . 249
Rezensionen
Bildnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
Editorial
Ein Virus betritt die Welt und ist naturgemäß ansteckend. Es trifft auf
eine wie nie zuvor vernetzte Welt und auf Produktionsbedingungen und
Lebensweisen, die in höchstem Maße auf Beschleunigung und Tausch be-
ruhen. So hat das neuartige Virus SARS-CoV-2 in kürzester Zeit seine
besitzergreifende Wirkung entfaltet. In Besitz genommen sind nicht nur
die Ströme und Bewegungen aus Menschen und Waren, die ordnungs-
politischen Maßnahmen und die alltäglichen Handlungsvollzüge, sondern
auch die Empfindungen und Erfahrungen, das Fantasieleben und selbst der
Fluss der Körpersäfte scheinen unter dem Diktat des Coronavirus und seiner
sozialen Folgen zu stehen. Kaum denkt man in diesem Sinne über das Virus
nach, erhält der – selbstverständlich durch die Eingriffe des Menschen in die
Natur entstandene2 – Erreger nahezu menschliche Eigenschaften, und die
Dinge stehen Kopf, denn natürlich verfügt der virale Organismus nicht über
Verstand wie Mensch oder Tier. Slavoj Žižek spricht in seinem »hegeliani-
schen Willkommensgruß für unsere seltsamen Zeiten, in denen das Höchste
und das Niedrigste durcheinandergeraten«, von der Oszillation zwischen
dem Lebendigen und Nicht-Lebendigen, dem Leben und dem Tod, die dem
Wesen des Virus eigen sei.3 Es infiziert folglich nicht nur die menschlichen
Körper, sondern bildet sogleich einen infektiösen Fantasieinhalt, dessen psy-
chisches Ansteckungspotenzial auf beiden Seiten des gesellschaftlichen und
individuellen Umgangs mit der viralen Bedrohung abzulesen ist: Während
die einen die reale Gefahr in der pandemischen Situation leugnen und sich
1 Dieser Essay beruht auf verschiedenen Vorträgen und Bildungsveranstaltungen des Autors,
vor allem auf Marco Kammholz: Lockdown? Sexualität und Prävention in Zeiten der Pan-
demie. In: Deutsche Aidshilfe: Dokumentation des Fachtags »Stärker als die Zeit!« Auswir-
kungen der Covid-19-Pandemie auf die zukünftige Aidshilfearbeit. Berlin 2020, S. 13-20.
2 Dazu Chuang: Social Contagion. Microbiological Classwar in China, chuang.org, 2020,
http://chuangcn.org/2020/02/social-contagion [letzter Zugriff am 2.1.2021].
3 Slavoj Žižek: Das Virus befällt den Menschen, aber auch und vor allem: Der Geist des
Menschen ist selbst ein Virus. In: Neue Zürcher Zeitung vom 27.8.2020, https://www.
nzz.ch/feuilleton/das-virus-befaellt-den-menschen-aber-auch-und-vor-allem-der-geist-
des-menschen-ist-selbst-ein-virus-ld.1573131 [letzter Zugriff am 21.12.2020].
16 marco kammholz
4 Magnus Klaue: Das letzte Risiko. In: welt.de vom 17.11.2020, https://www.welt.de/kultur/
plus220042782/Corona-Moral-Kritik-an-Christian-Drostens-pandemischem-Imperativ.
html [letzter Zugriff am 27.12.2020].
5 Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921]. In: ders.: Gesammelte Werke.
Chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud, Edward Bibring, Willi Hoffer, Ernst Kris und
Otto Isakower, Bd. XIII. London 1940, S. 71-161, hier S. 110.
6 Arthur Schopenhauer: Die Parabel von den Stachelschweinen. In: ders.: Sämtliche Werke in
fünf Bänden. Hg. von Wolfgang von Löhneysen, Bd. 5. Darmstadt 1979, S. 765.
7 Vgl. Marco Kammholz: Das Unbehagen in der Pandemie. In: Jungle World 16/2020,
https://jungle.world/artikel/2020/16/das-unbehagen-der-pandemie [letzter Zugriff am
27.12.2020].
sexualität in zeiten der coronakrise 17
8 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur [1930]. In: ders.: Gesammelte Werke.
Chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud, Edward Bibring, Willi Hoffer, Ernst Kris
und Otto Isakower, Bd. XIV. London 1955, S. 419-506.
9 Ebd., S. 454.
10 Ebd., S. 484.
11 Vgl. Christian Knuth: Interview [mit Marco Kammholz]: Grundbedürfnis Sexualität –
Nähe in Zeiten von Isolation. In: Männer Magazin. 2020, https://www.maenner.media/
gesundheit/sexualitaet/interview-marco-kammholz-corona-und-sexualitaet [letzter Zu-
griff am 27.12.2020].
12 Die Politikwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Liana Giorgi weist angesichts der
in multiple Krisen eingebetteten Coronakrise auf eine folgenreiche Nationalisierung von
politischem Handeln und fehlende globale Kooperation zu Beginn der Pandemie hin. Sie
beschreibt dabei auch eine »Aushöhlung von affektiven Bindungen« und bezeichnet »die
schnelle und starre Widerbelebung [sic] des Nationalismus« als »eine Form der kollek-
tiven Abwehr«; Liana Giorgi: Transformationen in »Corona«. Vortrag im Webinar der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung: Ein neues Unbehagen in der Kultur?
Der Einzelne und die Gesellschaft in Zeiten von Covid-19, 30.9.2020; Vortrag einsehbar
unter: https://ipa.world/IPA/en/IPA1/Webinars/Ein_neues_Unbehagen_in_der_Kultur.
aspx [letzter Zugriff am 27.12.2020].
18 marco kammholz
Impfung in der Zukunft und ist mit Blick auf die hohen Infektionszahlen
gleichzeitig mit einer massiv verschlechterten Gegenwart konfrontiert. Man
zeigt Fürsorge, indem man andere meidet. Man rückt von den vielen ande-
ren Körpern ab und kommt den wenigen, die einem bleiben, umso näher.
Letzterer Umstand – die wohlgemerkt unfreiwillige intensivierte Nähe
zu insgesamt weniger oder nur noch zu einzelnen Menschen – ist selbst-
verständlich bei weitem nicht nur schön.
Inmitten dieser unwägbaren Kulisse unternimmt der folgende Text den
Versuch – noch während die Pandemie die Welt in Atem hält –, das Ver-
hältnis zwischen Sexualität und Coronakrise näher zu bestimmen.
13 Volkmar Sigusch: Die Mystifikation des Sexuellen. Frankfurt a. M./New York 1984, S. 9.
14 Während zugleich neben dem Assoziativen, also Verbindenden, ebenso dissoziative Mo-
mente und Zustände von Bedeutung sind, so beispielsweise die Gefühle des Enthoben-
Seins und des Auseinanderfallens wie auch die für die sexuelle Erregung notwendige
Abspaltung von Teilbereichen.
sexualität in zeiten der coronakrise 19
verwirrenden Formen und Zuständen – ein Leben lang auf. Tritt aller-
dings etwas Neues in die Welt – sei es industrieller, technischer, geisti-
ger, stofflicher oder eben viraler Art – und wenn es dazu, wie im Falle von
Covid-19, sowohl das Verhältnis der Körper zueinander als auch das Ver-
hältnis zum eigenen Körper so grundlegend berührt, verändern sich auch
die Anforderungen an Sexualität. »Wie widersprüchlich es zugeht und
in sich verdreht, wenn moralische Gebote aus vergangenen Formationen
mit neuen Konventionen sich verbinden«, so Sigusch weiter zu sexueller
Liberalisierung generell, »kann an vielen, wenn nicht allen sexuellen Er-
scheinungen dieses Jahrhunderts studiert werden.«15 Kommt es also zu
Wandlungen und Transformationen des Gesellschaftlichen, so stiftet das
Sexuelle darin immerzu Verwirrung. Es stellt in diesem Zusammenhang
eine Binsenweisheit dar, dass sexuelle Phänomene der Moderne als wider-
sprüchliche Gebilde in Erscheinung treten. Sie haben allesamt eine janus-
köpfige Gestalt, weisen zurück und nach vorn, verschränken Neues mit
Altem. Auch Sexualität in Zeiten der Pandemie scheint nun – zumindest
in der öffentlichen Auseinandersetzung – in zwei Richtungen zerrissen:
Einerseits ergeben sich aus dem Gesundheitsschutz und aus den Maßnah-
men zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus Anforderungen an die
Einzelnen, die als vor-liberal bezeichnet werden können. Direkte, sexuelle
Kontakte sollen reduziert oder eingestellt werden, sexuelle Handlungen
direkter Art sollen sich auf Partnerschaften oder den eigenen Haushalt
beschränken, Sex mit mehreren oder häufig wechselnden Partnerinnen
und Partnern soll vermieden werden, (halb-)öffentliche Orte für (bezahl-
ten) Sex werden geschlossen. Andererseits wird Sexualität auf spezifische
Weise bejaht und positiv akzentuiert, beispielsweise als gesund und ver-
handelbar, was nur vor dem Hintergrund sexueller Liberalisierung ver-
standen werden kann. Es handelt sich also um einen aus epidemiologi-
schen Notwendigkeiten abgeleiteten Sexualkonservatismus einerseits und
einen optimierungs-, gefühls- und marktorientierten Sexualliberalismus
andererseits, die sich in der Coronapandemie in einem – mitunter hyste-
risch anmutenden – Wechselspiel begegnen.16
23 Vgl. Ulrich Bröckling: Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. In: Behe-
moth. A Journal on Civilisation 1 (2008), S. 38-48.
24 Der russische Literaturwissenschaftler Juri Michailowitsch Lotman beschreibt mit
Semiosphäre – angelehnt an den Begriff der Biosphäre – den semiotischen Raum einer
Kultur, den ein zusammenhängendes System aufeinander Bezug nehmender Zeichen
sexualität in zeiten der coronakrise 23
und Bedeutungen bildet. »Im Kernbereich befinden sich«, so Lotman, »die dominieren-
den Zeichensysteme, in denen Zeichenbenutzer, Texte und Codes in elaborierter Weise
aufeinander abgestimmt sind«, während sich in der Peripherie das Unverständliche, ver-
loren Gegangene und Fragmentarische befinde. In diesem semiotischen Zusammenhang
zeigt sich, welche Zeichen und Symbole, welche Bedeutungen, lebendig werden können
und welche nicht; Juri Lotman: Über die Semiosphäre. In: Zeitschrift für Semiotik 12
(1990), H. 4, S. 287-305, hier S. 287.
25 So zunächst auch vom Verfasser vertreten; Marco Kammholz: Statement zur Veranstal-
tung. Unveröffentlichter Vortrag, gehalten im Rahmen der Veranstaltung »Pandemie-
Monogamie?«, Aidshilfe Frankfurt, 15.10.2020.
24 marco kammholz
des weiteren Satzes zu ein bisschen mehr Verzweiflung führen. Alles, was
im ersten Moment als sexuell einleuchtend erscheint, zählt zugleich zu
den Wegen der Übertragung: Küssen, Anhauchen/Anhusten, Körperkon-
takt und Schmierinfektionen. Von einer befriedigenden, direkten sexuel-
len Begegnung bleibt allerdings – ohne Küssen, ohne heftigere Atmung,
ohne Körperkontakt, ohne schmieriges Eindringen – nicht sonderlich viel
bis gar nichts übrig. Es fehlt eigentlich nur noch, dass auch der Blick das
Virus übertrüge. Doch auch der Blick steht unter dem Einfluss der physi-
schen Distanzierung (und nicht nur weil die Augenschleimhaut als Ein-
trittspforte für den Erreger dienen kann): In Rothmüllers Befragung zu
Intimität und sozialen Beziehungen im Lockdown gaben gleich zu Beginn
der Pandemie 79 Prozent der Befragten an, das physische Abstandsgebot
verinnerlicht und habitualisiert zu haben, sodass beim Anblick von Filmen
oder vom Zusammenstehen von Menschen Irritation entstehe.26 Es ist
also, glaubt man diesen Daten, in kurzer Zeit ein neues Gefühl von Nähe
und Distanz entstanden.27
Auf der Homepage der Deutschen Aidshilfe heißt es wiederum zu den
Übertragungswegen: »Beim Sex hat man also allein durch die Nähe ein
hohes Risiko einer Übertragung von Coronaviren – egal, um welche Sex-
praktik es geht, sogar beim Kuscheln.«28 Auch diese Informationen sind
sachlich richtig, weil fast jede Form körperlicher Nähe die Möglichkeit der
Übertragung in sich birgt, und dennoch ist ihre Vermittlung tragisch. Dass
Aidshilfen, nachdem sie fast drei Jahrzehnte lang vor Aids, penetrativer
Nähe und Körpersäften warnen mussten, nun fast drei Jahrzehnte nach
Einsetzen der medizinischen Kontrollierbarkeit von HIV, sich genötigt
sehen, auch noch Warnungen vor dem Kuscheln auszusprechen, bringt
einen durchaus absurd anmutenden Geschichtsverlauf zum Ausdruck.29
the%20New%20York%20Dept.&text=Now%20the%20British%20Columbia%20
Centre,%2C%5D%22%20New%20York’s%20Dr [letzter Zugriff am 29.12.2020].
34 Ben Kendal: Gegen Einsamkeit in Corona-Zeiten: Ist ein »Sexbuddy« für Singles eine
gute Idee? Redaktionsnetzwerk Deutschland. 2020, https://www.rnd.de/liebe-und-part-
nerschaft/sex-in-corona-zeiten-ist-ein-sexbuddy-fur-singles-eine-gute-idee-gegen-ein-
samkeit-SE67TXPQHJACXOK4I2IYCBTZXU.html [letzter Zugriff am 14.11.2020].
35 Ebd.
36 Liebesleben: Corona und Dating. 2020, https://www.liebesleben.de/corona/corona-und-
dating [letzter Zugriff am 11.11.2020].
37 Ebd. [meine Hervorhebung, M. K.].
sexualität in zeiten der coronakrise 27
gestellt haben, als auch diejenigen, die diese fortführen, Strategien anwen-
den, um das Risiko von Ansteckungen mit dem Coronavirus zu verringern.
Es sind in den Lebensvollzügen der Einzelnen im Zuge der nun fast einjäh-
rigen Pandemie allerhand charmante und einleuchtende pragmatische Um-
gangsweisen entstanden: so die Selbstverpflichtung zur Zurückhaltung und
Strenge in den meisten Lebensbereichen, dafür (geplante) Ausnahmen in
sexueller Hinsicht. Diese Arrangements enthalten auch die Einsicht, dass
fast alle in direktem Kontakt zu anderen Menschen stattfindenden Hand-
lungen – also sowohl die sexuellen als auch die nicht im engeren Sinne se-
xuellen – ein (Rest-)Risiko in sich bergen. Auch mit normativen Bewertun-
gen der Frequenz der Sexualakte und Partneranzahl unter pandemischen
Bedingungen sollte man sich in diesem Zusammenhang zurückhalten. In
Bezug auf die von den Einzelnen realisierte Sexualität lässt sich anhand des-
sen schlichtweg keine verallgemeinerbare Aussage über sexuelle Zufrieden-
heit und Befriedigung treffen – unabhängig davon, als wie riskant das Sexu-
alverhalten gilt. Es bleibt auch in der Coronakrise festzuhalten: Sexualität
besitzt ihre Gültigkeit für ein Individuum, wird dabei vor dem Hintergrund
der Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte reflektiert, in einer spezifi-
schen gesellschaftlichen Situation vollzogen und zugleich in jeder sexuellen
Begegnung auf eigensinnige Weise situativ hergestellt.
In Bezug auf das Nachdenken über und Bewerten von Sexualität in Zei-
ten der Pandemie wäre es also ratsam, sich weniger davon leiten zu lassen,
was die Einzelnen tun sollen und ob sie das Richtige tun, sondern viel-
mehr davon, ob ihr sexuelles Tun befriedigend ist.
Es bleibt jedoch trotzdem die abschließende Frage, wie es – salopp ge-
sagt – insgesamt um die Sexualität in der Pandemie bestellt ist.
wellen immer wieder infrage. Zudem ist aus einer Perspektive der (kri-
tischen) Sexualwissenschaft, der sexuellen Bildung oder der sexuellen
und reproduktiven Gesundheit zu fragen, wo überhaupt coronaspezifische
Auswirkungen auszumachen sind, in welcher Beziehung sie zu Um- oder
Missständen stehen, die bereits vor Corona bestanden haben, was corona-
unspezifische, überdauernde Faktoren sind und in welchem Fall eigentlich
von post-Corona-Phänomenen zu sprechen wäre. Bei Sichtung der weni-
gen sexualwissenschaftlichen Studien zu Sexualität in der Pandemie fallen
diese Herausforderungen deutlich ins Auge.
Insbesondere mit Blick auf die mögliche Veränderung der Sexualität
sind die Daten wenig überzeugend, weil selten ein ausreichender Ver-
gleich mit einem Zeitpunkt vor der Pandemie möglich ist. So geben zwar
neun Prozent der Befragten in Rothmüllers Befragung an, seit dem Be-
ginn der Pandemie neue sexuelle Praktiken ausprobiert46 und – in un-
terschiedlichem Maße – masturbiert, Pornos konsumiert, Sexting oder
Telefonsex praktiziert zu haben.47 Es bleibt aber unklar, inwiefern diese
sexuellen Praktiken bereits vor der Pandemie bestanden haben. Eine US-
amerikanische Untersuchung am Kinsey-Institut kommt in diesem Zu-
sammenhang zum Ergebnis, dass insgesamt weniger Sex bei geringerer
Qualität des Sexlebens, aber mit einer größeren Varietät innerhalb der Se-
xualpraktiken stattfinde.48
Die Studienergebnisse sind zwar aufschlussreich, weil sie Veränderun-
gen im Sexualverhalten und in der Frequenz der Sexualakte nachweisen,
sie sind aber gezwungenermaßen beschränkt – nicht nur, weil vorrangig
quantitative Verfahren nur einen sehr eingeschränkten Zugang zum Er-
leben und zu den Bedeutungen von sexuellen Handlungen und Fantasien
liefern, sondern auch, weil Sexualität begrifflich und phänomenologisch
auf Sexualpraktiken und (mess- und beobachtbares) Sexualverhalten re-
duziert wird. In dieser Hinsicht lässt sich recht schnell eine Veränderung
von Sexualität behaupten, weil die Pandemie selbstverständlich Auswir-
kungen auf alle Menschen hat und darin auch auf sexuelles Verhalten,
sexuelle Fantasien und auf die sexuellen Verhältnisse insgesamt. Dies ist
aber nicht gleichbedeutend mit einer grundlegenden Veränderung von
Sexualität an sich. Der subjektive Faktor – also die individuelle Realisie-
rung der Sexualität – und die objektiven Bedingungen, unter denen die-
49 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Übersetzt
von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1983 [zuerst frz. 1976], S. 41-53.
50 Marianne Leuzinger-Bohleber mit Bezug auf Lothar Gorris, Marianne Leuzinger-Bohle-
ber: Embodied memories in der Pandemie. Einige klinische und psychoanalytische An-
merkungen. Vortrag im Webinar der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung:
Ein neues Unbehagen in der Kultur? Der Einzelne und die Gesellschaft in Zeiten von
Covid-19, 30.9.2020; Vortrag einsehbar unter: https://ipa.world/IPA/en/IPA1/Webinars/
Ein_neues_Unbehagen_in_der_Kultur.aspx [letzter Zugriff am 27.12.2020].
51 Reimut Reiche: Total Sexual Outlet. Eine Zeitdiagnose. In: ders.: Triebschicksal der Ge-
sellschaft. Über den Strukturwandel der Psyche. Frankfurt a. M./New York 2004, S. 147-
176, hier S. 171.
52 Vgl. Gunter Schmidt: Das neue Der Die Das. Über die Modernisierung des Sexuellen. 4.,
komplett überarb. u. aktual. Neuauflage. Gießen 2014, S. 23 f.
53 Leuzinger-Bohleber (wie Anm. 50), S. 2.
32 marco kammholz